erworbenes Wissen darstellen, verhelfen ihm bloss in zweiter Instanz dazu, sein schöpferisches Wollen nach vernünftigen Gesetzen zu regeln und auch andern, nicht dichterisch Beanlagten durch das Medium der Logik einigermassen verständlich zu machen. Aber auch wenn wir alle Missverständnisse ausschliessen, bleibt die Sache immer noch sehr schwierig. Es mangelt zunächst gänzlich an brauchbaren Büchern, die dem Dichter einen vollkommenen Einblick in das verschaffen könnten, was ihm aus dem ungeheuren Bereiche der wissenschaftlichen Forschung über den Menschen zu wissen Noth thut. Die in ihren Resultaten so sehr werthvolle psychologische und physiologische Fachliteratur zeigt den Bestand des Materials nur in seiner äussersten Zersplitterung. Weit entfernt, die Arbeit des einsichtigen Dichters unter der Rubrik des psychologischen Experimentes entsprechend zu würdigen, zieht sich die Fachwissenschaft in den allermeisten Fällen vornehm zurück und überlässt die Verarbeitung ihres Materials für poetische Zwecke dem Philosophen, der unter zehn Fällen neunmal die Thatsachen unter dem Vorwande der Ordnung einfach fälscht. Statt der Wissenschaft Rechnung zu tragen, suchen schaffende Poesie wie Aesthetik dann ihre Prämissen durch Studium philosophischer Systeme zu gewinnen, und der Erfolg ist, dass wir unter dem Vorwande realistischer Annäherung an die Resultate der Forschung allenthalben einer Verherrlichung Hegel'scher Phrasen, Schopenhauer'scher Verbohrtheiten oder Hartmann'scher Willkür begegnen, die mit echter Wissensbasis wenig mehr zu schaffen haben, als die alten religiösen Ideen, so geistvoll sie auch im Einzelnen ersonnen sein mögen.
Eine Anzahl vorsichtiger Geister, besonders ausübender Poeten, verschmäht mit Recht diese schwankende Brücke und stürzt sich kühn in die Detailmasse des exacten Fachwissens. Der Erfolg zeigt eine ernstliche Gefahr auch bei diesem Unterfangen. Die wissenschaftliche Psychologie und Physiologie sind durch Gründe, die Jedermann kennt, gezwungen, ihre Studien überwiegend am erkrankten Organismus zu machen, sie decken sich fast durchweg mit Psychiatrie und Pathologie. Der Dichter nun, der sich in berechtigtem Wissensdrange bei ihnen direct unterrichten will, sieht sich ohne sein Zuthun in die Atmosphäre der Clinic hineingezogen, er beginnt sein Augenmerk mehr und mehr von seinem eigentlichen Gegenstande, dem Gesunden, allgemein Menschlichen hinweg dem Abnormen zuzuwenden, und unversehends füllt er im Bestreben, die Prämissen seiner realistischen Kunst zu beachten, die Seiten seiner Werke mit den Prämissen dieser Prämissen, mit dem Beobachtungsmateriale selbst, aus dem er Schlüsse ziehen sollte, – es entsteht jene Literatur des kranken Menschen, der Geistesstörungen, der schwierigen Entbindungen, der Gichtkranken, – kurz, das, was eine nicht kleine Zahl unwissender Leute sich überhaupt unter Realismus vorstellt.
Ich habe den Weg gezeigt, wie klar denkende Dichter auf diese Linie gerathen können, und bin weit davon entfernt, das blöde Gelächter der Menge bei Beurtheilung derselben zu theilen. Es sind keineswegs die kleinen, rasch zufriedenen Geister, die in solche heroischen Irrthümer verfallen, und der still vergnügte Poet, der im einsamen Kämmerlein von Sinnen und Minnen träumt, hat für gewöhnlich nur sehr problematische Kenntniss davon, welcher Riesenarbeit sich gerade der dichtende Genius unterzieht, der im treibenden Banne seiner Gedanken bis zum Unschönsten, was die Welt im gebräuchlichen Sinne hat, dem Krankensaale, vordringt. Ein Irrthum bleibt die Einseitigkeit darum doch. Die Krankheit kann nicht verlangen, den Raum der Gesundheit für sich in Anspruch nehmen zu wollen, das unausgesetzte Experimentiren mit dem Pathologischen, also dem ganz ausschliesslich Individuellen, das eine Ausnahme vom normalen Allgemeinzustande bildet, nimmt der Poesie ihren eigentlichsten Charakter und verführt den Leser zu Irrthümern aller Art, die hinterher den ganzen Realismus treffen.
Ich halte es angesichts all' dieser Gefahren für durchaus an der Zeit, in einer übersichtlichen Darstellung diejenigen Puncte herauszuheben, die eigentlich in der Gesammtfülle des modernen naturwissenschaftlichen Materials als wahre Prämissen seiner Kunst den Dichter unmittelbar angehen. Ich möchte dabei ebensoweit von philosophischer Verwässerung wie von fachwissenschaftlicher Detailüberlastung entfernt bleiben. Was sich als Resultat der bisherigen objectiven Forschung ergiebt, möchte ich unter dem beständig beibehaltenen Gesichtspuncte der dichterischen Verwerthung klar darlegen. Das Metaphysische kann ich dabei nur streifen als nothwendigen Grenzbegriff des Physischen. Die Erkenntnisslehren der modernen Naturwissenschaft sind, wie schon gesagt, bisher in die weiten Kreise fast stets als Beiwerk in gewissen Systemen, als Stütze materialistischer oder pessimistischer oder sonst irgendwie auf einen Glauben getaufter Weltanschauungen verbreitet worden. All' diesen Bestrebungen stehe ich durchaus fern. Was der Poet sich über das innerste Wesen der kosmischen Erscheinungen denkt, ist seine Sache. Die Puncte, um die es sich für mich handelt, sind als Wissensgrundlagen massgebend für Alle, so gut wie das Wasser das Product zweier Elemente, des Wasserstoffs und des Sauerstoffs, für jeden vernünftigen Menschen bleibt, mag er nun im Puncte des Gemüthes Christ oder Jude oder Mohammedaner sein oder die heilige Materie anbeten.
Es giebt Dinge darunter, die den Dichter stärker machen werden, als seine Vorgänger waren, wenn er sie in der rechten Weise beachtet. Es giebt auch Dinge, die ein zweischneidiges Schwert sind und mit aller Vorsicht behandelt werden wollen. Im Grossen und Ganzen kann ich nur sagen: eine echte realistische Dichtung ist kein leichter Scherz, es ist eine harte Arbeit. Die grossen Dichter vor uns haben das sämmtlich empfunden, die kommende Generation wird es möglicher Weise noch mehr fühlen. Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspuncte, – das ist zugleich das Höchste und das Schwerste, was der Genius schaffen kann. Wie so der Mensch Gott wird, ist darin enthalten, – aber es wird jederzeit auch darin sich offenbaren, wie so er Gottes Knecht ist. Das Erhebendste dabei ist der Gedanke, dass die Kunst mit der Wissenschaft empor steigt. Wenn das nicht werden sollte, wenn diese Beiden fortan im Kampfe beharren sollten, wenn Ideal und Wirklichkeit sich gegenseitig ermatten sollten in hoffnungslosem, versöhnungslosem Zwiste: dann wären die Gegenwart, wie die Zukunft ein ödes Revier und die Mystiker hätten Recht, die vom Aufleben der Vergangenheit träumen. Es ist in Wahrheit nicht so. Ein gesunder Realismus genügt zur Versöhnung, und er erwächst uns von selbst aus dem Nebeneinanderschreiten der beiden grossen menschlichen Geistesgebiete. Dichtung um Dichtung, ästhetische Arbeit um ästhetische Arbeit, alle nach derselben Richtung gestimmt, müssen den Sieg anbahnen. Die rohe Brutalität, von der hitzige Köpfe träumen, wollen wir dabei gern entbehren, – ich meine, die Wissenschaft ist dazu viel zu ernst und die Kunst viel zu sehr der Liebe und des klaren, blauen, herzerwärmenden Frühlingshimmels bedürftig.
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