Patricia Vandenberg

Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman


Скачать книгу

seines Hemdes herunter. Eine Hand auf seiner Brust, küsste sie ihn zärtlich.

      »Ich könnte mir vorstellen, dass seine Schüler anderer Meinung sind«, stellte Danny grinsend fest und drückte seinem großen Bruder Felix, der gerade verschlafen und mit strubbeligen Haaren in die Küche getappt kam, kurzerhand das volle, schwere Tablett in die Hand. »Da, das ist dein Job. Ich hab meine Familienpflichten für heute schon erfüllt.« Wie zum Beweis gurgelte und blubberte die Kaffeemaschine im Hintergrund.

      »Sklaventreiber. Ich schlafe noch«, murrte Felix und sah Anneka auffordernd an. »Und du? Was ist mit dir?«, fragte er, ganz offensichtlich auf der Suche nach einem geeigneten Opfer, um diese Arbeit zu delegieren. »Hast du heute schon was für das Allgemeinwohl gemacht?«

      »Ich hab Semmeln geholt«, kam die in Felix’ Ohren unerfreuliche Nachricht, und Anneka schnitt ihm eine triumphierende Grimasse.

      »Bleiben immer noch die Zwillinge. Tisch decken ist eine gute Arbeit für vier flinke kleine Hände.«

      »Dési mäht den Rasen und Jan recht zusammen«, machte Fee ihren Zweitältesten auf die gedämpften Motorengeräusche aufmerksam, die durch die geöffnete Terrassentür drangen.

      »Was ist denn nur mit euch allen los? Warum seid ihr schon so dynamisch am frühen Morgen?« Die Verwirrung stand Felix ins zerknautschte Gesicht geschrieben.

      »Erstens ist es schon nach zehn. Von frühem Morgen kann also keine Rede sein. Außerdem sind wir eben alle vernünftiger als du und treiben uns nicht die halbe Nacht auf irgendwelchen Partys rum«, konterte Anneka unbarmherzig.

      »Dafür verpasst ihr auch das Beste vom Leben!«

      »So siehst du aber im Augenblick nicht aus«, lachte Danny schadenfroh. »Eher, als wärst du in einer Folterkammer gewesen.« Er hatte leicht lachen. Seit er eine feste Freundin hatte, gab es für ihn keinen Grund mehr, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen.

      Auf dem Weg zum Wagen hörte Daniel noch ein unwilliges Schnauben und das fröhliche Gelächter seiner Familie. Er bedauerte es zutiefst, nicht am gemeinsamen Frühstück teilnehmen zu können, das in der Familie Norden am Wochenende ein besonderes Ritual war.

      Doch wie immer ging die Pflicht vor, und er fuhr auf schnellstem Weg zu Martha Bremer. Seit einigen Jahren war die ältere Dame Diabetikerin und hatte Probleme, die Kontrolle über die Zuckerkrankheit zu behalten, was auch an ihrem unglaublichen Sturkopf lag.

      »Mein Name ist Oliver Herrmann.« Der Arzt wurde bereits sehnsüchtig erwartet. Ein gut gekleideter älterer Herr stand ein wenig verlegen an der Tür des kleinen Siedlerhauses mit dem spitzen Dach. Er mochte um die 60 Jahre alt sein und wirkte völlig verunsichert. »Ich bin Marthas Bekannter.« Es war ihm ganz offensichtlich ein bisschen peinlich.

      »Wo ist Frau Bremer?«, fragte Daniel. Wenn es sich um das handelte, was er vermutete, hatte er keine Zeit zu verlieren.

      »Im Wohnzimmer auf dem Sofa.« Oliver Herrmanns dunkle Stimme zitterte ein wenig. »Bitte kommen Sie schnell.«

      Dr. Norden kannte den Weg und zögerte nicht. Als er das Wohnzimmer betrat, fiel sein Blick sofort auf die für gewöhnlich sehr resolute Dame, die trotz ihres Alters immer noch großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte. Auch an diesem Morgen war ihr feines Gesicht zart geschminkt, und die Frisur saß ebenso perfekt wie das fliederfarbene Twinset, das sie trug. Allein ihre schreckgeweiteten, unruhigen Augen wollten nicht recht zu ihrem tadellosen Äußeren passen.

      Als sie Dr. Norden sah, lächelte sie matt und hob die rechte Hand zum Gruß.

      »Mein lieber Doktor! Gut, dass Sie gleich gekommen sind.«

      »Was machen Sie denn für Sachen, Frau Bremer?«, fragte Daniel und zog sich einen Stuhl neben das Sofa.

      Oliver war inzwischen dazugekommen. Er stand in der Tür und beobachtete skeptisch die Bemühungen des Arztes.

      »Ich hab ihr Traubenzucker gegeben, genau, wie Sie gesagt haben.«

      Martha Bremer schickte ihrem Bekannten einen dankbaren und ein wenig unsicheren Blick. Es war ihr nicht recht, dass er sie so sah. Nicht nach dieser kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft. Eine erste zarte Verliebtheit wuchs wie ein scheues Pflänzchen zwischen ihnen, und sie fürchtete nicht nur um ihre Gesundheit sondern auch um das empfindliche Pflänzchen.

      »So ein fürsorglicher Mann«, lobte sie und rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich habe dir einen solchen Schrecken eingejagt.«

      »Was ist denn genau passiert?«, wollte Daniel wissen, um sich zu vergewissern, dass seine Ahnung richtig war.

      »Martha und ich waren gestern Abend in einem Klavierkonzert. Ach, es war so herrlich!«, geriet Oliver bei dieser Erinnerung unvermittelt ins Schwärmen. Seit vielen Jahren war er Witwer und hatte sich schon damit abgefunden, den Rest seines Lebens allein verbringen zu müssen. Da war die lebendige Martha wie ein bunter Schmetterling in sein Leben geflattert und bereicherte es seither mit schönen Ideen und Unternehmungen. Schon jetzt wollte er sie nicht mehr missen.

      »Der arme Oliver muss ganz schön viel aushalten mit mir«, erläuterte Martha nebenbei. »Jeden Abend fällt mir etwas anderes ein. Dabei hatte er vorher ein so beschauliches Leben.«

      Oliver Herrmann lächelte zärtlich.

      »Langweilig passt viel besser«, gestand er warm. »Wir haben sogar Wein getrunken, und ich habe mich erst nach Mitternacht verabschiedet. Als ich heute Morgen wieder kam, war noch alles dunkel. Deshalb habe ich mit dem Ersatzschlüssel aus dem Blumenbeet aufgeschlossen.«

      »Jetzt hast du mein Versteck verraten!«, fiel Martha ihm ins Wort.

      Unwillkürlich musste Daniel Norden schmunzeln. Das verliebte Geplänkel des alten Paares war rührend und erinnerte ihn an zwei Jugendliche. Es war tröstlich zu erleben, dass Liebe kein Alter kannte und dass es nie zu spät war, dieses Wunder und Glück zu erleben.

      »Keine Angst. Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben«, versicherte Dr. Norden ernsthaft.

      Oliver räusperte sich verlegen.

      »Ich schlich mich also ins Haus und wollte sie mit einem Frühstück überraschen. Martha kam erst, als ich schon dabei war, den Kaffee zu kochen und den Tisch zu decken«, berichtete Oliver, und sein Blick wurde wieder besorgt. »Da begann sie auf einmal zu zittern. Der Schweiß lief ihr über die Stirn, und sie war furchtbar unruhig. Ich wusste nicht, was los war. Deshalb habe ich Sie gleich angerufen.« Nach dem überstandenen Schreck verließen Oliver Herrmann langsam aber sicher die Nerven. Die Angst, seine reizende Martha wieder verlieren zu können, jetzt, wo er sie nach den Jahren der Einsamkeit endlich gefunden hatte, ließ seine Unterlippe zittern. »Ich hatte keine Ahnung, dass Martha zuckerkrank ist.« Noch im Nachhinein wurden seine Knie weich, und er sank auf einen der Stühle, die am Esstisch standen.

      »Ich wollte es dir nicht sagen aus Angst, dass du dann nichts mehr mit mir zu tun haben willst«, gestand Martha leise und wagte es nicht, Oliver anzusehen.

      »Gut, dass Sie mich gleich angerufen haben«, lobte Daniel Norden. »Und glücklicherweise ist ja noch mal alles gerade gut gegangen.« Nachdem er Puls und Blutdruck seiner Patientin gemessen hatte, entnahm er einen Tropfen Blut aus der Fingerkuppe, um den Blutzuckerspiegel mit einem entsprechenden Gerät zu testen. »Ich verabreiche Ihnen jetzt eine Insulininjektion. Dann sind Sie bald wieder auf den Beinen.«

      Aus halb geschlossenen Augen sah Martha Bremer ihrem Hausarzt zu, wie er eine Spritze mit hauchfeiner Nadel aufzog und ihr das Medikament verabreichte.

      »Sie sind ein wahrer Engel!«, seufzte sie zufrieden und schloss die Augen. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

      »Indem Sie die Diabetes-Sprechstunde in der Behnisch-Klinik wahrnehmen«, erklärte Daniel streng. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er der eigensinnigen Dame diese Maßnahme schon ans Herz gelegt hatte. Bisher vergeblich. »Dort werden Sie vernünftig auf die erforderliche Menge Insulin eingestellt, und Ihnen wird genau erklärt, wie Sie mit Ihrer Krankheit umgehen sollen, was erlaubt und was verboten ist. Mit einer Unterzuckerung ist nämlich