Wartezimmer, in das er gerufen wird, steht er plötzlich einer schmalen, kindhaft wirkenden Frau mit tränengefüllten Augen unter einer schlohweißen Haarkrone gegenüber.
»Tante Freytag«, ruft er erstaunt und zugleich betroffen aus.
Die alte Dame atmet auf. Gott sei Dank! Er erinnert sich an die Kindheit, in die ich etwas Licht getragen habe. Sie nimmt beide Hände Rombergs und drückt sie mit aller Kraft.
»Wolfram«, stammelt sie. »Ich weiß alles. Dieses gräßliche Unglück. Mein Junge! Ich kann es nicht fassen! Die Polizei wird ihn einsperren. Er wird niemals mehr Arzt sein dürfen. Das werde ich nicht überleben, Wolf. Alles war umsonst, alle Entbehrungen, alles. Jede Hoffnung ist zerschlagen. Er war immer mein Stolz, Wolf, du weißt es. Er ist so begabt .«
»Und leichtsinnig, Tante Freytag, sehr, sehr leichtsinnig«, wirft er, schmerzlich berührt von ihrem Verzweiflungsausbruch, dann ein. Liebevoll führt er die am ganzen Körper zitternde Frau zu einem Stuhl.
Sie sieht aus großen Augen, aus denen unaufhaltsam die Tränen tropfen, zu ihm auf. »Und wie geht es Hubert, meinem Schwiegersohn?«
»Leider – sehr schlecht.«
»Wolfram!« Sie umklammert abermals seine Hände. »Du mußt ihn retten. Er darf nicht sterben. Das wäre noch viel, viel schlimmer für Martin. Nicht wahr, du wirst alles tun?«
Doktor Romberg fühlt sich selbst wie ausgehöhlt. Zwei Frauen haben ihn angefleht. Die eine will, daß der Mann stirbt, die andere fleht um sein Leben.
Mein Gott! In was für eine Sache ist er verstrickt? Wenn er wenigstens nicht mit seinem Herzen daran beteiligt wäre. Noch ist das Gefühl für Christiana nicht in ihm erstorben. Und die kleine verzweifelte Frau liebt er beinahe wie seine eigene Mutter, die er nicht gekannt hat.
Wo gibt es aus diesem Wirrwarr einen Ausweg? Er strafft sich! Warum zögert er nur einen Augenblick? Für ihn gibt es nur den Weg der Pflicht – sonst nichts!
Liebevoll weich klingt seine Stimme: »Ich werde alles für Hubert Stücker tun, dazu bin ich schon als Arzt verpflichtet. Aber wir können keine Wunder vollbringen, Tante Freytag. Beruhigt dich das etwas? Nichts wird unversucht gelassen, dieses Menschenleben zu retten.«
»Und was geschieht mit Martin? Wirst du Martin der Polizei ausliefern?«
Seine Züge nehmen einen gequälten Ausdruck an. »Ich hoffe, daß Martin selbst soviel Mut hat, sich zu seiner Tat zu bekennen.«
»Oh, mein Gott!« weint sie auf.
Sacht streicht Romberg über ihren gesenkten Kopf und schrickt zusammen, als eine der Schwestern erscheint.
»Der Patient auf Zimmer 22«, flüstert sie Romberg zu. »Doktor Müller läßt Sie bitten, sofort zu kommen.«
Hilflos blickt Romberg auf seine Besucherin.
Sie weiß nicht, um was es sich handelt. »Geh, Wolfram. Darf ich noch warten? Ich hätte dir noch einiges zu sagen. Ich habe Zeit.«
Unschlüssig steht er vor ihr, nickt dann und verläßt eilig nach der Schwester das Zimmer.
Im Vorbeigehen holt er sich seinen weißen Kittel aus dem Ärztezimmer. Schwester Greta hilft ihm, hineinzuschlüpfen, und dann eilt er hastig vorwärts. Seit Stunden ist er gejagt worden, am meisten durch den Fall Stücker.
Dr. Müller richtet sich auf, als Romberg in das Zimmer 22 tritt. Der Blick auf den Patienten ist frei. Er bemerkt die spitze, weiße Nase und weiß alles. Er ist sekundenlang wie gelähmt. Was ist versäumt worden? Trägt er die Schuld daran? Ist der Patient nicht ordentlich geröntgt worden?
»Ich vermute – die Milz.« Wie aus weiter, weiter Ferne hört er Müllers etwas knarrende Stimme.
»Sofort in den Operationssaal«, befiehlt Romberg und hetzt davon. In kurzer Zeit ist im Operationssaal alles vorbereitet.
Oberschwester Magda steht an ihrem Platz. Doktor Müller assistiert, und Romberg ist bereit zur Operation. Er zwingt sich mit eiserner Energie zur Ruhe. Er fühlt, wie ihm der Schweiß aus allen Poren tritt. Seine Hand aber ist ruhig, ruhig und sicher wie immer. Keiner ahnt, was ihn diese Ruhe an Nervenkraft kostet. Auch alle Nebengedanken sind abgeschaltet. Nur der einzige Gedanke beherrscht ihn: Der Patient muß leben, auf jeden Fall leben.
»Gerettet!«
*
Müllers Stimme tönt wie Engelsgesang in Rombergs Ohren. Er wankt aus dem Operationssaal. Er hat sich gerade noch solange auf den Beinen gehalten, um den sorgfältigen Transport in eines der schönsten und ruhigsten Zimmer zu beaufsichtigen, dann wird ihm schwarz vor Augen.
Nur Sekunden währt dieses wohltätige Dunkel. Er merkt, wie ihm ein Glas an die Lippen geschoben wird. Er öffnet die Augen, sieht an sich hinunter und entdeckt, daß man ihm schon die Gummikleidung abgenommen hat.
»Endlich!« sagt Doktor Sybilla Sanders und hält ihm das Glas noch einmal an die Lippen. Gehorsam schluckt er, und dann ist er wieder ganz wach und klar im Kopf.
»Was macht der Patient?« ringt er sich ab.
»Nicht besonders gut – das Herz«, erwidert sie leise.
»Mein Gott, Doktor Sanders«, fährt er erregt auf. »Haben wir denn gestern etwas versäumt?«
Sie schüttelt energisch den Kopf. »Sie können das Röntgenbild noch einmal ansehen. Wir stehen tatsächlich vor einem Rätsel. Sie haben doch wirklich alles, alles getan, was menschenmöglich ist.«
»Kommen Sie, Doktor!« Schwerfällig erhebt er sich, und Sybilla stützt ihn schnell. »Wir sehen uns den Patienten noch einmal an. Hat Doktor Müller noch eine Transfusion gemacht?«
»Auch das ist geschehen, Herr Doktor. Er wird soeben damit fertig sein. Wie Sie anordneten, haben wir sie in seinem Zimmer gemacht.«
Romberg geht neben Doktor Sanders den Gang entlang. Schwester Sieglinde ist auch wieder auf ihrem Posten. Sie sieht hinter den beiden Ärzten her. Wie verstört der Oberarzt ist – denkt sie. Er gönnt sich wirklich keine Ruhe.
Mit geschickten Händen rollt sie Mullbinden auf. Sie läßt die Tür zu Nummer 22 nicht aus den Augen.
Sie hat nicht auf die Uhr gesehen, doch ihr kommt es sehr lange vor, bis der Oberarzt wieder erscheint. Jetzt wird ihr angst und bange vor Rombergs kalkigem Aussehen.
Er wankt förmlich und hinter ihm Doktor Sanders. Langsamer folgt Doktor Müller. Er bleibt vor Schwester Sieglinde stehen. Auch seine Züge sind ernst und undurchdringlich.
»Rufen Sie in der Villa Stücker an und bitten Sie Frau Stücker zu uns.«
Da weiß Schwester Sieglinde, was geschehen ist.
Hubert Stücker, der Patient von Zimmer 22, ist tot.
*
Sybilla Sanders hat den Oberarzt in das Ärztezimmer geleitet. Und genau wie in der Nacht bereitet sie ihm einen starken Kaffee. Dabei beobachtet sie ihn mit größter Besorgnis.
Er hat sich völlig verausgabt. Wie er so in dem Sessel lehnt, den Kopf an die Lehne gestützt, die Augen geschlossen und die Beine weit von sich gestreckt, macht er fast den Eindruck eines zusammengebrochenen Menschen.
Geht ihm das Schicksal dieses Hubert Stücker so nahe? Womit quält er sich ab? Warum spricht er sich nicht aus? Sie würde ihm zuhören, ohne ihn zu unterbrechen. Sie würde ihm nur gute, tröstende Worte sagen, denn er hat alles getan.
Was ist es, was hinter dieser beängstigenden Apathie steckt?
Sie ist selbst bis ins Herz hinein erregt. Ihr kommt es vor, als sei sie ein Teil von ihm selbst, als sei sein Leid das ihrige und sein Kummer auch ihr Kummer.
»Sie müssen trinken, Herr Doktor!« reißt sie ihn aus seiner Gleichgültigkeit.
Er hebt die Lider und sieht in ihr besorgtes Antlitz. Und wie schon einmal lächelt er schwach. Immer wenn er in innerer Not ist, steht sie wie ein