ließ sich nicht abschrecken. »Ich habe Zutrauen zu Ihnen«, fuhr sie fort. »Es ist von Ihnen nicht edel, mich gegen Sie zu verpflichten, und Ihrerseits mich von Ihrem Vertrauen auszuschließen.«
»Sie wollen es so haben?« sagte Mercy Merrick. »Wohlan denn, es sei! Setzen Sie sich wieder.« Grace fühlte vor Erwartung der kommenden Enthüllungen ihr Herz heftig klopfen. Sie zog ihren Stuhl näher an die Kiste, auf welcher die Wärterin saß. Diese schob jedoch den Stuhl entschlossen in einige Entfernung zurück.
»Nicht so nahe!« sagte sie streng.
»Weshalb nicht?«
»Nicht so nahe«, wiederholte die ernste, entschlossene Stimme. »Warten Sie ab, bis Sie mich gehört haben.«
Grace gehorchte, ohne ein Wort weiter zu verlieren. Es entstand eine augenblickliche Stille. Ein schwacher Lichtstrahl zuckte aus der verlöschenden Kerze empor und zeigte Mercy, wie sie in sich gekauert auf der Kiste saß, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in die Hände gedrückt.
Im nächsten Augenblick war das Zimmer in Finsternis begraben. Als die zwei Frauen von der Dunkelheit überrascht wurden, begann die Wärterin zu sprechen.
2.
Die Magdalena – der Neuzeit
»Waren Sie bei Lebzeiten Ihrer Mutter jemals in der Lage, mit ihr nach hereingebrochener Nacht durch die Straßen einer großen Stadt zu gehen?«
In dieser sonderbaren Weise eröffnete Mercy Merrick die vertrauliche Unterredung, zu der sie Grace Roseberry genötigt hatte. Grace antwortete einfach: »Ich verstehe Sie nicht.«
»Ich will Sie auf andere Art fragen«, sagte die Wärterin. Ihre Stimme verlor die unnatürliche Härte und Strenge und gewann ihre ursprüngliche Weichheit und jenen traurigen Klang wieder, als sie folgende Worte sprach: »Sie lesen doch die Zeitungen wie die übrigen Leute«, fuhr sie fort; »haben Sie da nie von Ihren unglücklichen Mitmenschen gehört – den darbenden Auswürflingen der Gesellschaft – welche die Not zur Sünde getrieben hat?«
Noch immer verwundert, antwortete Grace, dass sie dergleichen öfter in Zeitungen und Büchern gelesen habe.
»Haben Sie gehört – dass, wenn diese darbenden, sündigen Geschöpfe Frauen waren – ein Zufluchtsort für sie bestand, um sie zu schützen und zu bessern?«
Die Überraschung, mit der Grace anfangs zugehört hatte, verschwand und machte einem undeutlichen Verdacht Platz, dass etwas Peinliches im Anzug sei. »Dies sind außergewöhnliche Fragen«, sagte sie ängstlich. »Was meinen Sie damit?«
»Antworten Sie mir«, drängte die Wärterin. »Haben Sie von den Besserungshäusern gehört? Haben Sie von Frauen gehört, die so tief gesunken sind?«
»Ja.«
»Rücken Sie Ihren Stuhl noch etwas weiter von mir weg.« Sie hielt inne. Ihre Stimme sank, ohne ihre Festigkeit zu verlieren, tief herab. »Ich war einst auch eine dieser Unglücklichen«, sagte sie ruhig.
Grace sprang mit einem unterdrückten Schrei empor. Sie stand wie versteinert, unfähig ein Wort hervorzubringen.
»Ich war in einem Besserungshause«, fuhr die sanfte, traurige Stimme der anderen fort. »Ich bin im Gefängnis gewesen. Wünschen Sie jetzt noch meine Freundin zu werden? Drängt es Sie noch, an meiner Seite zu sitzen und meine Hand zu fassen?« Sie wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. »Sehen Sie, Sie hatten sich geirrt«, fuhr sie sanft fort, »als Sie mich grausam nannten – und ich hatte recht, wenn ich sagte, ich sei nur wohlwollend.«
Bei dieser Anrede fasste sich Grace. »Ich will Sie nicht kränken«, begann sie verwirrt.
Mercy Merrick unterbrach sie. »Sie kränken mich nicht«, sagte sie in einem Tone, dem man auch nicht den leisesten Schmerz anmerken konnte. »Ich bin es gewohnt, am Pranger meiner eigenen Vergangenheit zu stehen, ich frage mich wohl mitunter, ob ich allein die Schuld an allem trage. Ich möchte manchmal wohl wissen, ob denn die menschliche Gesellschaft nicht irgend Verpflichtungen mir gegenüber hatte, damals, als ich als Kind in den Straßen Zündhölzchen verkaufte und später – wie mir als Arbeiterin gar oft bei der Nadel die Sinne schwanden aus Mangel an Nahrung.« Hier, zum ersten Male, versagte ihr die Stimme; sie wartete einen Augenblick, und war wieder gefasst. »Jetzt ist es nutzlos, bei diesen Dingen zu verweilen«, sagte sie ergeben. »Die Gesellschaft kann dafür zahlen, dass ich gebessert werde – aber mir selbst kann sie mich nicht mehr zurückgeben. Sie sehen mich hier auf einem Vertrauensposten – wo ich in Geduld und Demut nach Kräften Gutes tue. Es ist einerlei! Hier oder anderswo, was ich jetzt bin, ändert nicht, was ich einst war. Drei Jahre hindurch tat ich alles, was eine Frau, die aufrichtig büßen will, nur tun kann. Es ist einerlei! Lassen Sie meine Geschichte nur erst bekannt werden, und ihr Schatten fällt auf mich; die liebevollsten Menschen ziehen sich von mir zurück.«
Sie wartete abermals, ob denn dies Wesen wohl ein Wort des Trostes für sie haben werde? Nein. Miss Roseberry fühlte sich unangenehm berührt; Miss Roseberry war verwirrt. »Mir tun Sie recht leid«, war alles, was sie sagen konnte.
»Jedermann bedauert mich«, antwortete die Wärterin geduldig, wie immer; »jedermann ist freundlich gegen mich, aber das bringt das Verlorene nicht wieder.«
»Ich kann nicht mehr zurück! Ich kann nicht mehr zurück«, rief sie in einem leidenschaftlichen Ausbruch von Verzweiflung – sie bezwang sich jedoch im nächsten Augenblick. »Soll ich Ihnen sagen, welche Erfahrungen ich gemacht habe?« begann sie von neuem.
»Wollen Sie die Geschichte hören – die Geschichte einer Magdalena – aus unseren Tagen?«
Grace trat einen Schritt zurück; Mercy verstand sie sogleich.
»Ich werde Ihnen nichts erzählen, das zu hören Sie sich scheuen müssen«, sagte sie. »Eine Dame in Ihrer Lage würde ja ohnehin die Prüfungen und Kämpfe nicht fassen können, die ich durchzumachen hatte. Ich will meine Geschichte im Besserungshause beginnen lassen. Die Hausmutter hat mich mit dem Charakter entlassen, den ich mir ehrlich verdient habe – den Charakter einer gebesserten Frau. Ich trat in einen Dienst und rechtfertigte das in mich gesetzte Vertrauen, ich ward eine treue Dienerin. Eines Tages ließ mich meine Herrin rufen – eine gütige Herrin, wie es nur eine geben konnte. Mercy, mir tut es Ihretwegen leid; es ist herausgekommen, dass ich Sie aus einer Besserungsanstalt genommen habe; ich würde alle Dienstleute im Hause verlieren, Sie müssen gehen. Ich kehrte zu der Hausmutter zurück – die war wieder freundlich. Sie nahm mich wie ihr Kind auf. Wir wollen es nochmals versuchen, Mercy; seien Sie deshalb nicht niedergeschlagen. – Ich sagte Ihnen vorhin, ich sei in Kanada gewesen?«
Grace begann gegen ihren Willen Interesse zu fühlen. Sie antwortete etwas in einem Tone, den man fast hätte warm nennen können. Sie kehrte auf ihren Stuhl zurück – der in gehöriger und bedeutsamer Entfernung von der Kiste stand.
Die Wärterin fuhr fort: »Meine nächste Stelle war in Kanada bei der Frau eines Offiziers, vornehme Leute, die ausgewandert waren. Ich begegnete dort mehr Freundlichkeit als je und führte diesmal ein angenehmes und ruhiges Leben. Ich fragte mich selbst: Sollte das Verlorene wieder gewonnen sein? Bin ich wieder geboren? Meine Herrin starb. Es kamen fremde Leute in die Nachbarschaft. Darunter befand sich eine junge Dame – mein Herr dachte an eine zweite Frau. Ich habe (in meinen Verhältnissen) das Unglück, eine sogenannte schöne Frau zu sein, ich errege die Neugierde der Fremden. Die neuen Ankömmlinge erkundigten sich nach mir; die Antworten meines Herrn schienen sie nicht zu befriedigen. Mit einem Worte, sie fanden heraus, was ich früher gewesen war. Wieder die alte Geschichte; Mercy, mir tut es sehr leid; man spricht über Sie und mich; wir sind unschuldig, aber das hilft nichts – wir müssen voneinander scheiden. Ich verließ die Stelle. Nur einen Vorteil hatte ich mir während meines Aufenthaltes in Kanada angeeignet, der mir hier gute Dienste leisten sollte.«
»Und worin bestand der?«
»Unsere nächsten Nachbarn waren französische Kanadier. Ich lernte französisch sprechen.«
»Kehrten Sie nach London zurück?«
»Wohin hätte ich sonst gehen sollen – ohne jede Stellung?« sagte