eng verknotet hatten, bedeutete dieser Sturz nothwendig eine gänzliche Umbildung und Neugestaltung auch auf diesen verwandten Gebieten. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Religion, deren einseitig dogmatischer Theil durch die Naturwissenschaften zersetzt und zu völliger Umwandlung gezwungen wurde. Ein zweites Gebiet aber, das auch wesentlich in Frage kommt, ist die Poesie. Welche besondern Zwecke diese auch immer verfolgen mag und wie sehr sie in ihrem innersten Wesen sich von den exacten Naturwissenschaften unterscheiden mag, – eine Sonderung, die wir so wenig, wie die Sonderstellung einer vernünftigen Religion, antasten, – ganz unbezweifelbar hat sie unausgesetzt, um zu ihren besondern Zielen zu gelangen, mit Menschen und Naturerscheinungen zu thun und zwar, so fern sie im Geringsten gewissenhafte Poesie, also Poesie im echten und edeln Sinne und nicht ein Fabuliren für Kinder sein will, mit eben denselben Menschen und Naturerscheinungen, von denen die Wissenschaft uns gegenwärtig jenen Schatz sicherer Erkenntnisse darbietet. Nothwendig muss sie auch von letzteren Notiz nehmen und frühere irrige Grundanschauungen fahren lassen. Es kann ihr, was Jedermann einsieht, von dem Puncte ab, wo das Dasein von Gespenstern wissenschaftlich widerlegt ist, nicht mehr gestattet werden, dass sie zum Zwecke irgend welcher Aufklärung einen Geist aus dem Jenseits erscheinen lässt, weil sie sich sonst durchaus lächerlich und verächtlich machen würde. Es kann ihr, was zwar nicht so bekannt, aber ebenso wahr ist, auch nicht mehr ungerügt hingehen, wenn sie eine Psychologie bei den lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwerthet, die durch die Fortschritte der modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden als falsch dargethan ist. Eine Anpassung an die neuen Resultate der Forschung ist durchweg das Einfachste, was man verlangen kann. Der gesunde Realismus ermöglicht diese Anpassung. Indem er einerseits die hohen Güter der Poesie wahrt, ersetzt er andererseits die veralteten Grundanschauungen in geschicktem Umtausch durch neue, der exacten Wissenschaft entsprechende. Mit Genugthuung gewahrt er dabei, dass die neuen Stützen nicht nur relativ, sondern auch absolut besser sind, als die alten, und dass er bei Gelegenheit dieser Anpassung der Poesie ein frisches Lebensprincip zuführt, das nach vollkommener Eingewöhnung höchstwahrscheinlich ganz neue Blüthen am edeln Stamme des dichterischen Schaffens zeitigen wird, die vormals Niemand ahnen konnte. Das ist in abstracter Kürze die eigentlich verstandesgemässe Definition des Realismus.
So rund ausgesprochen, hat die Forderung, die darin liegt, alle Eigenschaften, um den Kritiker oder Dichter, dem die Poesie als ein leuchtendes Palladium der Menschheit, das jede Zeit auf den höchsten Platz ihres intellectuellen Könnens zu stellen verpflichtet sein soll, eine wahre Herzenssache ist, zu ernstem, wohlwollendem Nachdenken zu zwingen.
Angesichts der gestellten Wahl muss er die ganze, schwere Verantwortung empfinden, die in einem leichtsinnig heraufbeschworenen Streite zwischen Poesie und Naturwissenschaften läge. Er wird sich nicht stören an die werthlose Phrase, dass ein solcher Conflict nothwendig im Wesen der beiden Geistesgebiete begründet sei. Er wird vielmehr den Blick haften lassen auf den starken Meistern der Vergangenheit, auf dem heldenkühnen Ringen Schiller's, die Wahrheiten der Philosophie, die doch in der speciellen Form auch mit dem Wissen zusammen fiel, dem poetischen Ideal zu vermählen, auf dem unablässigen Forschen Göthe's, der in den Wahlverwandtschaften – fehlerhaft vielleicht, aber doch in sicherem Ahnen der Methode – die Arbeit des Forschers auf dem Gebiete der Seelenkunde im Dichterwerke zu verwerthen suchte, auf dem lichten Bau der physischen Weltbeschreibung des greisen Alexander von Humboldt, in deren kosmischem Rahmen unter der Form der dichterischen Naturanschauung die ganze Poesie mit Leichtigkeit eine Stelle gefunden hätte. Dürfen wir stehen bleiben, wo jene, denen die ganze Fülle unserer Offenbarung im Naturgebiete noch versagt war, unentwegt den Wanderstab zum Vorwärtsschreiten ansetzten? Gewiss steckt in den erhitzten Parteien des Tages die lebhafteste Neigung zu schwerem Kampfe; sollen wir die einzige noch mögliche Gelegenheit zur Versöhnung zurückweisen, – zu einer Versöhnung, die vielleicht zugleich einen Fortschritt für die Poesie bedeutet?
Ich meine, so, wie die Frage gestellt ist, giebt es nur eine Antwort. Es handelt sich nicht um Namen, um Nationalitäten, um Meister und Jünger einer Schule, sondern um zwei Dinge, die vor aller Augen sind: eine Wissenschaft, die energisch vorgeht und neue Begriffe schafft, und eine Literatur, die zurückbleibt, und mit Begriffen arbeitet, die keinen Sinn und Verstand mehr haben. Thatsächlich hat denn auch ein beträchtlicher Theil unserer modernen Dichter die richtige Antwort gefunden, und es kommt hier nicht darauf an, ob Dieser ernste und wohlüberlegte Entschlüsse daran angeknüpft oder Jener bloss in kindlicher Freude ein polizeiwidrig lautes Jubelgeschrei über sein findiges Genie dazu ausgestossen hat. Man hat sich geeinigt über den Satz: Wir müssen uns dem Naturforscher nähern, müssen unsere Ideen auf Grund seiner Resultate durchsehen und das Veraltete ausmerzen.
Das Erste, worauf man im Verfolgen dieses Gedankens kam, war ein Satz, der ebenso einfach und selbstverständlich war, wie er paradox klang. Jede poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linien des Natürlichen und Möglichen nicht zu überschreiten und die Dinge logisch sich entwickeln zu lassen, ist vom Standpuncte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen.
Daher der Name »Experimental-Roman«, und daher eine ungeheuerliche Begriffsverwirrung bei allen Kritikern und Poeten, die weder wussten, was man unter einem wissenschaftlichen Experimente, noch was man unter dichterischer Thätigkeit verstand. Der Mann, der das Wort populär gemacht hat, Zola, ist selbst unschuldig an der Verwirrung der Geister. Nur hat auch er den Fehler nebenher begangen, die Definition eines Kunstwerks als Experiment nicht einzuschränken durch die Worte »vom wissenschaftlichen Standpuncte aus«, womit alles klarer und einfacher wird. Vom moralischen Standpuncte beispielsweise will die Definition gar nichts besagen, denn was ist moralisch ein »Experiment«? Aber wissenschaftlich passt die Sache. Sehen wir das unheimliche Wort näher an.
Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften er sich möglichst genau ausmalt, durch die Macht der Umstände in alle möglichen Conflicte gerathen und unter Bethätigung jener Eigenschaften als Sieger oder Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen oder darin untergehen lässt, ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber, wie oben ausgesprochen ist, auch diese Menschen fallen in's Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagiren gegen äussere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen werthlosen Mischmasch herstellen will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen muss, ehe er an's Werk geht und Stoffe combinirt.
Wer sich die Mühe nehmen will, einen ganz flüchtigen Blick auf das Beste zu werfen, was Shakespeare oder Schiller oder Göthe geschaffen, der wird den Faden des psychologischen Experiments in jeder dieser Dichtungen klar durchschimmern sehen. Bloss jene Voraussetzungen waren vielfach etwas andere, und hier ist denn eben der Punct, wo der Einfluss der modernen Wissenschaft sich als ein neues Element geltend machen und der Realismus, dessen Theorie wir zugegeben haben, practisch werden soll. Es gilt, neue Prämissen für die weitern Experimente, die wir machen wollen, aufzustellen oder besser, sie uns von der Naturwissenschaft aufstellen zu lassen. Hier aber, beim Eintritt in die Praxis, wird die ganze Sache sehr schwierig. Wir haben bisheran einer allgemeinen Erörterung Raum gegeben. Der allgemeine Zustand des Denkens in unserer Zeit und des Verhältnisses von Poesie und Forschung zu einander hat uns ein Geständniss abgezwungen, indem er uns ein Dilemma zeigte, aus dem es nur einen Ausweg gab. Wir haben uns einverstanden erklärt mit der versöhnlichen Richtung eines gesunden Realismus und sind vorgedrungen bis an den Fleck, wo die Berührung der exacten Wissenschaften mit derjenigen Definition der Poesie, die von allen am wissenschaftlichsten klingt, endlich stattfinden soll. Alle Vorfragen sind damit erledigt, und ich trete jetzt an das heran, was eigentlich den Kern des Ganzen ausmacht und zugleich ein solches Gewebe ernster Schwierigkeiten aufweist, dass ich eine eingehende Betrachtung derselben für die nothwendige Basis jeder realistischen Dichtung sowohl, wie jeder realistischen Aesthetik halte.
Die Prämissen des poetischen Experiments: das sagt in einem Worte alles. Hier verknoten sich Naturwissenschaft und Poesie.
Wohlverstanden: diese Prämissen umschliessen nicht die Naturgeschichte