Paulista. Als Portugiesen oder Söhne von Portugiesen einerseits die nomadische Lust der alten Indios, anderseits die Abenteurerfreude der europäischen Ahnen im Blut liebt dies neue Geschlecht es nicht, die Erde selbst zu bestellen, die es besitzt. Längst besorgen diese grobe Arbeit für sie ihre Sklaven, und die langsame Art, Reichtum zu erwerben, widerstrebt ihrem unruhigen Blut. Mit Ackerbau und Viehzucht wird man nicht reich, solange man sie nicht mit hundert Sklaven in großem Stile betreibt, und sie wollen reich werden auf Conquistadorenart – reich, mit einem Schlag und wenn auch mit Einsatz ihres Lebens. So schließen sich die Ansiedler von São Paulo mehrmals im Jahr zu größeren Gruppen zusammen, um als Bandeirantes, die Fahne voran, zu Pferd und mit einem Troß von Dienern und Sklaven wie einst die Raubritter ins Land zu ziehen, nicht aber ohne vorher ihre Fahne feierlich in der Kirche segnen zu lassen. Manchmal vereinigen sich bis zweitausend Menschen zu solchen entradas, und für ein paar Monate bleiben dann die Stadt und die Siedlungen leer von Männern. Was sie suchen, wüßten sie selbst nicht zu sagen; halb ist es das Abenteuer, halb die Hoffnung auf irgendeinen unvermuteten Fund in diesem grenzenlos weiten und unerforschten Land. Seit den Tagen, da die Schätze Perus und die Silberminen Potosis entdeckt wurden, wollen die Gerüchte von einem sagenhaften Eldorado nicht verstummen. Warum sollte es nicht in Brasilien verborgen sein? So ziehen die Paulistas die Flußläufe entlang, die Berge auf und nieder, auf immer anderen ungebahnten Wegen, in welcher Richtung gerade der Wind die vorangetragene bandeira treibt, immer erregt von der Hoffnung, irgendwo auf die sagenhaften Minen zu stoßen. Und solange sich das kostbare Erz nicht finden läßt, solange nicht der »Hercules vom Sertão«, Fernão Dias, wenigstens die Smaragde entdeckt, bringen sie wenigstens eine andere Beute mit: lebendige Menschen. In den ersten Jahrzehnten sind diese entradas nichts anderes als eine wüste, grausam rücksichtslose Sklavenjagd. Den Paulisten scheint es einfacher und zugleich spannender, statt am Markt in Bahia sich Neger zu kaufen, die Eingeborenen mit Hunden und Pferden in scharfer, die Sinne erregender Jagd wie Hasen einzufangen; aber am bequemsten finden sie es schließlich, statt mit den Bluthunden den Verängstigten bis tief in den Urwald nachzujagen, sich diese Sklaven einfach von den Kolonien zu holen, wo sie die Jesuiten so schön ordentlich angesiedelt und schon im voraus zur Arbeit erzogen haben.
Selbstverständlich ist dieses Raubrittertum gegen jedes Gesetz, denn ausdrücklich hat der König die Freiheit der Eingeborenen bestätigt, und Anchieta erhebt verzweifelte Klage: Para êste género de gente não hê melhor prègação que espada e vara de ferro. Aus bloßer Gewinngier zerstören die Rotten ihr in Jahren und Jahren mühsam aufgebautes Ansiedlungswerk; sie entvölkern ihre Kolonien, sie tragen den Terror tief in befriedetes Land hinein, sie knechten und rauben nicht nur wehrlose, sondern auch schon kultivierte und dem Christentum gewonnene Menschen. Aber schon sind die Paulisten dank der rapiden Vermehrung durch Mischlinge zu stark, als daß sie Gebot und Gesetz noch einschüchtern könnte; selbst die päpstlichen Bullen gegen diese entradas und bandeiras haben mitten im sertão, im Urwald, keine Gewalt. Immer wilder und zugleich weiter geht die Menschenräuberei ins Land hinein, und noch aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts finden wir in Debrets »Voyage pittoresque au Brésil« eines der grausigen Bilder, wie nackte Männer, Frauen und Kinder an langen Stangen zusammengekoppelt wie Vieh von diesen brutalen Sklavenjägern verschleppt werden.
Dennoch haben diese wilden Gesellen in der Geschichte des Landes wider Willen ein großes Verdienst. Immer war die an sich verächtliche Gier nach raschem Gewinn eine der stärksten Kräfte, die den Menschen ins Weite getrieben; sie führte die phönizischen Schiffe über das Meer, sie lockte die Conquistadoren in die unbekannten Erdteile, sie peitschte, obwohl der schlimmste Trieb, die Menschheit vorwärts von Stillstand und bequemem Behagen. So ergänzen paradoxerweise die Bandeirantes, die nur raffen und rauben wollen, das zivilisatorische Werk des Aufbaus Brasiliens, denn durch ihr wildes, zielloses Vordringen fördern sie die geographische Entdeckung des Landes. Von Bahia aus den São Francisco empor, von São Paulo den Paranê hinab und den Paraguay, nach Minas Gerais die Serra empor nach Mato Grosso und Goiaz, quer durch den Urwald vordringend, schaffen und erforschen sie erste Wege in das unbekannte Territorium, und während sie entvölkern, besiedeln sie zugleich. Denn an manchen Stellen bleiben ein paar von ihnen zurück; damit entstehen neue Zellen der Besiedlung, neuen Zentren, von denen neue Nerven und Adern sich weiterbilden ins Unbetretene; in bitterster Feindschaft dem geduldigen Siedlungsplan der Jesuiten entgegenwirkend, haben sie anderseits gerade durch ihr ungeduldiges Vordringen ins Unbekannte das Werk der Durchdringung beschleunigt, nach Goethes Wort »ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft«. Auch sie haben an der Schaffung Brasiliens ihr gutes Teil.
Paulisten sind es auch, die auf einer ihrer entradas in die völlig unbewohnten Bergtäler von Minas Gerais eindringen und dort im Rio das Velhas das erste Gold finden. Einer der Bandeirantes bringt die Nachricht nach Bahia, ein anderer nach Rio de Janeiro, und sofort setzt von beiden Städten und allen möglichen Orten eine ganze Völkerwanderung in diese unwirtlichen Gebiete ein. Die Plantagenbesitzer treiben ihre Sklaven mit sich, die Zuckerwerke werden verlassen, Soldaten desertieren; in ein paar Jahren entsteht im Goldbezirk ein kleiner Ring von Städten, Vila Rica, Vila Real, Vila Albuquerque mit hunderttausend Einwohnern. Dazu kommt bald darauf die Entdeckung der Diamanten. Mit einemmal ist Brasilien die reichste Goldquelle der Welt und der kostbarste Besitz der portugiesischen Krone geworden, die sich von vornherein den Fünftteil an allem gefundenen Gold und jeden Diamanten über zweiundzwanzig Karat gesichert hat.
Die neue Provinz bietet zunächst das Bild eines vollkommenen Chaos. Wie in den ersten Zeiten der Kolonisation fühlen sich in diesen abgelegenen Gebirgstälern, weil noch ohne staatliche Kontrolle, die Eindringlinge jenseits von Recht und Pflicht, und der eingesetzte Gouverneur stößt ebenso wie seinerzeit die Jesuiten – auf entschlossenen Widerstand, sobald er Ordnung und Zucht einführen will. Die »Paulisten« wehren sich gegen die emboabas, die Eindringlinge von der Küste, und es kommt zu verzweifelten Kämpfen, in denen schließlich die königliche Autorität die Oberhand behält. An und für sich ist es nur Habgier, welche die ersten Goldgräber, die den unerwarteten Reichtum mit niemand anderem teilen wollen, zusammenrottet. Aber hinter ihrem eigenmächtigen Widerstand wirkt als höherer Wille schon unbewußt ein nationales Empfinden. Die Paulisten stellen mit diesen ersten Revolten gegen die portugiesische Autorität rein instinktiv die Forderung auf, allerdings noch ohne sie zu formulieren, daß jeder Reichtum der brasilianischen Erde Brasilien gehöre; sie empfinden es als absurd, daß das Gold, das sie – oder vielmehr ihre Sklaven – graben, verwendet werden solle, um tausende Meilen über dem Meer in einem Lande, das sie zeitlebens nie sehen werden, Paläste und gigantische Klöster zu bauen. In gewissem Sinn ist dieser erste, rasch niedergeschlagene Aufstand der Goldgräber gegen die portugiesische Autorität schon das erste Vorspiel des großen Unabhängigkeitskampfes, der in derselben Stadt, an derselben Stelle ein halbes Jahrhundert später seine niedergehaltenen Kräfte neuerdings entladen wird. Denn das Gold als die sichtbarste, münzbarste Wertsubstanz hat Brasilien zum erstenmal das Selbstbewußtsein seines Reichtums gegeben; von der Stunde seiner Entdeckung an betrachtet sich das Land nicht mehr als der Verschuldete und Dankespflichtige gegen sein Ursprungsland, sondern als freies Subjekt, das seine einstige Verpflichtung bereits in hundertfachen Werten an die Heimat zurückerstattet hat.
Im ganzen dauert dieser Goldtaumel nicht länger als fünfzig Jahre. Dann versagt – eine Katastrophe für Portugal – diese kostbare Quelle. Aber immer wiederholt sich in der Geschichte Brasiliens das gleiche merkwürdige Phänomen: was für sein Mutterland, für Portugal, ein Unglück bedeutet, wird für die Kolonie zum Gewinn. Über Portugal bricht, sobald die Goldsendungen ausbleiben, eine Finanzkrise schwerster Art herein, die Pombal nicht bemeistern kann und die im weiteren Verlauf die Austreibung der Jesuiten und seinen eigenen Sturz zur Folge hat: Brasilien wird dagegen eher stabilisiert. Denn durch die Auffindung des Goldes ist eine neue Verschiebung des Gleichgewichts und damit eine erste Konsolidierung in der Menschenverteilung Brasiliens eingetreten. Abermals sind große Massen in das bisher schwachbesiedelte Innere verpflanzt worden, und selbst als das Schwemmgold im Sande abgeschöpft ist, ziehen es die einstigen Goldgräber vor, die hier keine Bleibe und auch sonst keine Heimat haben, statt an die Küste zurückzuwandern, in der mata, dem fruchtbaren Tiefland von Minas Gerais, sich anzusiedeln. Damit ist abermals – wie vordem São Paulo – eine Provinz bevölkert und der bisher ungenützte Strom des São Francisco als lebendige