Wie die Napoleonkriege indirekt die politische Unabhängigkeit, so hat Hitlers Krieg die Industrie Brasiliens geschaffen, und genau wie seine politische, so wird sich dieses Land wohl auch die ökonomische durch die Jahrhunderte zu erhalten wissen.
Aus der Gegenwart einen Blick in die Zukunft zu tun, ist immer bedenklich. Mit seinen fünfzig Millionen Menschen und seinem riesigen Raum eine der großartigsten Kolonisationsleistungen der Menschheit, steht Brasilien heute doch erst im Anfang seiner Entwicklung. Noch lange sind die Schwierigkeiten nicht überwunden, die sich seinem endgültigen Aufbau entgegenstellen, und trotz der gewaltigen Leistung sind manche dieser Schwierigkeiten noch immer beträchtlich. Um diese durch Jahrhunderte getane Leistung richtig einschätzen zu können, fordert die Gerechtigkeit, auch die Hemmungen in Betracht zu ziehen, die sich ihr entgegensetzten und noch immer entgegensetzen; es gibt kein besseres Maß für die Willenskraft eines Menschen wie eines Volkes, als die Schwierigkeiten, die bei seiner physischen oder moralischen Leistung zu überwinden sind.
Von den beiden Hauptschwierigkeiten, die Brasilien gehemmt haben, das volle Ausmaß seiner potentiellen Kräfte einzusetzen, liegt eine offen zutage, während die andere sich zunächst dem oberflächlichen Blick verbirgt. Die geheime und darum tückischere Gefahr für die volle Auswirkung seiner Energien liegt im Gesundheitszustand der Bevölkerung, der von den Regierungsstellen weder verschwiegen noch unterschätzt wird. Brasilien, dieses friedlichste Land, hat einige erbitterte Feinde im Innern, die ihm alljährlich soviele Menschen rauben oder schwächen, wie in einem kriegführenden Lande ein Feldzug. Es muß ständig kämpfen gegen Milliarden winziger und kaum sichtbarer Wesen, gegen Bazillen und Mücken und andere tückische Krankheitsträger.
Der Hauptfeind ist heute noch immer die Tuberkulose, die an die zweimalhunderttausend Menschen jährlich, also ganze Armeekorps, dem Lande wegrafft. An und für sich scheint der brasilianische Mensch, weil zart geartet, dieser peste branca, dieser weißen Pest wehrloser ausgeliefert. Dazu kommt, besonders im Norden, Unterernährung oder vielmehr falsche Ernährung innerhalb eines Landes, das von Lebensmitteln strotzt. Eine kräftige Gegenaktion der Regierung hat bereits eingesetzt, um wenn schon nicht der Krankheit selbst, so doch ihrem Verbreitungsfaktor Einhalt zu gebieten, und diese Campagne dürfte in den nächsten Jahren noch verstärkt werden. Aber wenn nicht die Medizin, die moderne Wissenschaft das seit Jahrzehnten ersehnte Heilmittel schafft, so wird noch lange mit diesem gefährlichen Gegner zu rechnen sein, während die Syphilis hier durch jahrhundertelange Verbreitung an Intensität verloren hat und durch die Ehrlich-Therapie bald erledigt sein dürfte.
Der zweite Feind ist die Malaria, der Paludismo, an sich schon durch die klimatischen Umstände des Nordens beinahe bedingt und noch gemehrt durch den unvermuteten Einbruch der Anopheles Gambia, von der einige Exemplare sich 1930 in dem Flugzeug von Dakar aus Afrika mit herüberschmuggelten und, wie im guten Sinne jede Frucht und jede Pflanze und jedes Tier und jeder Mensch, sich hier rasch heimisch gemacht und vermehrt haben.
Die dritte Krankheit im Bunde ist die Lepra, die, solange man eine Radikalkur für diese nicht kennt, nur durch Isolation eingedämmt werden kann. Alle diese Krankheiten verursachen, auch sofern sie nicht gerade tödlichen Ausgang zu verzeichnen haben, eine gewaltige Schwächung der Produktionsfähigkeit. Besonders im Norden ist die durch das Klima ohnehin schon herabgeminderte Leistung großenteils noch tief unter dem europäischen und nordamerikanischen Niveau, und wenn die statistische Tabelle vierzig bis fünfzig Millionen Einwohner verzeichnet, so entspricht die produktive Auswirkung dieser Ziffer nicht im entferntesten der Energieleistung einer gleichen Masse von Nordamerikanern, Japanern oder Europäern, die mit einer viel höheren Gesundheitsquote und unter besseren klimatischen Bedingungen zustande kommt. Eine erschreckend große Zahl von Menschen wirkt hier noch immer weder als Produzenten noch als Konsumenten im wirtschaftlichen Leben mit; die Statistik schätzt die Zahl der Leute ohne Beschäftigung oder ohne bestimmte Beschäftigung auf 25 Millionen, und ihr Standard ist besonders in den äquatorialen Zonen so tief, daß die Ernährungsverhältnisse manchmal schlechter sind als in der Sklavenzeit. Diese unerfaßbare Masse in den amazonischen Wäldern und in den Tiefen der Randprovinzen wirtschaftlich wie gesundheitlich in das staatliche Leben einzuordnen, ist eine der großen Aufgaben, die heute die Regierung schon dringlich beschäftigt und die zu ihrer endgültigen Lösung noch Jahrzehnte erfordern wird.
Es ist also der Mensch, sofern wir ihn als produktive Kraft betrachten, in Brasilien noch nicht im entferntesten ausgenützt, und ebensowenig ist es die Erde mit allen ihren oberirdischen und unterirdischen Reichtümern. Hier liegt die Schwierigkeit offen zutage (und nicht verborgen wie bei der Krankheit). Sie ist bedingt durch das noch immer nicht überwundene Mißverhältnis zwischen Raum, Bevölkerungszahl und Transport. Man darf sich nicht blenden lassen durch die vorbildliche Organisation und moderne Kultur in São Paulo, wo ein Haus an das andere sich reiht, die Wolkenkratzer in den Himmel klettern und die Automobile ständig im Wettlauf rennen. Zwei Stunden hinter der Küste verlieren sich die asphaltierten Musterstraßen in ziemlich zweifelhafte Chausseen, die nach einem der so häufigen tropischen Regengüsse für Tage unbefahrbar oder nur mit Ketten befahrbar sind, und es beginnt der sertão, die dunkle und noch lange nicht einer wirklichen Zivilisation gewonnene Zone. Jede Reise rechts und links von der Hauptstraße wird zum Abenteuer. Die Eisenbahnen reichen nicht tief genug in das Innere und sind mit ihren drei verschiedenen Spurweiten schlecht untereinander verbunden, außerdem so langsam und unpraktisch, daß man sowohl hinunter nach Porto Alegre wie hinauf nach Bahia und Belém viel rascher zu Schiff als mit diesen Bahnen kommt. Die großen Wasserläufe anderseits, wie der São Francisco oder Rio Doce, sind nur selten und unzulänglich beschifft und demzufolge große und wesentliche Teile des Landes – soweit nicht das Flugzeug hilft – eigentlich nur durch individuelle Expeditionen zu erreichen. Noch immer leidet also – medizinisch gesprochen – dieser gewaltige Körper an einer ständigen Zirkulationsstörung, der Blutdruck geht nicht gleichmäßig durch den ganzen Organismus, und wesentliche Partien des Landes sind im wirtschaftlichen Sinne völlig atrophisch. So liegen stumm und noch unausgenützt die kostbarsten Produkte unter der Erde, ohne der Industrie zu dienen. Man weiß heute genau, wo sie liegen, aber es hat keinen Sinn, sie zu schürfen, solange nicht die Möglichkeit besteht, sie abzutransportieren. Wo das Erz liegt, fehlt die Bahn oder das Schiff, die Kohle heranzufrachten, wo die Viehzucht üppig und leicht blühen könnte, die Möglichkeit, das Vieh zu verladen. Ursache und Wirkung (oder vielmehr Un-wirkung) beißt sich wie eine Schlange selbst in den Schwanz. Die Produktion kann sich nicht in dem richtigen Tempo entwickeln, weil die Straßen fehlen, die Straßen wiederum können nicht in rascher Folge gebaut werden, weil ihre kostspielige Anlage und Erhaltung in dem welligen und schwachbesiedelten Lande noch nicht einem rentablen Verkehr entsprechen. Dazu kommt noch das besondere Verhängnis, daß auch für das neue Beförderungsmittel, das Automobil, dem Brasilien des zwanzigsten Jahrhunderts der gemäße Betriebsstoff, das Petroleum, auf dem eigenen Boden ebenso fehlt wie im neunzehnten Jahrhundert die Kohle, und das Benzin, soweit es nicht durch Alkohol ersetzt werden kann, Tropfen für Tropfen importiert werden muß. Um dieses Hauptproblem der Verkehrs-und Transportschwierigkeit in beschleunigter Form zu lösen, wäre ein gewaltiges Kapital nötig, und Brasilien fehlt es an flüssigem Kapital. Bares Geld ist von je hier rar, selbst die Staatspapiere verzinsen sich mit ungefähr acht Prozent, und im Privatverkehr klettert der Zinsfuß noch bedenklich höher hinauf. Die mehrmalige Entwertung des Milreis, das alte, schon instinktiv gewordene Mißtrauen gegen Engagements in Südamerika haben die nordamerikanische und europäische Großfinanz durch Jahrzehnte zu großer und wahrscheinlich übergroßer Vorsicht veranlaßt; anderseits übt die Regierung in den letzten Jahren eine gewisse Zurückhaltung in der Erteilung von Konzessionen, um die vitalsten Unternehmungen nicht ganz in ausländische Hände geraten zu lassen. All das hat den Prozeß der Industrialisierung und Intensivierung im Vergleich zu Europa und Nordamerika verlangsamt; während bei uns zu viel und zu hastig investiert wurde, blieb manches hier um Jahrzehnte zurück. Um von einem Ende bis zum andern dieses riesige Land, dieses Reich, diese Welt rascher zur Entfaltung zu bringen, bedürfte es einer doppelten Befruchtung: eines breiten Einstroms von Kapital und noch mehr eines ständigen Zustroms von Menschen, der aber in den letzten Jahren durch den Weltkrieg und seine ideologischen Folgen arg gedrosselt und eingeschränkt worden ist. Leidet Nordamerika an einem Überschuß an flüssigem, in den Banken zinsenlos aufgehäuften Kapital, leidet Europa an einem Überschuß von Menschen und zu wenig Raum, an einem Zustand, der es kongestioniert