dann, als wollte sie ihm ausweichen, in die Dämmerung zurück.
Und leise legte sich etwas um Veronika, es war eine Sehnsucht so ziel-und wunschlos in ihr wie das wehe unbestimmte Ziehen im Schoß vor den wiederkehrenden Tagen. Sonderbare Gedanken strichen durch sie: nur sich so zu lieben, das ist, wie wenn man vor einem alles tun könnte; und als sich dazwischen, jetzt wie ein hartes, häßliches Gesicht, noch einmal die Erinnerung heraufschob, daß sie Johannes getötet habe, erschrak sie nicht, – sie tat sich nur selbst weh, als sie ihn sah, das war, wie wenn sie sich von innen gesehen hätte, voll Abscheulichem und Gedärmen, die wie große Würmer verschlungen waren, aber zugleich sah sie ihr Sichansehen mit und empfand Grauen, doch es war noch in diesem Grauen vor sich etwas Unentreißbares von Liebe. Eine erlösende Müdigkeit breitete sich über sie, sie sank zusammen und war in das, was sie getan hatte, wie in einen kühlen Pelz gehüllt, ganz traurig und zärtlich, ein stilles Beisichsein, ein sanftes Leuchten, … wie man noch an seinem Schmerz etwas liebt und im Kummer lächelt.
Und je heller es wurde, desto unwahrscheinlicher erschien ihr, daß Johannes tot sei, es war nur noch eine leise Begleitung, aus der sie sich selbst herauslöste. Es war – mit einer wieder nur mehr ganz fernen, ungeglaubten Beziehung zu ihm – als ob sich auch eine letzte Grenze zwischen ihnen beiden öffnete. Sie empfand eine wollüstige Weichheit und ein ungeheures Nahesein. Mehr noch als eines des Körpers eines der Seele; es war wie wenn sie aus seinen Augen heraus auf sich selbst schaute und bei jeder Berührung nicht nur ihn empfände, sondern auf eine unbeschreibliche Weise auch sein Gefühl von ihr, es erschien ihr wie eine geheimnisvolle geistige Vereinigung. Sie dachte manchmal, er war ihr Schutzengel, er war gekommen und ging, nachdem sie ihn wahrgenommen hatte, und wird doch von nun an immer bei ihr sein, er wird ihr zusehen, wenn sie sich auskleidet, und wenn sie geht, wird sie ihn unter den Röcken tragen; seine Blicke werden so zart sein wie eine beständige, leise Müdigkeit. Sie dachte es nicht von ihm, sie fühlte es nicht, nicht von diesem gleichgültigen Johannes, es war etwas bleichgrau Gespanntes in ihr, und wenn die Gedanken gingen, säumten sie sich hell wie dunkle Gestalten vor einem Winterhimmel. Bloß so ein Saum war es. Von tastender Zärtlichkeit. Es war ein leises Herausheben, … ein stärker werden und doch nicht da sein, … ein nichts und doch alles …
Sie saß ganz still und spielte mit ihren Gedanken. Es gibt eine Welt, etwas Abseitiges, eine andere Welt oder nur eine Traurigkeit … wie von Fieber und Einbildungen bemalte Wände, zwischen denen die Worte der Gesunden nicht tönen und sinnlos zu Boden fallen, wie Teppiche, auf denen zu schreiten, ihre Gebärden zu schwer sind; eine ganz dünne, hallende Welt, durch die sie mit ihm schritt, und allem, was sie tat, folgte darin eine Stille und alles, was sie dachte, glitt ohne Ende, wie Flüstern in verschlungenen Gängen.
Und als es ganz klar und bleich und Tag geworden war, kam der Brief, ein Brief, wie er kommen mußte, Veronika begriff sofort: wie er kommen mußte. Es pochte am Haus und riß durch die Stille, wie ein Felsblock eine dünne Schneedecke zerschlägt; durch das geöffnete Tor bliesen Wind und Helligkeit herein. In dem Brief stand, was bist du, ich habe mich nicht getötet? Ich bin wie einer, der auf die Straße hinaus fand. Ich bin heraußen und kann nicht zurück. Das Brot, das ich esse, das schwarz-braune Boot, das am Strande liegt und mich hinaustragen sollte, das Leisere, Undeutlichere, Füllwarme, nicht vorschnell Verfestigte, alles Lärmende, Lebendige ringsum hält mich fest. Wir werden darüber sprechen. Es ist alles heraußen bloß einfach und ohne Zusammenhang und übereinandergestreut wie ein Haufen Schutt, aber ich bin davon wie ein Pfahl gefaßt und verrammt und wieder verwurzelt worden …
Es stand noch anderes in dem Brief, aber sie sah nur dieses eine: ich fand auf die Straße. Es enthielt dennoch, obwohl es kommen mußte, kaum angedeutet, etwas Höhnisches in diesem rücksichtslos rettenden Sprung von ihr fort. Es war nichts, gar nichts, nur wie ein Kühlwerden am Morgen und einer fängt laut zu sprechen an, weil der Tag kommt. Es war endgültig alles um solch einen geschehn, der nun ernüchtert zusah. Von diesem Augenblick an, durch lange Zeit, dachte Veronika nichts, noch empfand sie etwas; nur eine ungeheure, von keiner Welle durchbrochene Stille glänzte um sie, bleich und leblos wie Teiche, die stumm im Frühlicht liegen.
Als sie dann aufwachte und von neuem nachzudenken begann, geschah es wieder wie unter einem schweren Mantel, der sie hinderte, sich zu bewegen, und wie Hände unter einer Hülle, die sie nicht abwerfen können, sinnlos werden, verwirrten sich ihre Gedanken. Sie fand nicht in die einfache Wirklichkeit. Daß er sich nicht erschossen hatte, war nicht die Tatsache, daß er lebte, sondern es war etwas in ihrem Dasein, ein Verstummen, ein wieder Sinken, es verstummte etwas in ihr und sank wieder in jene murmelnde Vielstimmigkeit zurück, aus der es sich kaum herausgehoben hatte. Sie hörte sie mit einemmal wieder von allen Seiten. Es war jener enge Gang, in dem sie einst lief und dann kroch und dann kam jenes Weiterwerden, jenes leise Heben und Sichaufrichten und nun schloß es sich wieder. Ihr war trotz der Stille, als ob Menschen um sie stünden und beständig leise sprächen. Sie verstand nicht, was sie sich sagten. Es war wunderbar heimlich, nicht zu verstehn, was sie sich sagten. Ihre Sinne waren in ganz dünne Flächen gespannt und diese Stimmen schlugen raschelnd daran wie die Zweige eines wirren Gestrüpps.
Fremde Gesichter tauchten auf. Es waren lauter fremde Gesichter, die Tante, Freundinnen, Bekannte, Demeter, Johannes, sie wußte es wohl, aber doch blieben es fremde Gesichter. Sie bekam plötzlich Angst vor ihnen, wie jemand, der fürchtet, streng behandelt zu werden. Sie mühte sich, an Johannes zu denken, aber sie konnte sich nicht mehr vorstellen, wie er vor wenigen Stunden aussah, er verfloß ihr mit den andern; es fiel ihr ein, daß er von ihr weggegangen war, ganz fern, wie unter eine Menge; es war ihr, als ob irgendwo da heraus seine Augen listig und versteckt auf sie schauen müßten. Sie spannte sich ganz klein davor zusammen und wollte sich schließen, aber sie empfand sich nur mehr mit einer leise zerfließenden Deutlichkeit.
Und allmählich verlor sie überhaupt das Gefühl, etwas anderes gewesen zu sein. Sie konnte sich kaum mehr von den andern unterscheiden und alle diese Gesichter waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden, sie tauchten auf und verschwanden ineinander, sie waren ihr eklig wie ungekämmtes Haar und doch verstrickte sie sich in ihnen, sie antwortete ihnen, die sie nicht verstand, sie hatte nur das eine Bedürfnis, etwas zu tun, es war eine Unruhe in ihr, die unter ihrer Haut wie Tausende kleiner Tiere herauswollte, und immer neu tauchten die alten Gesichter auf, das ganze Haus war voll dieser Unruhe.
Sie sprang auf und tat ein paar Schritte. Und plötzlich schwieg alles. Sie rief und nichts antwortete; sie rief noch einmal und hörte sich kaum. Sie sah suchend umher, reglos stand alles auf seinem Platz. Und doch fühlte sie sich.
Was dann kam, war zunächst ein kurzes Taumeln durch wenige Tage. Eine verzweifelte Anstrengung manchmal, sich zu erinnern, was es gewesen sei, das sie jenes eine Mal wie wirklich fühlte, und was sie getan haben mochte, daß es so kam. Veronika ging in dieser Zeit unruhig durch das Haus; es kam vor, daß sie in der Nacht aufstand und durch das Haus ging. Aber sie spürte dabei zuweilen nur das Kahle, Weißgetünchte der im Kerzenschein um sie aufragenden Stuben, an dem die Finsternis noch wie in Fetzen hing; sie spürte es wie etwas schreiend Wollüstiges, das hoch und reglos an den Wänden aufgerichtet stand. Wenn sie sich vorstellte, wie der Fußboden unter ihren nackten Füßen dahinlief, konnte sie minutenlang bewegungslos dastehn und nachdenken, wie wenn sie in einem fließenden Wasser unter sich eine bestimmte Stelle mit den Blicken festhalten wollte; es packte sie dann ein Schwindel, der von jenen Gedanken ausging, die sie nicht mehr wahrnehmen konnte, und erst wenn sich ihre Zehen in die Fugen der Diele krampften und dort von dem feinen, weichen Staub berührt wurden oder ihre Sohlen die kleinen unreinen Rauheiten des Bodens empfanden, wurde ihr leichter, wie wenn sie einen Schlag auf den entblößten Körper empfangen hätte.
Aber allmählich fühlte sie nur dieses Gegenwärtige und die Erinnerung an jene Nacht war nichts, das sie wieder erwartete, sondern nur jener Schatten von verborgener Freude an sich, den sie gewonnen hatte, auf der Wirklichkeit, in der sie lebte. Sie schlich manchmal bis an die verschlossene Haustür und lauschte, bis sie einen Mann vorübergehen hörte. Die Vorstellung, daß sie dort stand, in bloßem Hemd, fast nackt und unten offen, während draußen einer vorbeiging, so nah und nur durch ein Brett getrennt, bog sie fast zusammen. Am geheimnisvollsten schien ihr aber, daß auch draußen noch etwas von ihr war, denn ein Strahl ihres Lichts fiel durch den dünnen Schlüsselspalt und das Zittern ihrer Hand mußte in ihm tastend über die Kleider des Wanderers huschen.
Und