wurde auf mich aufmerksam – er verliebte sich in mich, wie man gewöhnlich sagt. Er hätte mich auch geheiratet. Die Wärterin jedoch, als ehrliche Frau, war verpflichtet, ihm die Wahrheit zu sagen. Er erschien nie wieder. Die alte Geschichte! Ich begann zu erlahmen, weil ich mir immer wieder sagen musste, ich kann nicht zurück! Ich kann nicht zurück! Da erfasste mich die Verzweiflung – die Verzweiflung, die das Herz stumpf macht. Ich hätte vielleicht einen Selbstmord begangen; vielleicht hätte ich mich in den Strudel meines früheren Lebens hineinziehen lassen – um eines Menschen, um eines Mannes willen tat ich es nicht.«
Bei diesen letzten Worten stockte ihre Stimme neuerdings, die bei der früheren Erzählung ihres traurigen Schicksals ruhig und gleichmäßig geklungen hatte. Sie hielt inne und schien schweigend den Erinnerungen zu folgen, welche sie eben in ihrem Innern wieder wachgerufen hatte. Hatte sie vergessen, dass sie nicht allein im Zimmer war? Die Neugierde ließ Grace keine Wahl, sie musste ihrerseits darauf etwas sagen.
»Wer war jener Mann?« fragte sie. »Auf welche Weise hat er sich als Ihr Freund erwiesen?«
»Mein Freund? Er weiß nicht einmal, dass ich existiere.«
Diese befremdende Antwort konnte die Ungeduld nur noch erhöhen, mit welcher Grace mehr zu hören wünschte.
»Sie sagten eben —« begann sie.
»Ich sagte eben, dass er mich gerettet hat. Er tat es wirklich; Sie sollen hören, wie. An einem Sonntag war unser gewöhnlicher Geistlicher im Besserungshause verhindert, den Gottesdienst zu halten. Er wurde von einem Fremden vertreten, einem ganz jungen Menschen. Die Hausmutter sagte uns, sein Name sei Julian Gray. Ich saß in der letzten Reihe der Bänke, im Schatten der Galerie, von wo aus ich ihn sehen konnte, ohne von ihm gesehen zu werden. Er predigte über den Text aus der heiligen Schrift: »Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr denn über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen!« Was glücklichere Frauen von seiner Predigt gedacht haben mögen, weiß ich nicht; unter uns – von den Bewohnern des Besserungshauses – blieb auch nicht ein Auge tränenleer. Was mich betrifft, so bewegte er mein Herz in einer Weise, wie kein Mann weder vorher noch nachher es jemals getan. Die starre Verzweiflung meines Innern schmolz schon beim Klang seiner Stimme. Mein Lebenslauf zeigte mir wieder, während er sprach, seine edlere Seite. Seit jenem Augenblick habe ich mich in mein hartes Schicksal gefügt und trage es in Geduld. Vielleicht wäre noch mehr aus mir geworden, vielleicht wäre ich glücklich geworden, hätte ich es über mich gewinnen können, mit Julian Gray zu sprechen.«
»Was hinderte Sie daran, mit ihm zu sprechen?«
»Ich fürchtete mich.«
»Vor was fürchteten Sie sich?«
»Davor, mein schweres Leben mir noch schwerer zu machen.«
Eine Frau, die sie verstanden hätte, würde vielleicht haben erraten können, was das sagen wollte. Grace jedoch war einfach in Verlegenheit versetzt, und darum nicht fähig, es zu erraten.
»Ich verstehe Sie nicht.«
Jetzt blieb für Mercy keine andere Wahl, als die Wahrheit in deutlicheren Worten zu bekennen. »Ich fürchtete ihm durch meinen Kummer Interesse einzuflößen, und dafür mein Herz an ihm zu verlieren.«
Der gänzliche Mangel irgendwelchen Verständnisses für sie von Seiten Graces sprach sich nun unbewusst auf die deutlichste Weise aus.
»Sie!« rief sie aus, im Tone des größten Erstaunens.
Die Wärterin erhob sich langsam, der Ausdruck, in dem Grace ihre Überraschung kundgegeben hatte, sagte ihr deutlich – ja fast in roher Weise – dass sie ihr Bekenntnis genug enthüllt hatte.
»Ich setze Sie in Erstaunen?« sagte sie. »O, mein junges Fräulein – Sie wissen nicht, welch eine rauhe Behandlung ein Frauenherz ertragen und dennoch in Treue schlagen kann! Bevor ich Julian Gray gesehen hatte, waren mir die Männer nur ein Gegenstand des Abscheus. Lassen wir dies Gespräch. Der Prediger aus dem Besserungshaus ist jetzt nur mehr eine Erinnerung – die einzige willkommene Erinnerung aus meinem Leben. Weiter habe ich ihnen nichts zu erzählen. Sie bestanden darauf, meine Geschichte zu hören – nun haben Sie sie gehört.«
»Ich habe aber noch nicht gehört, auf welche Weise Sie hier Beschäftigung fanden«, sagte Grace, indem sie artigkeitshalber, aber innerlich mit Unbehagen das Gespräch fortsetzte.
Mercy schritt durch das Zimmer und scharrte langsam die letzten glimmenden Reste des Feuers zusammen.
»Die Hausmutter hat Bekannte in Frankreich«, antwortete sie, »die mit den Militärspitälern in Berührung stehen. Unter diesen Umständen war es nicht schwer, mir diese Stelle zu verschaffen. Die Gesellschaft kann hier für mich eine Verwendung finden. Meine Hand ist so leicht, meine tröstenden Worte sind jenen leidenden Unglücklichen«, sie deutete nach dem Raum, wo die Verwundeten lagen, »so lieb, als wenn ich die ehrbarste Frau von der Welt wäre. Und trifft mich ein Streifschuss auf meinem Weg, ehe der Krieg zu Ende ist – nun! So ist die Gesellschaft wenigstens auf eine bequeme Art mich los geworden.«
Sie stand und blickte gedankenvoll auf die Trümmer des Feuers, als sehe sie auf die Trümmer ihres eigenen Lebens. Die gewöhnliche Menschenfreundlichkeit forderte es, ihr darauf etwas zu erwidern. Grace besann sich – trat einen Schritt näher – blieb stehen und erledigte sich ihrer Aufgabe mit der einfältigsten unter den alltäglichen Phrasen, die ein Mensch dem anderen sagen kann.
»Wenn ich etwas für Sie tun kann«, begann sie. Der Satz ward nicht vollendet. Miss Roseberry besaß gerade genug Schonung gegen die Verlorene, die sie gerettet und geschützt hatte, um weitere Worte für überflüssig zu halten.
Die Wärterin erhob ihren edel geformten Kopf und schritt langsam nach dem Vorhang, um zu ihrer Pflicht zurückzukehren.
»Miss Roseberry hätte wohl meine Hand fassen können!« dachte sie bitter bei sich selbst. »Aber nein! Sie hielt sich vielmehr in Entfernung, ohne zu wissen, was sie eigentlich sagen sollte. »Was können Sie für mich tun?« fragte Mercy, sie war im Augenblick durch die kalte Verbeugung ihrer Gefährtin zu einem Ausbruch ihrer vollen Menschenverachtung gereizt. »Können Sie mir den Namen und die Stellung einer unschuldigen Frau geben? Ach hätte ich Ihr Schicksal! Hätte ich nur Ihren guten Ruf und Ihre Aussichten für das Leben!« Sie legte ihre Hand auf die Brust und bezwang sich. »Bleiben Sie hier«, begann sie wieder, »während ich an meine Arbeit gehe. Ich will sehen, dass Ihre Kleider getrocknet werden. Sie sollen meine Kleider nicht länger tragen müssen, als dringend nötig ist.« Nach diesen melancholischen Worten – die in rührendem Tone, nicht bitter gesprochen wurden – war sie im Begriffe, in die Küche zu treten, als sie bemerkte, dass das Klatschen des Regens am Fenster aufgehört hatte. Sie ließ den Vorhang fallen, und lenkte ihre Schritte zurück, dann öffnete sie den Fensterladen und sah hinaus.«
Der Mond stieg verschleiert am trüben Himmel empor; der Regen hatte aufgehört; das begünstigende Dunkel, welches die französische Position vor den Augen der deutschen Patrouillen verborgen hatte, wurde mit jedem Augenblick geringer. In ein paar Stunden, wenn nichts dazwischen kam, konnte die Engländerin ihre Reise fortsetzen. In ein paar Stunden brach der Morgen an.
Mercy hob die Hand, um den Laden zu schließen. Bevor sie ihn wieder festmachen konnte, schlug von einem der entfernteren Posten der Knall eines Büchsenschusses an ihr Ohr, gleich darauf ein zweiter, schon näher und stärker. Mercy hielt inne, den Laden in der Hand, und horchte gespannt auf einen nächsten Knall.
3.
Die deutsche Granate
Der Knall des dritten Büchsenschusses drang durch die Nacht – schon ganz aus der Nähe des Häuschens. Grace sprang auf und trat erschreckt an das Fenster.
»Was bedeutet dies Schießen?« fragte sie.
»Signale der Vorposten«, erwiderte die Wärterin gelassen.
»Droht irgend Gefahr? Kehren die Deutschen zurück?«
Doktor Surville erwiderte diese Frage. Er hob eben den Zeugvorhang in die Höhe, um einen Blick in das Zimmer zu werfen, als Miss Roseberry sprach.
»Die Deutsche dringen gegen