die Störung, Herr Dr. Leitner, aber wir müssen unbedingt mit Ihnen sprechen«, begann Sascha das Gespräch. An seinen Fingern, die nervös mit einem Schlüssel spielten, erkannte Schorsch seine Nervosität.
»Um was geht es?«
»Es geht um Yasmin Pecher«, erklärte Marlene ungeduldig.
Hans-Georg Leitner erstarrte. »Was wissen Sie über Yasmin?«
Sascha sah ihn erstaunt an.
»Stimmt etwas nicht mit Yasmin?«
»Bitte sagen Sie mir zuerst, was Sie auf dem Herzen haben«, bat Schorsch ungehalten.
»Wir haben uns dazu entschlossen, das arme Mädchen zu adoptieren und wollten Ihren Rat dazu einholen«, erklärte Marlene überrascht. So kannte sie den sonst so freundlichen, besorgten Klinikchef nicht.
Bei dieser Nachricht entspannte sich Schorschs Gesicht etwas. Einen Moment hatte er geglaubt, die Gordons hätten etwas mit Yasmins Verschwinden zu tun. Doch sogleich verfinsterte sich seine Miene wieder. »Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß wir im Moment ganz andere Sorgen mit Yasmin haben.«
»Was soll das heißen?« fragte Marlene mit schriller Stimme. »Ist ihr etwas zugestoßen?«
»Sie ist heute nacht verschwunden. Die Polizei und das Heim sind schon informiert«, erklärte Schorsch knapp.
»Das darf nicht wahr sein!« Bei diesen Worten war Marlene leichenblaß geworden. »Wer hat dieses verschreckte Kind zu so einem Schritt veranlaßt?«
»Wie kommen Sie darauf, daß daran jemand schuld sein könnte?« fragte Schorsch erstaunt.
»Ich hatte ein langes, intensives Gespräch mit ihr. Sie hat sich mir anvertraut, weil ich sie an ihre Mutter erinnere, die sie im Alter von drei Jahren auf tragische Weise verloren hat. Ist es nicht merkwürdig, daß sie einer wildfremden Frau ihre Geschichte erzählt, obwohl sie seit Jahren in diesem Heim lebt und dort eigentlich Vertrauenspersonen haben müßte?«
Diesem Argument konnte sich Schorsch nicht entziehen. »Sie haben recht, das ist in der Tat verwunderlich.«
»Yasmin hatte keinen Grund dafür, in dieser Situation wegzulaufen. Sie wußte, daß ich ihr helfen wollte. Sie hat mir vertraut. Es muß also etwas vorgefallen sein, was sie zur Flucht veranlaßt hat«, erklärte Marlene überzeugt.
»Gab es etwas, wovor sie sich fürchtete?« forschte Hans-Georg Leitner weiter.
»Sie hatte große Angst davor, ins Heim zurück zu müssen und wünschte sich nichts mehr, als endlich eine Familie zu finden.«
»Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschlossen, sie bei uns aufzunehmen. Wenn uns eigene Kinder schon verwehrt bleiben, soll wenigstens so ein verzweifelter junger Mensch eine Chance bekommen«, bestärkte Sascha die Worte seiner Frau.
»Das ist wirklich sehr großmütig von Ihnen. Doch zuerst müssen wir herausfinden, was geschehen ist. Ich glaube, ich habe schon einen Verdacht«, sagte Schorsch, dem plötzlich die merkwürdige, überaus heftige Reaktion von Elisabeth Weinzierl eingefallen war, als er sie über das Verschwinden von Yasmin in Kenntnis gesetzt hatte.
»Ist es jetzt nicht wichtiger, sie zu finden?« fragte Marlene.
»In der Tat ist sie in großer Gefahr«, gab Schorsch unumwunden zu. »Sie befindet sich kurz vor der Entbindung, und außerdem leidet sie unter Bluthochdruck.«
»Wir müssen sie finden!« stieß Sascha hervor. Obwohl er Yasmin nicht kennengelernt hatte, litt er mit ihr wie mit einer eigenen Tochter. Auch er hatte in dieser Nacht wachgelegen und nach langem Grübeln erkannt, daß die Adoption von Yasmin seinem Leben den Sinn geben würde, den er so sehr vermißte.
»Mir sind die Hände gebunden«, sagte Schorsch niedergeschlagen. »Ich werde hier gebraucht. Alle nötigen Instanzen sind informiert, und die Polizei ist bereits auf der Suche nach ihr. Wenn Sie Zeit haben, ist es natürlich nur von Vorteil, wenn Sie sich daran beteiligen.«
»Kann meine Frau die Klinik denn verlassen?« erkundigte sich Sascha vorsichtshalber.
»Heute, spätestens morgen hätte ich Ihnen ohnehin angeboten, nach Hause zu gehen. Sie haben alles gut überstanden, so daß es keinen Grund gibt, länger in der Klinik zu bleiben. Allerdings sollten Sie sich nicht überanstrengen und auf die Signale Ihres Körpers achten. Dann denke ich, kann Ihnen nichts passieren«, erklärte Hans-Georg zu Marlene gewandt.
»Also los«, erklärte sie entschlossen, und in plötzlicher Eile verließ das Ehepaar Gordon das Büro. Hans-Georg Leitner blieb betrübt zurück. Er wagte nicht daran zu denken, was aus Marlene, Sascha und Yasmin werden sollte. Mehr als deutlich erkannte er, daß das Schicksal dieser drei Menschen auf dem Spiel stand.
*
Mühsam stieg die alte Frau Merker die Treppen von ihrer Wohnung, die im dritten Stock eines alten Wohnhauses lag, hinunter. In der einen Hand trug sie einen Müllbeutel, den sie in die Tonne werfen wollte, mit der anderen stützte sie sich schwerfällig auf einen Stock.
Das arthritische Knie wollte nicht mehr so richtig und schmerzte bei jeder Bewegung. Doch sie hatte niemanden, der ihr helfen konnte. So biß sie die Zähne zusammen und ging tapfer weiter. Vor der Haustür angekommen, kniff sie die Augen zusammen, so sehr blendete sie das grelle Sonnenlicht. Als sie sich daran gewöhnt hatte, ging sie langsam weiter, vorbei an dem Gebüsch, das das Tonnenhäuschen säumte. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und sah zu Boden. Unweit von ihr, auf einem Rasenstück, im Schatten einiger Sträucher, lag eine Gestalt und regte sich nicht. Frau Merker rieb sich die Augen, auf die sie sich trotz ihres hohen Alters bisher immer hatte verlassen können und schaute noch einmal hin.
Tatsächlich, es gab keinen Zweifel, da lag ein Mensch reglos am Boden. Vor Schreck ließ sie den Müllbeutel fallen und überlegte einen Moment, was sie tun sollte. Da sie aber schon immer eine sehr selbständige Frau gewesen war, ging sie nun mutig und auf alles gefaßt, auf die Gestalt zu. Als ehemalige Krankenpflegerin hatte sie schon oft Schreckliches gesehen, doch der Anblick des offenbar hochschwangeren Mädchens, das leichenblaß dort auf dem Boden lag, trieb ihr die Tränen in die Augen. So schnell es ging, bückte sie sich und ließ sich schwerfällig neben dem Mädchen auf dem Boden nieder. Mit geübtem Griff faßte sie an ihr Handgelenk und atmete kurz darauf erleichtert auf. Der Puls, den sie fühlte, war zwar schwach und unregelmäßig, aber zumindest war er da. Mühsam stand sie wieder auf und kramte in ihrer Kitteltasche nach Kleingeld. Herta Merker zog ein paar Münzen hervor, die sie umständlich studierte, denn noch immer hatte sie sich nicht an die neue Währung gewöhnen können. Schließlich stellte sie fest, daß es zum Telefonieren reichen würde und humpelte dann zu der Telefonzelle, die unweit am Straßenrand stand. Glücklicherweise handelte es sich noch um ein Münztelefon und nicht um einen Apparat, den man nur mit einer Karte bedienen konnte. Mit zitternden Fingern wählte die alte Frau die Nummer der Polizei.
*
»Das ist Yasmin Pecher«, identifizierte Schorsch Leitner kurze Zeit später die junge Frau. Als die Polizei den Notruf von Frau Merker weitergeleitet hatte, vergaßen die Beamten auch nicht, die Klinik zu informieren, die sofort einen Krankenwagen in das angegebene Wohnviertel schickte. Mehrere Beamte waren bereits vor Ort, und Dr. Leitner, der es sich nicht hatte nehmen lassen, den Rettungswagen zu begleiten, trieb seine Sanitäter zur Eile an. Keine Sekunde durfte mehr verloren werden. Noch war nicht klar, ob das Baby im Leib der Mutter noch lebte, und auch das Leben von Yasmin hing nach der langen Ohnmacht am seidenen Faden.
»Wir danken Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte ein Polizist freundlich zu Frau Merker, die immer noch da war, um mitzuverfolgen, was mit dem Mädchen geschah.
»Aber das ist doch selbstverständlich«, erklärte die alte Frau und machte bereitwillig Angaben zu ihrer Person, damit sie informiert werden konnte, wie Yasmin und das Baby alles überstehen würden.
»Hier haben wir eine Tasche gefunden!« rief ein junger Polizist, der zusammen mit seinem Kollegen das Gelände nach verdächtigen Spuren abgesucht hatte.
»Wir untersuchen den Inhalt und geben die