Gustav Freytag

Die Technik des Dramas


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einer vielseitigen Entwickelung aufgefaßt. Aber gerade wir Deutschen könnten uns ein abschätzendes Urtheil der Nachwelt recht gern gefallen lassen, wenn wir nur jetzt die Hilfe einer gemeingiltigen Technik besäßen. Denn wir leiden an dem Gegentheil einer engen Begrenzung, an übergroßer Zuchtlosigkeit und Formlosigkeit, uns fehlt ein volksmäßiger Stil, ein bestimmtes Gebiet dramatischer Stoffe, jede Sicherheit der Handgriffe; unser Schaffen ist fast nach allen Richtungen zufällig und unsicher geworden, noch heut, achtzig Jahre nach Schiller, wird es dem jungen Dichter sehr schwer, sich auf der Bühne vertraut und heimisch zu bewegen.

      Wenn wir aber auch darauf verzichten müssen, mit den Vortheilen der sichern und handwerksmäßigen Ueberlieferung zu schaffen, welche der dramatischen Kunst gerade so wie den bildenden Künsten früherer Jahrhunderte eigen war, so sollen wir doch nicht verschmähen, die technischen Regeln aus alter und neuer Zeit, welche auf unserer Bühne künstlerische Wirkungen erleichtern, zu suchen und verständig zu gebrauchen. Es versteht sich, daß diese Regeln nicht durch Willkür eines Einzelnen, auch nicht durch den Einfluß eines großen Denkers oder Dichters auferlegt sein dürfen, sondern daß sie aus den edelsten Wirkungen unserer Bühne gezogen, nur das für uns Nothwendige enthalten müssen, daß sie der Kritik und der schaffenden Kraft nicht als Gewaltherrscher, sondern als ehrliche Helfer zu dienen haben, und daß auch bei ihnen eine Wandlung und Fortbildung nach den Bedürfnissen der Zeit nicht ausgeschlossen wird.

      Es ist immerhin auffallend, daß die technischen Hilfsregeln früherer Zeit, nach denen der Schaffende den kunstvollen Bau des Dramas zusammenzufügen hatte, so selten durch Schrift spätern Geschlechtern überliefert sind. Zweitausend zweihundert Jahre sind vergangen, seit Aristoteles den Hellenen einen Theil dieser Gesetze darstellte. Leider ist die Poetik nur unvollständig auf uns gekommen, das Erhaltene ist vielleicht nur Auszug, den ungeschickte Hände gemacht haben, es hat Lücken und verderbten Text, auch scheinen einzelne Kapitel durcheinander geworfen. Trotz dieser Beschaffenheit ist das Erhaltene für uns von höchstem Werth, die Alterthumswissenschaft verdankt ihm einen Einblick in die verschüttete Bühnenwelt der Hellenen, in unsern ästhetischen Lehrbüchern bildet es noch heut die Grundlage für die Theorie der dramatischen Kunst, auch dem arbeitenden Dichter sind einige Kapitel der kleinen Schrift belehrend. Denn das Werk enthält außer einer Theorie der dramatischen Wirkungen, wie sie der größte Denker des Alterthums seinen Zeitgenossen zurecht legte, und außer mehren Grundsätzen einer volksthümlichen Kritik, wie sie der gebildete Athener vor neuen Stücken in Anwendung brachte, auch noch einige feine Handgriffe aus den dramatischen Werkstätten des Alterthums, welche wir für unsere Arbeit sehr vortheilhaft verwenden können. Im Folgenden wird, soweit der praktische Zweck dieses Buches erlaubt, davon die Rede sein.

      Hundert und zwanzig Jahre sind es, seit Lessing den Deutschen die Geheimschrift der alten Poetik zu entziffern unternahm. Seine hamburgische Dramaturgie wurde der Ausgangspunkt für eine volksmäßige Auffassung des dramatisch Schönen. Und der siegreiche Kampf, welchen er in diesem Werk gegen die Tyrannei des französischen Geschmacks führte, wird demselben die Achtung und Liebe der Deutschen auf immer erhalten. Für unsere Zeit ist der streitende Theil der wichtigste. Wo Lessing den Aristoteles erklärt, erscheint sein Verständniß des Griechen unserer Gegenwart, welche mit reicheren Hilfsmitteln arbeitet, nicht überall genügend; wo er belehrend die Gesetze des Schaffens darlegt, ist sein Urtheil begrenzt durch die enge Auffassung des Schönen und Wirkungsvollen, in welcher er damals noch selbst stand.

      Freilich die beste Quelle für den Gewinn technischer Regeln sind die Dramen großer Dichter, welche ihren Zauber auf Leser und Zuschauer noch heut ausüben. Zunächst die griechischen Tragödien. Wer sich gewöhnt von den Besonderheiten der alten Form abzusehen, der findet mit inniger Freude, daß der kunstvollste tragische Dichter der Athener, Sophokles, die Hauptgesetze des dramatischen Aufbaues mit einer beneidenswerthen Sicherheit und Klugheit verwendet. Für Steigerung, Höhenpunkt und Umkehr der Handlung — den zweiten, dritten und vierten Akt unserer Stücke — ist er noch uns ein selten erreichtes Vorbild.

      Etwa zweitausend Jahre nach Oedipus auf Kolonos schrieb Shakespeare das Trauerspiel Romeo und Julie, er die zweite geniale Kraft, welche der dramatischen Kunst unsterblichen Ausdruck gegeben hat. Er schuf das Drama der Germanen, seine Behandlung des Tragischen, Anordnung der Handlung, Art und Weise der Charakterbildung, Darstellung der Seelenvorgänge haben für die Einleitung des Dramas und für die erste Hälfte bis zum Höhenpunkt einige technische Gesetze, welche uns noch leiten, festgestellt.

      Auf einem Umwege kamen die Deutschen zur Erkenntniß von der Größe und Bedeutung seiner Arbeit für uns. Die großen Dichter der Deutschen, billig die nächsten Muster, an denen wir uns zu bilden haben, lebten in einer Zeit des geistvollen Anstellens von Versuchen mit dem Erbe alter Vergangenheit, deshalb fehlt der Technik, welche sie erwarben, Einiges von der Sicherheit und Folgerichtigkeit der Wirkungen; und gerade weil das Schöne, das sie gefunden, uns in das Blut übergegangen ist, sind wir auch verpflichtet, bei der Arbeit Manches von uns abzuwehren, was bei ihnen auf unfertiger oder unsicherer Grundlage ruht.

      Die Beispiele, welche in dem Folgenden herangezogen werden, sind aus Sophokles, Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller geholt. Denn es war wünschenswerth, die Beispiele auf allbekannte Werke zu beschränken.

       Die dramatische Handlung.

       Inhaltsverzeichnis

       Die Idee.

       Inhaltsverzeichnis

      In der Seele des Dichters gestaltet sich das Drama allmählich aus dem rohen Stoff, dem Bericht über irgend etwas Geschehenes. Zuerst treten einzelne Momente: innerer Kampf und Entschluß eines Menschen, eine folgenschwere That, Zusammenstoß zweier Charaktere, Gegensatz eines Helden gegen seine Umgebung, so lebhaft aus dem Zusammenhange mit anderen Ereignissen heraus, daß sie Veranlassung zur Umbildung des Stoffes werden. Diese Umbildung geht so vor sich, daß die lebhaft empfundene Hauptsache in ihrer die Menschenseele fesselnden, rührenden oder erschütternden Bedeutung aufgefaßt, von allem zufällig daran Hängenden losgelöst und mit einzelnen ergänzenden Erfindungen in einen einheitlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gebracht wird. Die neue Einheit, welche dadurch entsteht, ist die Idee des Dramas. Sie wird der Mittelpunkt, an welchen weitere freie Erfindung wie in Strahlen anschließt, sie wirkt mit ähnlicher Gewalt, wie die geheimnißvolle Kraft der Krystallbildung, durch sie wird Einheit der Handlung und Bedeutung der Charaktere, zuletzt der gesammte Bau des Dramas hervorgebracht.

      Wie der rohe Stoff zu einer poetischen Idee vergeistigt wird, soll das folgende Beispiel zeigen. Ein junger Dichter des vorigen Jahrhunderts liest folgende Zeitungsanzeige: „Stuttgart vom 11. Am gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste Tochter Luise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche Untersuchung ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen waren. Man spricht von einem Liebesverhältniß, welches der Vater des Majors, der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Theilnahme aller fühlenden Seelen.”

      Ueber diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie des Dichters den Charakter eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus welcher der Liebende hervorgetreten ist, und dem engen Kreis eines kleinen bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfniß geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem Verhältniß von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang findet der schaffende Dichter in einer Täuschung, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes geworfen wird, in dem Verdachte von der Untreue der Geliebten. Auf solche Weise macht der Dichter den Bericht sich und Andern verständlich, indem er frei erfindend einen innern