Soren Kierkegaard

Zur Selbstprufung der Gegenwart empfohlen


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Standpunkt ist in der Kürze bezeichnet durch den Satz: die Subjektivität ist die Wahrheit; oder: das Wie der Wahrheit ist gerade die Wahrheit. Dieser Satz steht bei K. nicht in Widerspruch damit, daß es keine subjektive Wahrheit gibt ohne Voraussetzung einer objektiven: ebenso wenig ist es seine Meinung, daß jedes Subjekt, jede noch so zufällige oder willkürliche Individualität berechtigt sein solle, da es im Gegenteil die ewige Wahrheit ist, die ausdrücklich als die absolute Subjektivität, als das Ziel der relativen, an sich unwahren Subjektivitäten anerkannt wird. Insofern die relative Subjektivität außerhalb der Wahrheit steht, ist ihr Zustand wesentlich Verzweiflung. Die Verzweiflung ist religiös verstanden »die Krankheit zum Tode«; es gilt nun zu entdecken, worin diese Krankheit bestehe, ihre verschiedenen Symptome zu erkennen, und zu zeigen, durch welche Mittel und unter welchen Bedingungen sie sich heilen läßt. – Daß die Subjektivität die Wahrheit ist, heißt zugleich, daß die Wahrheit die Innerlichkeit ist; je mehr Wahrheit in einem Menschen ist, je tiefer seine Persönlichkeit, desto größer ist die Innerlichkeit. Die Prüfung der Wahrheit wird daher eine Prüfung der Persönlichkeit, eine Prüfung der Innerlichkeit. Als Bedingung der kräftigen Entwickelung der Subjektivität, Innerlichkeit und Persönlichkeit wird erfordert, daß jeder Mensch sich als »den Einzelnen« wissen muß. Indem K. die Kategorie des Einzelnen« einschärft, zielt er polemisch auf die »Menge«, auf das »Numerische«, auf das egoistische Zusammenhalten der Charakterlosigkeit, die immer das Gesetz ihrer Existenz außer sich hat. Jeder Mensch ist, indem er »der Einzelne« ist, ursprünglich auf sich selbst und sein Verhältnis zu Gott gewiesen; das hindert nicht, daß er mit andern zusammenwirke, wenn nur jeder einzelne ursprünglich sich selbst und sein Ziel in's Auge faßt.

      Jedoch kommt K. auf diese Weise dazu, – und hier liegt ein Grundfehler seiner ganzen Anschauung und seiner von ihr geleiteten Thätigkeit – die große Bedeutung der Gemeinschaft für den Glauben und das Christentum zu übersehen und zu verkennen. Das wahre Christentum kennt er nur unter der Form der Isolierung; der »Geistesmensch« unterscheidet sich von »uns Menschen« durch seine Kraft, die Isolierung ertragen zu können. » Das Christentum ist Leiden«: das Leiden des Hasses seiner selbst und der Welt, des Alleinseins mit Gott, des Alleinstehens gegenüber den Forderungen des Ideals und des Vorbildes. » Der Glaube muß Christo gleichzeitig werden«: d. h. ihn in seiner Erniedrigung und Verkennung dennoch als den Heiland erfassen, so wie die ersten Jünger es thaten, und in seinem eignen Leben das Leben Christi nachbilden. Jener Glaube, der an ihn zunächst um seiner Erhöhung willen glaubt, oder weil so viele Jahrhunderte bisher Christi Namen bekannt haben und also für ihn Zeugnis ablegen, ist kein Glaube zu nennen.

      Allen bestehenden Formen der kirchlichen Gemeinschaft haftet daher auch eine wesentliche Unvollkommenheit an, und sie haben nur eine relative Berechtigung. Sie dürfen nur auf eine gewisse Anerkennung Anspruch erheben, wenn man sich dabei bewußt bleibt, wie weit man noch von der Erreichung des Ideales entfernt ist, und wie wenig man doch verträgt, mit diesem wahren Maßstabe gemessen zu werden. Will sich das bestehende Christentum, »das offizielle Christentum«, für eine dem Wesen entsprechende Gestaltung des Reiches Gottes ausgeben und sich durch die Zugehörigkeit zu ihm in seiner Selbstzufriedenheit beruhigen, so muß gegen dasselbe der gleiche Kampf geführt, die gleiche Einsprache zu gunsten der Wahrheit erhoben werden, wie gegen die Anmaßung der Spekulation. Die Auffassung vom Christentum, und die christlich heißende Anregung, wie sie der Gegenwart eigen ist, darf nicht für anderes oder mehr genommen werden, als für eine Ruhe unter der Langmut Gottes, die er einem Geschlechte gewährt, welches durch den Übermut und den Leichtsinn mehrerer Generationen verweichlicht und erschlafft ist, in Bezug auf sein Verhältnis zum Ewigen. Darum halt K. der Zeit und dem dänischen Volke seiner Zeit einen Spiegel vor, in dem sie sich beschauen möge, damit sie ihrer Nacktheit und Blöße inne werde. Darum will er ihr das nötige Korrektiv hinstellen, damit gefühlt und anerkannt werde, daß Welt und Christentum scharf geschieden, daß jenes dieser durchaus ungleichartig sei, und damit die Zeit und der einzelne wenigstens in Demut spreche: Nicht daß ich's schon ergriffen hätte.

      »Nie habe ich«, sagt er, »so gekämpft, daß ich gesagt hätte: ich bin der wahre Christ, die andern sind nicht Christen, oder wohl sogar Heuchler u. dgl. Nein, ich habe so gekämpft: ich weiß, was Christentum ist; meine Unvollkommenheit als Christ erkenne ich selbst – aber ich weiß was Christentum ist. Und zu diesem Wissen zu kommen, scheint mir in jedes Menschen Interesse sein zu müssen, er sei nun Christ oder Nicht-Christ, er beabsichtige, das Christentum anzunehmen oder es aufzugeben. – Die lange Zeit gebrauchte Taktik war: alles anzuwenden, um so viele wie möglich, womöglich alle, dazu zu bewegen, auf's Christentum einzugehen – aber dann es nicht so ganz genau damit zu nehmen, ob nun das, worauf man sie einzugehen bewog, wirklich Christentum war. Meine Taktik war: mit Gottes Beistand alles anzuwenden, um es klar zu machen, was in Wahrheit die Forderung des Christentums ist, – ob auch nicht ein einziger darauf eingehen wollte, ob ich's auch selbst hätte aufgeben müssen, Christ zu sein, was in solchem Falle öffentlich anzuerkennen ich mich für verpflichtet gehalten haben würde. Anderseits war meine Taktik diese: statt im entferntesten den Schein zu nähren, als ob doch solche Schwierigkeiten beim Christentum wären, daß eine Apologie von nöten würde, wenn wir Menschen darauf eingehen sollen, bemühte ich mich vielmehr, es der Wahrheit gemäß als etwas so unendlich Hohes darzustellen, daß die Apologie ganz anders wohin fällt. Es kommt uns zu gute, wenn wir uns Christen zu nennen wagen und die Apologie verwandelt sich in ein bußfertiges Bekenntnis, daß wir Gott danken, wenn wir uns nur selbst für Christen ansehen dürfen. Doch auch dies andere darf nicht vergessen werden. Ebenso streng wie das Christentum ist, ebenso milde ist es auch, d. h. unendlich milde. Wenn die unendliche Forderung gehört und zur Geltung gebracht ist, dann bietet sich die » Gnade« dar, zu welcher dann der einzelne, ein jeder für sich, wie ich es thue, seine Zuflucht nehmen kann, und dann geht es wohl. Und es ist doch keine Übertreibung, wenn die unendliche Forderung in ihrer Unendlichkeit dargestellt wird, was ja zugleich im Interesse der »Gnade« ist; es ist nur, in anderer Hinsicht, Übertreibung, wenn die Forderung allein dargestellt wird und von der Gnade gar nicht die Rede ist. Dagegen heißt es, das Christentum auf Mutwillen ziehen, wenn die »unendliche« Forderung verendlicht oder wohl gar ganz ausgelassen, und die »Gnade« ohne weiteres angebracht wird, welches ja bedeutet, daß sie auf Mutwillen gezogen wird. – Aber nie habe ich im entferntesten Miene gemacht, die Sache in pietistischer Strenge behandeln zu wollen, die meinem Wesen fremd ist, oder die Existenzen übermäßig anstrengen zu wollen, was den Geist in mir betrüben würde. Nein. Wozu ich habe beitragen wollen, das ist, mit Hilfe von Zugeständnissen womöglich etwas mehr Wahrheit in diese (in Hinsicht darauf, ein ethisch-religiöser Charakter zu sein, für die Wahrheit leiden zu wollen u. dgl.) unvollkommeneren Existenzen, wie wir sie führen, hineinzubringen, welches doch immerhin etwas, und in jedem Falle die erste Bedingung ist, um dazu zu kommen, tüchtiger zu existieren.«

      So redet denn K. als ein christlicher Sokrates zu seiner Zeit, in der er wie ein Fremder, wie eine einsame Gestalt dasteht, während er doch an ihren höheren Angelegenheiten sich mit allem Interesse beteiligt und ihre Bewegungen mit dem scharfen Blicke eines Beobachters, mit der allzeit wachen Aufmerksamkeit eines Spähers verfolgt. –

      S. Kierkegaard ist ein Meister in allen Arten und Formen der Darstellung. Er unterscheidet scharf zwischen drei eigentümlichen Lebensanschauungen: einer ästhetischen (im weiteren Sinne), der nach außen gerichteten, deren Ziel wesentlich Genuß ist; einer ethischen, deren Aufgabe er wesentlich als Pflichterfüllung und gemütliches Dasein faßt; und einer religiösen, deren absoluter Inhalt der Glaube ist. Jeder dieser Lebensanschauungen entspricht eine eigentümliche Existenz, oder kann ihr wenigstens entsprechen. Nur in einer derselben kann man zu gleicher Zeit existieren. Freilich kann dieselbe Individualität ästhetische, ethische und religiöse Elemente in ihrem Charakter haben, und zwar desto mehr, je reicher ihre Anlage und je allseitiger ihre Entwickelung ist: aber auf einmal beides als Ästhetiker und als Ethiker und als Glaubenszeuge zu existieren, oder, was dasselbe ist, das Zentrum seines Lebens auf einmal im Ästhetischen und Ethischen und Religiösen zu haben, das ist eine Unmöglichkeit, weil es ein Widerspruch ist. – Nun will K. den existentiellen Unterschied zwischen dem genießenden Ästhetiker, dem handelnden Ethiker und dem an Gott sich hingebenden religiösen Menschen durch entsprechende Charakteranalysen in's klarste Licht stellen; und um jedem Standpunkt sein Recht widerfahren zu lassen, entwickelt er nicht nur Stimmungen