Wilhelm Bölsche

Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie


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       Wilhelm Bölsche

      Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie

      Prolegomena einer realistischen Aesthetik

      Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2021

       [email protected]

      EAN 4064066112967

       Vorwort.

       Erstes Capitel. Die versöhnende Tendenz des Realismus.

       Zweites Capitel. Willensfreiheit.

       Drittes Capitel. Unsterblichkeit.

       Viertes Capitel. Liebe.

       Fünftes Capitel. Das realistische Ideal.

       Sechstes Capitel. Darwin in der Poesie.

       Siebentes Capitel. Eine Schlussbetrachtung.

       Inhaltsverzeichnis

      Die nachfolgenden wissenschaftlichen Studien behandeln in selbstständiger Abrundung das, was nach meiner Ueberzeugung im ersten Buche jeder neuen, unserm modernen Streben gerecht werdenden Aesthetik seine Stelle finden müsste. Realistisch nenne ich diese Aesthetik, weil sie unserm gegenwärtigen Denken entsprechend nicht vom metaphysischen Standpuncte, sondern vom realen, durch vorurtheilsfreie Forschung bezeichneten ausgehen soll. Wie ich mir die Rolle des besonnenen Realismus in unserer Literatur denke, ist im ersten Capitel ausführlich entwickelt; die übrigen behandeln einzelne Probleme, an denen der Naturforscher und der Dichter gleich grossen Antheil nehmen. Zurückweisen muss ich im Voraus alle Uebertreibungen, die man von unberufener Seite an das Wort Realismus geknüpft hat. Der Realismus ist nicht gekommen, die bestehende Literatur in wüster Revolution zu zerstören, sondern er bedeutet das einfache Resultat einer langsamen Fortentwickelung, wie die gewaltige Machtstellung der modernen Naturwissenschaften es nicht mehr und nicht minder ist. Jene Utopien von einer Literatur der Kraft und der Leidenschaft, die in jähem Anprall unsere Literatur der Convenienz und der sanften Bemäntelung wegfegen soll, bedeuten mir gar nichts; was ich von dem aufwachsenden Dichtergeschlecht fordere und hoffe, ist eine geschickte Bethätigung besseren Wissens auf psychologischem Gebiete, besserer Beobachtung, gesunderen Empfindens, und die Grundlage dazu ist Fühlung mit den Naturwissenschaften. Leichte Plaudereien, wie sie der Spalte eines Feuilletons ziemen, wird der Leser vergebens auf diesen Blättern suchen, weder unfeines Schmähen noch kritiklose Verhimmelung rechne ich unter die nothwendigen Requisiten der neuen Sache. Die jungen Kräfte, die jetzt so viel Lärm machen, werden schon allein ihren Weg gehen; ich aber möchte durch eine anständige Polemik sowohl wie durch einen anständigen Vortrag überhaupt auch zu denen reden, die im Banne älterer Anschauungen jede Form realistischen Fortschritts mit zweifelndem Auge betrachten.

      Berlin, im Winter 1886.

      Wilhelm Bölsche.

       Die versöhnende Tendenz des Realismus.

       Inhaltsverzeichnis

      Durch die gesammte – und nicht zum Wenigsten die deutsche – Literatur geht seit einiger Zeit eine lebhafte Bewegung. Die Schaufenster der Buchhandlungen wie die Spalten der Journale sind überfüllt mit Streitschriften und Streitartikeln, die bereits durch die Kühnheit der Titel von der Hitze der Kämpfenden Zeugniss ablegen. Aber auch abgesehen von diesen Kundgebungen der eigentlichen Ritter des Tourniers fühlt sich jeder Einzelne im grossen Publicum mehr oder weniger berufen, seinen Wahlzettel in die Urne zu werfen. Denn das Wort ist gefunden, welches in neun Buchstaben die Loosung des Ganzen enthüllen soll. Dieses schicksalsschwere Wort heisst Realismus.

      Für die eine Partei ein goldenes Wort, eins aus jener Reihe unvergänglicher Schlagwörter, die mit ihrer prächtigen Kürze gleichsam die Stenographie der Culturgeschichte darstellen, – ist es der andern ein Gräuel, ein Hemmniss aller Fortentwicklung, der Name einer bösen, wenn auch glücklicherweise vergänglichen Krankheit.

      Revolution der Literatur für jene, Aufdämmern eines neuen Tages, weit heller und strahlender noch als der junge Morgen, der sich einst in dem klaren Auge Lessing's spiegelte und durch dessen weichende Frühnebel der rasselnde Schritt des eisernen Ritters von Berlichingen erklang, ist dieser die gleiche Erscheinung, die hässliche Brandröthe eines Zerstörungskampfes, das Blutmal am Himmel, das über der Stätte des Mordens und Brennens plündernder Vandalenhorden loht, es fehlt nicht an alten Fritzen, die im Sanssouci ihrer unerschütterlichen Kunsttheorieen zweifelnd die schönen, geraden Terrassen und Orangerieen abschreiten und sich kopfschüttelnd fragen: Was soll der Lärm?

      Verbrüderung aller nationalen Literaturen durch die Blutsgemeinschaft gleicher Methode für die Schwärmer, erscheint den Skeptikern der ganze Aufstand bei uns in Deutschland nur als der feige Abklatsch einer widerwärtigen Krankheitserscheinung im schlechteren, in alter Sünde absterbenden oder in unwissender Roheit der Halbbildung haltlos hin und her schwankenden Nachbarlande, und, dem Franzosen gleich, der das deutsche Bier als fremdes Gift verbannen möchte, wäre ihnen nichts lieber, als eine literarische Grenzsperre für alle fremden Einflüsse.

      Und endlich, was das Seltsamste ist: während die Einen glauben, der Reinheit ihrer Gesinnung und dem Genius poetischer Sittlichkeit nicht besser dienen zu können, als in dem Gewande der neuen Ritterschaft, meinen die Andern das Schwert gegen diese erheben zu müssen zum Schutze der unschuldigen Gemüther in der Welt, zum Schutze ihrer Söhne und Töchter, denen der weihende Tempel des dichterischen Ideals kein Sündenhaus werden soll und keine Schnapsschenke.

      Jeder Vernünftige sieht, dass unter dem einen Worte Realismus thatsächlich nicht immer das Gleiche verstanden wird und dass sich hier Begriffe mischen, die strenge Sonderung fordern. Es fehlt denn auch nicht an besonneneren Stimmen, die sich bemühen, Realismus in einer Weise zu definiren, die jeden gröberen Irrthum ausschliesst.

      Ich gebe diese Definition zunächst in möglichst allgemeiner Fassung wieder, um später den speciellen Punct herauszugreifen, dem ich eine eingehendere Betrachtung zu widmen gedenke.

      Die Basis unseres gesammten modernen Denkens bilden die Naturwissenschaften. Wir hören täglich mehr auf, die Welt und die Menschen nach metaphysischen Gesichtspuncten zu betrachten, die Erscheinungen der Natur selbst haben uns allmählich das Bild einer unerschütterlichen Gesetzmässigkeit alles kosmischen Geschehens eingeprägt, dessen letzte Gründe wir nicht kennen, von dessen lebendiger Bethätigung wir aber unausgesetzt Zeuge sind. Das vornehmste Object naturwissenschaftlicher Forschung ist dabei selbstverständlich der Mensch geblieben, und es ist der fortschreitenden Wissenschaft gelungen, über das Wesen seiner geistigen und körperlichen Existenz ein ausserordentlich grosses Thatsachenmaterial festzustellen, das noch mit jeder Stunde wächst, aber bereits jetzt von einer derartigen beweisenden Kraft ist, dass die gesammten älteren Vorstellungen, die sich die Menschheit von ihrer eigenen Natur auf Grund weniger exacter Forschung gebildet, in den entscheidendsten Puncten über den Haufen geworfen werden. Da, wo diese