Robert Musil

Gesammelte Werke


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war, gehörte er ihren Träumen, und ihre Zärtlichkeit ging ungehindert durch ihn, wie die Wellen durch jene weichen, purpurnen Glockentiere, die im Meere schweben. Sie empfand keinen Haß mehr. Sie hatte diesen Haß empfunden, solange er lebte; solange er lebte, war er ihr eigentlich tot. Es gab einen ganz weichen, blassen Wunsch in ihr, daß er tot sein möge. Still wie ein Herbsttag, der keine Frucht mehr treibt und nichts mehr für sich erwartet. Es gab ein wahnsinnig stilles Liebesspiel, wo sie ihre Blicke leise wie Nadeln in ihn hineingleiten ließ, tiefer und tiefer, ob nicht in einem Zittern seines Lächelns, in einem Verziehen seiner Lippen, in irgend einer Bewegung der Qual etwas so herbstlich Verschenktes sich der suchenden Liebe entgegenhübe. Seine Haare wurden dann wie ein Wald und seine Nägel wurden wie große glimmrige Platten, sie sah feuchtfließende Wolken im Weißen seiner Augen und kleine spiegelnde Teiche; er lag ganz wehrlos häßlich da, mit geöffneten Grenzen, aber seine Seele war doch noch in einem letzten Turm verschlossen. Und Viktoria beugte sich tiefer über ihn, sie beugte sich ganz nahe über ihn, sie beugte sich in ihn hinein bis zu jenem innersten Widerstand, über den kein Fremder hinweg kann, sie versuchte sich noch über diese Grenze zu beugen. Und sie sah durch seine Augen, wie jemand, dem es gelingt, sich für einen Blick an ein hohes Turmfenster zu zwängen; sie wußte, daß dieser Blick nie wieder in sie zurückkehren werde. Er traf sie von außen; er traf sie wie etwas Fremdes, sie glänzte von Gold wie ein Spiegel, von Gold und doch nur ein Spiegel, in dem seine Seele aus dem Turm herunter sich ansah. Denn die Seele, die lebende Menschen haben, ist das, was sie nicht lieben läßt, was in aller Liebe einen Rest zurückbehält, was in aller Liebe: nur sich ansieht; sie können sich nicht verschenken; sie bleiben immer sie selbst, sie kommen mit gefesselten Händen und geschlossenen Augen, um sich hinzugeben und doch lieben sie den anderen nur, weil ihre Einsamkeit leise hinter ihm blutet.

      Aber wie in tausend zärtlich vorsichtigen Falten schmiegte sich jetzt schützend ein unsagbares Glück um Viktoria: «Du bist tot», träumte ihre Liebe; sie nannte ihn zum erstenmal Du und die Lichter spiegelten sich warm in ihren Träumen. Sie saß zwischen ihnen wie in einem blauen kristallenen Hause und hörte ihr Herz wie eine kleine gläserne Uhr darinnen, die die Stunden ihres Lebens zurück und herbeirief. Sie saß mit der Kunkel und spann an Fäden zu ziehenden Bildern, denn nun hatte er keine Seele. Ihre Liebe aber lag groß und sanft über ihm wie eine Katze, die in zärtlichen Träumen schnurrt. Wie ein murmelndes Wasser rannen die Stunden, … sie verlor das Gefühl für die Zeit.

      Als sie aufschrak, empfand sie zum erstenmal Kummer. Es war kühl um sie, die Kerzen waren herabgebrannt und nur eine letzte leuchtete noch; auf dem Platz, wo sonst er immer gesessen hatte, war jetzt ein Loch im Raum, das alle ihre Gedanken nicht füllen konnten. Und plötzlich verlosch lautlos auch dieses eine Licht, wie ein letzter Weggehender leise die Türe schließt; Viktoria blieb im Dunkel.

      Demütig wandernde Geräusche gingen durch das Haus, die Stiegen schüttelten mit einem scheuen Dehnen den Druck der Schreitenden wieder von sich ab, irgendwo nagte eine Maus, eine Uhr schlug. So messen sie mir wie aus einem großen Sack, aus dem sie alle nehmen, die Stunden meines Lebens zu, fühlte Viktoria und sie ängstigte sich wieder mitten in diesem fremden umspannenden Dasein. Aber etwas wie eine nadeldünne Stütze hielt sie und hielt sie hinein. Es redeten, hörbar in der Nacht, die unentwirrbar verwobenen Stimmen der Dinge: was war dies in ihr, das mit einer fern und unfaßbar dahingehenden leisen Melodie antwortete? Was war diese feine, nagende Seligkeit trotz ihres Kummers, die ihren Körper höhlte, bis er sich weich und zärtlich wie eine dünne Kapsel trug? Es lockte sie, sich zu entkleiden. Bloß für sich selbst, bloß für das Gefühl, sich nahe zu sein, mit sich selbst in einem dunklen Raum allein zu sein. Es erregte sie, wie die Kleider leise knisternd zu Boden sanken; es war eine Zärtlichkeit, die ein paar Schritte in die Dunkelheit hinaustat, als ob sie jemand suchte, sich besann und zurückeilte, um sich an den eigenen Körper zu schmiegen. Und als Viktoria langsam, mit zögerndem Genießen ihre Kleider wieder aufnahm, waren diese Röcke, die in der Finsternis mit Falten, in denen wie Teiche in dunklen Höhlen träg noch ihre eigene Wärme säumte, und bauschigen Räumen um sie stiegen, etwas wie Verstecke, in denen sie kauerte, und wenn ihr Körper hie und da heimlich an seine Hüllen stieß, zitterte eine Sinnlichkeit durch ihn, wie ein verborgenes Licht hinter geschlossenen Läden unruhig durch ein Haus geht.

      Es war dieses Zimmer; Viktoria fühlte, wie sonderbar sich manchmal die Ereignisse gleichen. Ihr Blick suchte den Platz, wo an der Wand der Spiegel hing, und fand ihr Bild nicht; sie sah nichts, … vielleicht ein undeutlich gleitendes Leuchten im Dunkel, vielleicht mochte auch dies Täuschung gewesen sein. Die Finsternis füllte das Haus wie eine schwere Flüssigkeit, sie schien nirgends darin zu sein, sie begann zu gehen, überall war nur die Dunkelheit, nirgends sie und doch fühlte sie nichts als sich und wo sie ging, war etwas und war nicht, wie unausgesprochene Worte manchmal in einem Schweigen. Sie hatte einmal in diesem Zimmer Engel gesehn, als sie krank lag; da standen sie um ihr Bett und von ihren Flügeln, ohne daß sie sie rührten, tönte ein dünner, hoher Laut, der die Dinge durchschnitt. Die Dinge zerfielen wie taube Steine, die ganze Welt lag mit scharfen, muscheligen Brüchen da, und nur sie selbst zog sich zusammen; vom Fieber verzehrt, dünn geschabt wie ein welkes Rosenblatt, war sie durchsichtig geworden für ihr Gefühl, sie spürte ihren Körper von überall zugleich und ganz klein beisammen, als hielte sie ihn mit einer Hand umschlossen. Für die andern schien er nicht mehr da zu sein; wie ein flimmerndes Gitter, durch das man nur hinaussehen konnte, lag jenes Tönen davor.

      Es war etwas von diesem Kranksein in der Sinnlichkeit, mit der sie sich selbst empfand; sie wich, vorsichtig sich einziehend, den Gegenständen aus und fühlte sie schon von ferne; es war jenes leise Verströmen und Zusammensinken in ihr, vor dem alles außen hart und fern und hinter dem alles weich wie hinter stillen Vorhängen von zerfallender Seide ist. Allmählich wurde es grau und mild von Schneelicht im Hause. Sie stand oben am Fenster, es wurde Morgen; die Leute kamen zum Markte. Hie und da schlug ein Wort zu ihr herauf; sie beugte sich dann, als wollte sie ihm ausweichen, in die Dämmerung zurück. Sie fühlte diese Bewegung, wie man etwas wieder durch die Hände gleiten läßt, das man vor Jahren in eine Truhe gelegt hat. Denn so stand sie als junges Mädchen, und während sie hinabsah, war ein knisternder Widerstand um sie, als ob feine Glasspitzen abbrächen, wenn ihr der Blick eines Menschen zu nahe kam. Und sie stand später hier, damals, als sie ihrem Haar in der Nacht phantastische Frisuren gab und ihren Fingern, – die sie mit riechenden Wassern wusch, wenn sie die Hände eines Andern berührt hatten, – die Namen von märchenhaften Liebhabern, die alle sie selbst waren. Sie stand immer hier, wenn sie niemanden liebte als sich und wenn sie sich vor den Menschen ängstigte, weil ihre Liebe so wehrlos weich war wie eine dunkle wunde Schnecke, die mit leisem Zucken nach einer zweiten sucht, an deren Leib es sie verlangt, aufgebrochen und sterbend zu kleben.

      Und leise legte sich etwas um Viktoria; es war eine Sehnsucht so ziellos in ihr und so still wie das wehe unbestimmte Ziehen im Schoß vor den wiederkehrenden Tagen; sonderbare Gedanken fielen ihr ein; sich so lieben, das wäre, wie wenn man vor einem alles tun könnte … Und langsam schob sich vor ihr, wie ein häßliches hartes Gesicht, die Erinnerung herauf, daß sie ihn getötet hatte. Doch der Gedanke erschreckte sie nicht; sie tat sich nur weh, wie sie sich sah; das war wie wenn sie sich von innen gesehen hätte, voll von Gedärmen, die wie große Würmer verschlungen waren, aber gleichzeitig sah sie ihr Sehen mit; sie empfand Abscheu vor sich, aber wie ein Körper sinkt und in einer letzten Schicht über dem Boden doch noch trübe schweben bleibt, war noch in diesem Abscheu etwas Unentreißbares von Liebe. Eine erlösende Müdigkeit legte sich um sie, sie sank zusammen und war in das, was sie getan hatte, wie in einen kühlen Pelz gehüllt, ganz traurig und zärtlich, ein stilles Bei sich sein, ein sanftes Leuchten, … wie man noch an seinem Schmerz etwas liebt und im Kummer lächelt.

      Und dann war es, als ob sich auch diese Grenze zwischen ihnen beiden öffnete. Sie empfand eine wollüstige Weichheit und ein ungeheures Nahesein. Mehr noch als eines des Körpers eines der Seele; es war wie wenn sie aus seinen Augen heraus auf sich selbst schaute und bei jeder Berührung nicht nur ihn empfände sondern auf eine unbeschreibliche Weise auch sein Gefühl von ihr; es erschien ihr wie eine geheimnisvolle geistige Vereinigung. Sie dachte, er war ihr Schutzengel; er war gekommen und ging, nachdem sie ihn wahrgenommen hatte; und wird doch von nun an immer bei ihr sein, er wird ihr zusehen, wenn sie sich auskleidet, und wenn sie geht, wird sie ihn unter den Röcken tragen, seine Blicke werden so zart sein wie eine beständige leise Müdigkeit.