streng, wie ich sehe?« fragte ich nach kurzem Schweigen.
»Das war damals Sitte, Väterchen«, entgegnete der Alte und schüttelte den Kopf.
»Heute gibt’s das nicht mehr«, bemerkte ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Er sah mich von der Seite an.
»Natürlich ist es jetzt besser«, murmelte er, indem er die Angel weit auswarf.
Wir saßen im Schatten, aber auch im Schatten war es schwül. Die schwere, glühende Luft war unbeweglich; das heiße Gesicht sehnte sich nach einem Windhauch, aber es kam keiner. Die Sonne stach förmlich vom blauen, dunkel gewordenen Himmel; gerade vor uns, auf dem arideren Ufer leuchtete gelb ein hier und da mit Wermut durchwachsenes Haferfeld, und kein Halm rührte sich. Etwas weiter unten stand ein Bauernpferd bis an die Knie im Wasser und schlug träge mit seinem nassen Schweif; ein großer Fisch schwamm unter einem überhängenden Strauch hervor, ließ Luftblasen aufsteigen und sank langsam in die Tiefe, auf der Wasseroberfläche ein leises Gekräusel zurücklassend. Die Grillen zirpten im bräunlichen Gras, die Wachteln schrien wie widerwillig; Habichte zogen ihre Kreise über den Feldern und blieben ab und zu an einer Stelle schweben, schnell die Flügel schlagend und den Schwanz zu einem Fächer gesträubt. Wir saßen unbeweglich da, wie erdrückt von der Glut. Plötzlich ertönte in der Schlucht hinter uns ein Geräusch: Jemand stieg zur Quelle hinunter. Ich sah mich um und erblickte einen Bauern von etwa fünfzig Jahren. Er war mit Staub bedeckt, mit einem Hemd und Bastschuhen bekleidet und hatte ein geflochtenes Körbchen und einen Bauernkittel am Rücken. Er ging auf die Quelle zu, stillte gierig seinen Durst und erhob sich.
»He, Wlas!« rief Tuman, als er ihn erkannt hatte. »Grüß Gott, Bruder, woher des Weges?«
»Grüß Gott, Michailo Saweljitsch«, erwiderte der Bauer, zu uns herantretend. »Von weit her.«
»Wo hast du denn gesteckt?« fragte ihn Tuman.
»Ich war nach Moskau gegangen, zum Herrn.«
»Wozu?«
»Wollte ihn um was bitten.«
»Um was wolltest du ihn bitten?«
»Daß er mir den Erbzins ermäßigt oder mich auf Frondienst setzt oder mich anderswo ansiedelt. Mein Sohn ist mir gestorben, so werde ich allein nicht fertig.«
»Dein Sohn ist dir gestorben?«
»Er ist gestorben. – Der Selige«, fuhr der Bauer nach kurzem Schweigen fort, »hat in Moskau als Droschkenkutscher gelebt und hat für mich, die Wahrheit zu sagen, den Erbzins bezahlt.«
»Seid ihr denn jetzt auf Erbzins gesetzt?«
»Ja, auf Erbzins.«
»Was hat der Herr gesagt?«
»Was er gesagt hat? Weggejagt hat er mich! ›Wie wagst du es‹, sagt er, ›so einfach zu mir zu kommen? Dazu gibt es den Verwalter! Du bist‹, sagt er, ›verpflichtet, es dem Verwalter zu melden. Und wo soll ich dich ansiedeln? Bezahl‹, sagt er, ›erst den rückständigen Zins.‹ Ganz böse ist er geworden.«
»Nun, so gingst du zurück?«
»So ging ich zurück. Ich wollte mich erkundigen, ob der Selige nicht etwas hinterlassen hatte, konnte aber nichts erfahren. Ich sage zu seinem Herrn: ›Ich bin Philipps Vater«, und er sagt drauf: ›Woher soll ich das wissen? Dein Sohn hat auch nichts hinterlassen, er schuldet mir sogar noch Geld.« So ging ich zurück.«
Der Bauer erzählte uns das alles mit einem Lächeln, als wäre die Rede von etwas ganz anderm; aber in seine kleinen, zusammengekniffenen Augen traten Tränen, und seine Lippen zuckten.
»Nun, und jetzt gehst du nach Hause?«
»Wohin denn sonst? Versteht sich, nach Hause. Mein Weib pfeift jetzt wohl vor Hunger in die Faust.«
»Du hättest doch . . . ich meine . . .«, begann plötzlich Stjopuschka. Aber er wurde verlegen, verstummte und begann in seinem Topf zu wühlen.
»Wirst du nun zum Verwalter gehen?« fragte Tuman, Stjopoischka nicht ohne Erstaunen ansehend.
»Was soll ich zu ihm gehen? Ich bin ja mit dem Zins im Rückstand. Mein Sohn war vor dem Tode ein ganzes Jahr krank und hat darum für mich den Zins nicht bezahlt. Aber das macht mir nicht viel Sorge: Von mir ist doch nichts zu holen. Magst es noch so schlau anfangen, Bruder, aber holen kannst du von mir nichts!« Der Bauer lachte. »Was du auch anstellst, Kintiljan Semjonytsch, von mir ist nichts zu . . .«
Wlas fing wieder zu lachen an.
»Nun, das ist aber gar nicht gut, Bruder Wlas«, sagte Tuman gedehnt.
»Warum soll es nicht gut sein? Nein . . .« Wlas versagte die Stimme. »So heiß ist’s«, fuhr er fort, sich das Gesicht mit dem Ärmel abwischend.
»Wer ist euer Herr?« fragte ich.
»Graf Valerian Petrowitsch.«
»Der Sohn des Pjotr Iljitsch?«
»Der Sohn des Pjotr Iljitsch«, antwortete Tuman. »Der selige Pjotr Iljitsch hat ihm das Dorf, in dem Wlas wohnt, schon bei Lebzeiten geschenkt.«
»Ist er gesund?«
»Ja, Gott sei Dank«, antwortete Wlas. »Ist ganz rot geworden, hat viel Fett im Gesicht.«
»Ja, Väterchen«, fuhr Tuman, sich zu mir wendend, fort, »wenn er ihn noch in der Nähe von Moskau halten wollte; aber er läßt ihn hier sitzen und verlangt von ihm den Zins.«
»Wieviel zahlt ihr denn pro Hof?«
»Fünfundneunzig Rubel«, murmelte Wlas.
»Da sehen Sie es: Die Leute haben fast kein Land, alles, was da ist, ist der herrschaftliche Wald.«
»Und auch der ist, sagt man, verkauft«, bemerkte der Bauer.
»Da sehen Sie es . . . Stjopa, gib mir mal einen Wurm her. Du, Stjopa! Bist du eingeschlafen?«
Stjopuschka fuhr zusammen. Der Bauer setzte sich zu uns. Wir verstummten wieder. Am ändern Ufer stimmte plötzlich jemand ein Lied an, aber ein so trauriges . . . Mein armer Wlas machte ein bekümmertes Gesicht . . .
Nach einer halben Stunde gingen wir auseinander.
Der Kreisarzt
Einmal im Herbst hatte ich mich auf der Rückfahrt von der Jagd erkältet und war krank geworden. Glücklicherweise ergriff mich das Fieber erst in der Kreisstadt, im Gasthaus, und ich schickte nach dem Arzt. In einer halben Stunde erschien der Kreisarzt, ein kleingewachsener hagerer Mann mit schwarzen Haaren. Er verschrieb mir das übliche schweißtreibende Mittel, verordnete ein Senfpflaster, steckte sehr geschickt den Fünfrubelschein in den Umschlag seines Ärmels, wobei er jedoch trocken hüstelte und zur Seite blickte, und wollte sich schon endgültig nach Hause begeben, fing aber plötzlich zu reden an und blieb. Das Fieber quälte mich; ich sah eine schlaflose Nacht voraus und war froh, mit einem Menschen sprechen zu können. Man brachte uns Tee. Mein Arzt kam ins Gespräch. Er war gar nicht dumm und drückte sich geschickt und recht amüsant aus. Es ist so merkwürdig auf der Welt: Mit manchem Menschen lebt man lange zusammen und in den freundschaftlichsten Beziehungen, und doch spricht man mit ihm niemals ganz offen, vom Grunde der Seele; einen andern hat man kaum kennengelernt, und schon sagt man ihm oder er uns wie in der Beichte alles, was auf dem Herzen ist.
Ich weiß nicht, womit ich das Vertrauen meines neuen Freundes gewonnen hatte, aber er erzählte mir, so mir nichts, dir nichts, einen recht interessanten Fall; ich aber bringe ihn zur Kenntnis des geneigten Lesers, wobei ich mir die Mühe gebe, die Worte des Arztes wiederzugeben.
»Sie kennen wohl nicht«, begann er mit schwacher, zitternder Stimme (das ist die Wirkung des unvermischten Berjosowschen Tabaks) – »Sie kennen wohl nicht den hiesigen Richter Pawel Lukitsch Mylow? Sie kennen ihn nicht . . . Nun, es ist ja gleich.« Er räusperte sich und rieb sich die Augen. »Die Sache passierte, wenn ich mich recht besinne, in den großen Fasten, beim richtigen Tauwetter. So sitze ich also bei ihm, dem Richter, und spiele Préférence. Unser Richter ist ein guter Mensch und spielt gerne Préférence. Plötzlich –«; mein Arzt