hinüberwirkende Gewalt zuzuschreiben, ihn als Lebensprinzip und Weltgebot zu empfinden. Ihm war bewußt, daß der Wille, dieses Fluidum, das, ausstrahlend von einem Napoleon, die Welt erschütterte, das Reiche stürzte, Fürsten erhob, Millionen Schicksale verwirrte, daß dieser reine atmosphärische Druck eines Geistigen nach außen sich auch im Materiellen manifestieren müßte, die Physiognomie modellieren, einströmen in die Physis des ganzen Körpers. Denn so wie eine momentane Erregung bei jedem Menschen den Ausdruck fördert, brutale und selbst stumpfsinnige Züge verschönt und charakterisiert, um wieviel mehr mußte ein andauernder Wille, eine chronische Leidenschaft das Material der Züge herausmeißeln. Ein Gesicht war für Balzac ein versteinerter Lebenswille, eine in Erz gegossene Charakteristik, und so wie der Archäologe aus den versteinerten Resten eine ganze Kultur zu erkennen hat, so schien es ihm Erfordernis des Dichters, aus einem Antlitz und aus der um einen Menschen lagernden Atmosphäre seine innere Kultur zu erkennen. Diese Physiognomik ließ ihn die Lehre Galls lieben, seine Topographie der im Gehirn gelagerten Fähigkeiten, ließ ihn Lavater studieren, der ebenfalls im Gesichte nichts anderes sah als den Fleisch und Bein gewordenen Lebenswillen, den nach außen gestülpten Charakter. Alles, was diese Magie, die geheimnisvolle Wechselwirkung des Innerlichen und Äußerlichen betonte, war ihm erwünscht. Er glaubte an Mesmers Lehre der magnetischen Übertragung des Willens von einem Medium in das andere, verkettete diese Anschauung mit den mystischen Vergeistigungen Svedenborgs, und all diese nicht ganz zur Theorie verdichteten Liebhabereien faßte er in der Lehre seines Lieblings, des Louis Lambert, zusammen, des chimiste de la volonté, jener seltsamen Gestalt eines früh Verstorbenen, die Selbstporträt und Sehnsucht nach innerer Vollendung sonderbar vereint. Ihm war jedes Gesicht eine zu enträtselnde Scharade. Er behauptete, in jedem Antlitz eine Tierphysiognomie zu erkennen, glaubte, den Todgeweihten an geheimen Zeichen bestimmen zu können, rühmte sich, jedem Vorübergehenden auf der Straße die Profession von seinem Antlitz, seinen Bewegungen, seiner Kleidung ablesen zu können. Diese intuitive Erkenntnis schien ihm aber noch nicht die höchste Magie des Blicks. Denn all dies umschloß nur das Seiende, das Gegenwärtige. Und seine tiefste Sehnsucht war, zu sein wie jene, die mit konzentrierten Kräften nicht nur das Momentane, sondern auch aus den Spuren das Vergangene, das Zukünftige aus den vorgestreckten Wurzeln aufspüren können, Bruder zu sein der Chiromanten, der Wahrsager, der Steller von Horoskopen, der »voyants«, all derer, die, mit dem tieferen Blick der »seconde vue« begabt, das Innerlichste aus dem Äußerlichen, das Unbegrenzte aus den bestimmten Linien zu erkennen sich erboten, die aus den dünnen Streifen der Handfläche den kurzen Weg des zurückgelegten Lebens und den dunklen Pfad in das Zukünftige hinein weiterzuführen vermochten. Ein solcher magischer Blick ist nach Balzac nur jenem gegeben, der seine Intelligenz nicht in tausend Richtungen zersplittert hat, sondern – die Idee der Konzentrierung ist bei Balzac in ewiger Wiederkehr – in sich aufgespart einem einzigen Ziele entgegenwendet. Die Gabe der »seconde vue« ist nicht nur die des Zauberers und Sehers allein; »seconde vue«, spontane visionäre Erkenntnis, dies unbezweifelbare Merkmal des Genies, haben die Mütter gegenüber ihren Kindern, Desplein hat sie, der Arzt, der aus der verworrenen Qual eines Kranken sofort die Ursache seines Leidens und die vermutliche Grenze seiner Lebensdauer bestimmt, der geniale Feldherr Napoleon, der die Stelle sofort erkennt, wo er die Brigaden hinschleudern muß, um das Schicksal der Schlacht zu entscheiden; Marsay, der Verführer, besitzt sie, der die flüchtige Sekunde aufgreift, in der er eine Frau zu Fall bringen kann, Nucingen, der Börsenspieler, der den großen Börsencoup im richtigen Momente zur Explosion bringt; alle diese Astrologen des Himmels der Seele haben ihre Wissenschaft dank des nach innen dringenden Blicks, der wie durch ein Perspektiv Horizonte sieht, wo das unbewaffnete Auge nur ein graues Chaos unterscheidet. Hierin schlummert die Affinität zwischen der Vision des Dichters und der Deduktion des Gelehrten, dem rapiden, spontanen Begreifen und dem langsamen, logischen Erkennen. Balzac, dem sein eigener intuitiver Überblick selbst unbegreiflich werden und der oft erschreckt mit fast irrem Blick sein Werk überschauen mußte wie ein Unbegreifliches, war gezwungen zu einer Philosophie des Inkommensurablen, einer Mystik, der der landläufige Katholizismus eines de Maistre nicht mehr genügte. Und dieses Korn Magie, das seinem innersten Wesen beigemengt war, diese Unbegreiflichkeit, die seine Kunst nicht nur Chemie des Lebens sein läßt, sondern Alchimie, ist sein Grenzwert gegen die Späteren, gegen die Nachahmer, gegen Zola besonders, der Stein um Stein zusammenraffte, wo Balzac nur den Zauberring drehte, und schon ein Palast mit tausend Fenstern sich aufbaute. So ungeheuer die Energie seines Werkes ist, der erste Eindruck bleibt doch immer der von Zauberei und nicht von Arbeit, nicht der eines Ausborgens vom Leben, sondern eines Beschenkens und Bereicherns.
Denn Balzac – und dies schwebt wie eine undurchdringliche Wolke von Geheimnis um seine Gestalt – hat in den Jahren seines Schaffens nicht mehr studiert und experimentiert, nicht mehr das Leben beobachtet wie etwa Zola, der sich, ehe er einen Roman schrieb, ein Bordereau für jede einzelne Figur anlegte, nicht wie Flaubert, der Bibliotheken durchstöberte für ein fingerschmales Buch. Balzac kam selten wieder zurück in jene Welt, die außer der seinen lag, er war eingeschlossen in seine Halluzination wie in ein Gefängnis, angenagelt an den Marterstuhl der Arbeit, und was er mitbrachte, wenn er einen jener flüchtigen Ausflüge in die Wirklichkeit unternahm, wenn er ging, mit seinem Verleger zu kämpfen oder die Korrekturbogen in eine Druckerei zu bringen, bei einem Freunde zu speisen, oder die Bric-à-brac-Läden von Paris zu durchstöbern, war immer eher Bestätigung als Informierung. Denn damals, als er zu schreiben begann, war schon auf irgendeine geheimnisvolle Weise das Wissen des ganzen Lebens in ihn eingedrungen, lag gesammelt und aufgespeichert, und es ist vielleicht mit der fast mythischen Erscheinung Shakespeares das größte Rätsel der Weltliteratur, wie, wann und woher all diese ungeheuerlichen, aus allen Berufsklassen, Materien, Temperamenten und Phänomenen herbeigeholten Vorräte von Kenntnissen in ihn eingewachsen sind. Drei, vier Jahre, Jünglingsjahre, war er in Berufen gestanden, bei einem Advokaten als Schreiber, dann als Verleger, als Student, aber in diesen paar Jahren muß er alles eingeschöpft haben, diese ganz unerklärliche, unübersehbare Fülle von Tatsachen, die Kenntnis aller Charaktere und Phänomene. Er muß unglaublich beobachtet haben in diesen Jahren. Sein Blick muß ein furchtbar saugender gewesen sein, ein gieriger, der alles, was ihm begegnete, vampirhaft nach innen riß, in ein Inneres, ein Gedächtnis, wo nichts vergilbte, nichts zerrann, nichts sich mischte oder verdarb, wo alles geordnet, gespart, getürmt lag, immer bereit und stets nach seiner wesentlichen Seite hin gekehrt, alles federnd und aufspringend, sobald er nur leise mit seinem Willen und Wunsche daran rührte. Alles hat Balzac gewußt, die Prozesse, die Schlachten, die Börsenmanöver, die Grundstückspekulationen, die Geheimnisse der Chemie, die Schliche der Parfumeure, die Kunstgriffe der Künstler, die Diskussionen der Theologen, den Betrieb der Zeitung, den Trug des Theaters und jener anderen Bühne, der Politik. Er hat die Provinz gekannt, Paris und die Welt, er, der connaisseur en flânerie, las wie in einem Buch in den krausen Zügen der Straßen, wußte bei jedem Hause, wann es gebaut war und von wem und für wen, enträtselte die Heraldik des Wappens über der Tür, eine ganze Epoche aus der Bauart und wußte gleichzeitig den Preis der Mieten, bevölkerte jedes Stockwerk mit Menschen, stellte Möbel in die Zimmer, füllte sie an mit einer Atmosphäre von Glück und Unglück und ließ vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum dritten Stockwerk das unsichtbare Netz des Schicksals sich spinnen. Er hat eine enzyklopädische Kenntnis gehabt, wußte, wieviel ein Bild des Palma Vecchio wert ist, wieviel ein Hektar Weideland kostet, was eine Spitzenmasche, was ein Tilbury und ein Diener, er hat das Leben der Elegants gekannt, die, zwischen Schulden vegetierend, in einem Jahr zwanzigtausend Francs anbringen; und schlägt man zwei Seiten weiter, so ist es wieder die Existenz eines armseligen Rentiers, in dessen peinlich ausgetüfteltem Leben ein zerrissener Schirm, eine zerbrochene Fensterscheibe zur Katastrophe wird. Wieder ein paar Seiten, und nun ist er unter den ganz Armen, er geht ihnen nach, wie jeder seine paar Sous verdient, der arme Auvergnate, der Wasserträger, dessen Sehnsucht es ist, das Faß nicht selbst ziehen zu müssen, sondern ein kleines, kleines Pferd zu haben, der Student und die Näherin, alle diese fast vegetabilischen Existenzen der Großstadt. Tausend Landschaften stehen auf, jede ist bereit, hinter seine Schicksale zu treten, sie zu formen, und alle sind deutlicher in ihm nach einem Augenblick des Schauens, als anderen nach Jahren, die sie darin lebten. Alles hat er gewußt, was er einmal flüchtig mit dem Blick angerührt hat, und – merkwürdiges Paradoxon des Künstlers – er hat selbst das gewußt, was er gar nicht kannte, er hat die Fjorde Norwegens und die Wälle von Saragossa aus seinen Träumen wachsen lassen, und sie waren wie