konnte oll Vadder Hinrich sämtliche Koffer auf Schubkarren zur Dampferstation hinunterbefördern. Tante Lenchen ging mit, um Fahrkarten zu lösen. Doktors Nesthäkchen, ihr getreuer Schatten heute, hinterdrein.
Während Tante Lenchen Fahrkarten nahm, hörte Annemarie, die ihre Augen und Ohren überall hatte, das Telephon anläuten.
»Also letzter Dampfer heute nacht um halb zwei, morgen werden keine Schiffe mehr abgelassen,« deutlich vernahm sie, wie der Beamte die Meldung wiederholte.
»Tante Lenchen,« Annemarie zupfte sie erregt am Blusenärmel, »wir können morgen früh nicht fahren, es geht kein Schiff mehr. Heute nacht geht das letzte, hat der Mann eben gesagt – aber da schlafen wir doch!«
»Hast du dich auch nicht verhört, Annemarie, hat er auch nicht morgen mittag um halb zwei gemeint?« forschte die Dame in größter Aufregung.
»Nee – nee – ich hab’s deutlich gehört, aber Sie können ihn ja lieber selbst noch mal fragen.
Das tat Tante Lenchen denn auch. Es stimmte – nachts um halb zwei ging der letzte Dampfer nach dem Festlande. Von morgen an hatte die Regierung alle Schiffe beschlagnahmt.
»Was machen wir denn nun bloß, Tante Lenchen – müssen wir nun für immer in Wittdün bleiben?« Doktors Nesthäkchen war das Weinen nahe.
»Wir müssen unbedingt heute nacht fort – wenn wir nach Hause kommen, essen wir sofort Abendbrot, und ihr legt euch schlafen. Um halb zwölf müßt ihr schon wieder aufstehen«, setzte Tante Lenchen der mit ihr um die Wette der Villa zujagenden Annemarie auseinander.
»Ach, du heiliger Bimbam, wenn ich nun nicht aufwache? Dann muß ich ja allein hier bleiben – – –«
»Ich wecke dich schon zurzeit, Herzchen«, beruhigte Tante Lenchen das aufgeregte Kind. Aber sie selbst war nicht viel ruhiger.
Keins der Kinder konnte heute Abendbrot essen vor lauter Unruhe. Dabei gab es die beliebte rote Grütze. Frau Kapitän schickte die drei sofort ins Bett, aber es dauerte lange, bis die kindlichen Gemüter sich soweit beruhigt hatten, um Schlummer zu finden.
»Also heute schlafe ich das letztemal auf Wittdün – lieber Gott, laß mich bloß nicht verschlafen – ach du Himmel, ich hab’ ja ganz vergessen, Mutter Antje und Vadder Hinrich Lebewohl zu sagen – also drei Stück Handgepäck habe ich: Mein Täschchen, mein Regenschirmchen und meine Gerda« – und da schlief Doktors Nesthäkchen endlich.
Inzwischen trafen die beiden Damen die letzten Vorbereitungen zur Reise. Sie füllten die Frühstückstaschen der Kinder mit belegten Broten und die Strandeimer mit Bananen. Da keins Abendbrot gegessen hatte, würden sie sicher unterwegs Hunger bekommen. Auch in ihre eigenen Handtaschen packten die Damen harte Eier, kalten Braten, Obst und eine Flasche Milch. Wer konnte denn wissen, ob sie auf der Reise etwas zu essen bekamen. Dann mußte das Haus versorgt werden. Die beiden Mädchen, Dörthe und Line, gingen nach dem Dorfe Nebel zu ihren Eltern zurück. Modder Antje und Vadder Hinrich blieben im Friesenhäuschen und hatten ein Auge auf Villa und Garten. Denn Frau Kapitän und Tante Lenchen beabsichtigten während der Kriegsdauer bei ihrem Bruder, der ein Gut in Pommern hatte, Aufenthalt zu nehmen. Keiner konnte wissen, wie lange sie ihrem lieben Hause am Nordseestrand fernbleiben mußten – vielleicht monatelang.
Die beiden Damen begaben sich gar nicht mehr zur Ruhe. Um halb zwölf weckten sie die Kinder. Das war ein schweres Stück Arbeit. Kurt allerdings war gleich wach, aber Annemarie konnte sich gar nicht ermuntern. Sie bat flehentlich, sie doch bloß noch ein bißchen schlafen zu lassen. Aber das ging heute nicht. Klein-Annekathrein weinte sogar vor Müdigkeit.
»Ihr könnt euch Zeit lassen, und noch ganz in Ruhe Kakao trinken«, sagte Frau Kapitän zu Annemarie, die, nachdem sie die erste Müdigkeit überwunden, nach kurzer Zeit in Hut und Mantel mit ihren drei Handgepäckstücken unten erschien.
Da wurde an die Tür gepocht. Es war oll Vadder Hinrich.
»Fru Kaptän,« selbst der Alte hatte seine gleichmütige Ruhe heute nicht ganz, »ick wollt man seggen (sagen), dat de Landungsbrück’ unten all swart (schon schwarz) von Menschens is. Un wenn de Fru Kaptän allüwerall (überhaupt) noch mitkummt, denn möten Se ’n büschen fixing tau maken (müssen Sie ein bißchen fix zumachen)!«
»Fort – wie wir gehen und stehen – habt ihr euer Handgepäck, Kinder – Gott befohlen, Line und Dörthe. – Annemarie, du hast ja deinen Bananeneimer stehen lassen. – Vadder Hinrich, Sie fahren wohl den Kurt im Rollstuhl zur Landungsbrücke hinunter – nur schnell, schnell –« da schlug auch schon die Tür von Villa Daheim hinter den Davoneilenden zu.
An der Gartenpforte erwartete sie Mutter Antje, trotz der mitternächtigen Stunde. Die treue Alte ließ es sich nicht nehmen, die beiden Damen und ihre kleinen Freunde zur Abfahrtsstelle zu begleiten. Sie belud sich mit sämtlichem Handgepäck.
Es war eine wunderbare Mondnacht. In lichtgrünem Schimmer glänzte das Meer, flüssiges Silber goß der Mond über die leichtbewegte See. Annemarie war noch nie zu so später Stunde draußen gewesen. Wie gespenstisch die weißen Dünen im Mondenschein aussahen, ordentlich geisterhaft. Wieder mußte Annemarie an die Wittdüner Sage von Silberhärchen denken.
Aber sie hatte nicht viel Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. In rasender Eile ging es hinunter zur Landungsbrücke. Die wimmelte bereits von Menschen, Kindern und Gepäckstücken. Wo kamen bloß all die Leute noch her, es waren doch schon so viele abgereist?!
Kurt wurde aus dem Rollstuhl gehoben. Vor Aufregung konnte er keinen Schritt gehen.
»Laten Se man, ick trag’ ihn ’n büschen nach vorn, bes (bis) an de Spitz von de Landungsbrück’, Fru Kaptän«, Vadder Hinrich bahnte sich einen Weg durch die Menschenflut. Die ließ den gelähmten Knaben auf dem Arm des Lotsen und die weißhaarige Frau Kapitän auch gutwillig durch, sie kamen ganz nach vorn.
Vor Tante Lenchen aber und den beiden kleinen Mädchen an ihrer Seite schloß sich die Menschenmauer wieder, sie wurden von der Frau Kapitän getrennt.
Wenn sie bloß alle mitkamen!
In wunderbarer Schöne stieg die Morgensonne aus den östlichen Meeresfluten, wie ein rosenroter Ball hing sie über dem weißen Wellengischt. Aber keiner hatte heute Augen für dieses herrliche Schauspiel. Alles spähte nur nach dem Schiff aus, das bereits in Sicht war.
Annemarie hakte ihren Bananeneimer und ihre Puppe auf dem Arm, Tasche und Schirm wollte ihr Mutter Antje später auf das Schiff reichen.
»Tante Lenchen, sehen Sie bloß, da kommt die Inselbahn noch mit tausend Menschen an, lieber Gott, wie sollen die bloß alle auf das Schiff hinaufgehen!« rief Annemarie ängstlich. »Aber wenn wir mit der Königin Luise fahren, dann holt mich bestimmt mein Freund, der Matrose Willem.«
Das Schiff legte an, es war nicht die Königin Luise. Die Menschenmassen drängten nach vorn. Jeder sah, daß das Schiff kaum die Hälfte fassen konnte, und keiner wollte zurückbleiben. Klein-Annekathrein fing an zu weinen, sie wurde beinahe zerquetscht. Tanke Lenchen nahm das Kind auf den Arm.
»Bleibe dicht an meiner Seite, Annemarie«, rief sie.
Ja, das war leichter gesagt, als getan.
In wahnsinniger Aufregung stürmte die Menschenmenge zum Schiff. Annemarie wurde von Tante Lenchens Seite gerissen und rückwärts aus der Landungsbrücke herausgedrängt.
»Ich fall’ ins Wasser – ich falle ja ins Wasser«, Doktors Nesthäkchen schrie wie am Spieß.
»Aber seien Sie doch vernünftig, meine Herrschaften, Sie können doch das brüllende Kind mit dem Bananeneimer nicht ins Meer stoßen«, rief ein Herr empört.
Nein, Annemarie fiel nicht ins Wasser, aber jemand anders lag plötzlich in den Meeresfluten – Puppe Gerda. Die war Annemarie bei dem furchtbaren Gedränge aus dem Arm gerissen worden.
»Meine Puppe – meine Gerda –« Doktors Nesthäkchen brüllte noch viel lauter.
Doch wer kümmerte sich in diesen