die Großmama sehen könnte, wie herrlich solch ein schöner Wintertag am Meer ist, dann würde sie ihre Ansicht wohl ändern«, dachte Annemarie. Grau und farblos hielt dagegen der Heiligabend in Berlin meist seinen Einzug.
»Heute ihr nicht uerden laufen mich davon, Kinders. Heute ihr uerden bleiben in das Gehorsam«, sagte Miß John halb ernst, halb scherzhaft, als sie sich auf den Weg machten.
Beide Kinder wurden rot. Dann aber kam ihnen gerade am heutigen Tage zum Bewußtsein, wie gnädig der Himmel ihnen beigestanden. Alle beide nahmen sich vor, ihre Dankbarkeit durch Fleiß und tadelloses Betragen zu beweisen. Das waren gute Gedanken am Weihnachtstage.
In dem Häuschen des Leuchtturmwächters setzte die hellzöpfige Christel die Weihnachtsgrütze ans Feuer. Ein kleines Bäumchen, mit wenigen Lichtchen besteckt, wartete auf die Heimkehr des Vaters. Darunter lagen ein paar wollene Strümpfe, welche das fleißige Mädchen für den Vater gestrickt hatte. Ob sie selbst wohl auch etwas zu Weihnachten erhalten würde? Christel glaubte es nicht. Der Vater hatte die letzte Zeit schweren Dienst gehabt, er war kaum aus seinem Turm herausgekommen. Die Mutter war schon lange tot, und irgendwelche Verwandte, die an sie denken konnten, besaß sie nicht.
»Ja, wir zwei werden woll heut’ leer ausgehen, Miesebrecht, uns schenkt keiner was«, meinte sie ein wenig schwermütig zu dem schwarzen Kater, der zu ihren Füßen schnurrte.
Da ward die Tür geöffnet – nur eine schmale Spalte – herein schob sich ein Körbchen, wie durch Geisterhand. Und noch eins – ganz still stand die Christel, sie wagte sich nicht zu rühren.
Waren das die guten Onnerbankjes, die Heinzelmännchen, welche frommen Kindern am Weihnachtsabend schon so manches Mal einen Wunsch erfüllt hatten?
»Fröhliche Weihnacht!« – tönte es zum Stübchen herein. Das klang eigentlich ganz menschlich. Aber als die Christel jetzt beherzt aus der Tür trat, da war alles leer. Keine Menschenseele zu erblicken. Nun war die Leuchtturm-Christel ihrer Sache sicher. Kein anderer als die guten Onnerbankjes hatten ihr eine Weihnachtsüberraschung bereitet.
Das blonde Mädel ahnte nicht, daß hinter dem Holzschuppen zwei kleine Menschenkinder sich neben Miß John versteckt hielten, die jetzt zum Fenster schlichen, um die Freude der auspackenden Christel zu erspähen.
Ei, die schöne warme Jacke, die würde an Sturmtagen gut warm halten. Und die allerliebste Brosche, längst hatte sich die Christel eine gewünscht. Eine Sonntagsschürze aus feinem Battist – was, immer noch mehr? Bunte Zopfbänder – nein, auch noch ein Buch! – Wer anders sollte ihr das wohl alles geschenkt haben als die Heidemännlein! Das andere Körbchen war mit guten Eßwaren gefüllt: mit Äpfeln, Pfefferkuchen und Nüssen, Christstollen und einem leckeren Schinken. Diesen Korb umstrich Miesebrecht, der Kater, verständnisinnig. Sicher hatten die guten Onnerbankjes dabei auch an ihn gedacht.
Als Peter und Annemarie mit rosenroten Wangen und Näschen – denn es war tüchtig kalt geworden – aufs höchste befriedigt von ihrer Weihnachtswanderung heimkehrten, gab es für sie auch noch allerlei zu schaffen. Vadder Hinrich hatte für jedes der Kinder ein niedliches Tannenbäumchen aus der Heide geholt. Das durften sie sich selbst nach eigenem Geschmack schmücken. Gerda behängte den ihren mit bunten selbstgeflochtenen Papierketten, mit zierlichen Körbchen und rotbäckigen Äpfelchen. Auch Vronli und Gretli, Lothar und Klein-Annekathrein fanden einen recht bunten Baum am schönsten. Peter war nur für Silberlametta und vergoldete Tannenzapfen. Annemarie aber machte sich ein weißes Winterbäumchen. Nichts weiter als flimmernde Schneewatte und Lichter, so sah Großmamas Weihnachtsbaum immer aus, während der in Nesthäkchens Elternhaus glänzende Kugeln, flimmernde Sterne und allerlei Süßes für die drei Leckermäulchen zu tragen pflegte.
Nun standen all die Bäumchen fix und fertig da. Dörthe trug sie in das Weihnachtszimmer. Jedes Kind hatte dort sein Tischchen, auf dem die unausgepackten Pakete aus der Heimat lagen. Aber noch andere schöne Sachen waren darauf ausgebreitet. Doch – das darf ich ja noch nicht verraten!
Seit dem Tode ihres kleinen Knaben pflegte Frau Kapitän Clarsen alljährlich den Kindern der in den Wellen ums Leben gekommenen Lotsen, Schiffer und Fischer den Weihnachtsbaum anzuzünden und ihnen zu bescheren. Auch heute traten die kleinen flachsblonden Friesenkinder mit dem feierlich durch die Winterheide ziehenden Glockenklang zugleich an. Sorgsam traten sie sich draußen auf der Matte den Schnee von den Nagelschuhen. Dann schoben sie sich verlegen mit »Ick wünsch’ de Fru Kaptän ok ’n gesegnetes Fest« näher. Im Eßsaal ward für die kleinen Waisen der Weihnachtsbaum angezündet. Aber nicht nur seine Lichter waren es, die das Zimmer so festtäglich erstrahlen ließen. Die glücklichen Kinderaugen alle strahlten mit den Weihnachtskerzen um die Wette. Sie warfen ihren hellen Schein auch in das Herz der einsamen Frau mit den weißen Haaren und machten es froh und zufrieden.
Die Clarsenschen Kinder, die den armen Kleinen ebenfalls gern eine Freude machen wollten, hatten die Erlaubnis erhalten, daß jedes ein Stück von seinem Spielzeug herschenken durfte! Die meisten Mädelchen besaßen mehrere Puppen, da gaben sie den kleinen Blondköpfchen mit Freuden eine ab. Annemarie aber hatte nur ihre Gerda.
»Nein, Gerdachen, dich geb’ ich nicht weg, wir beide bleiben zusammen, bis wir alt und grau sind. Mit dir sollen meine Kinder und Enkelchen noch mal spielen«, sagte Doktors Nesthäkchen leise zu ihrer Puppe, die mit ängstlichen Glasaugen das unter ihren Spielsachen eine Auswahl treffende kleine Mädchen beobachtete. »Lieber gebe ich meinen großen Gasball oder eins meiner Märchenbücher.«
Mit »Vel (viel) Dank ok, Fru Kaptän«, schurrten die kleinen Füßchen wieder aus dem Hause hinaus.
Nun endlich kam die Bescherung für die Bewohner der Villa. Die Kinder konnten es schon gar nicht mehr erwarten. Als die Weihnachtsklingel erklang und die Türen zum Zimmer der Frau Kapitän, das die Zöglinge sonst nur selten betraten, sich öffneten, wagten sie sich zuerst nicht näher. Viele Tischchen standen in dem geräumigen Zimmer, und auf jedem flammte das selbstgeputzte Weihnachtsbäumchen. Ganz anders als zu Hause sah es aus und doch – als Fräulein Mahldorf am Klavier jetzt »Stille Nacht, heilige Nacht« anschlug, und alles mit heller Stimme einfiel, da hatte kein Kind das Gefühl, in der Fremde zu sein. Dasselbe Lied sangen jetzt die Eltern und Geschwister daheim, die Klänge des Weihnachtsliedes verbanden sie mit ihren Lieben in der Ferne.
Kaum war der letzte Ton verzittert, so war auch kein Halten mehr. Ein jedes stürzte zu seinem Tischchen, das es an dem Weihnachtsbäumchen herauserkannte. Aber noch immer wurden die verheißungsvoll umfangreichen Pakete aus der Heimat nicht geöffnet. Da lag noch so manches, was erst noch mit Jubel in Empfang genommen werden mußte. Jedem der kleinen Mädchen hatte Frau Kapitän einen Bernsteinanhänger an einem Kettchen zur Erinnerung geschenkt. Von Tante Lenchen bekamen sie ein Album mit Ansichten der Insel Amrum. Fräulein Mahldorf hatte ihnen »Friesische Sagen und Märchen« aufgebaut, und selbst Miß John hatte auf jedes Tischchen ein Päckchen Schokolade gelegt. Das war ein Glück, ein Freuen und sich Bedanken. Dann aber ging’s an die Heimatskiste. Die Papiere und Schnüre flogen, glückselige Ausrufe begleiteten ein jedes Stück, das den Tiefen der Kisten entstieg.
»Ein Täschchen – ein Sonntagskleid – ach, die entzückenden Schuhchen – Hurra, ich hab’ den Rodelschlitten, den ich mir gewünscht – und ich die Markensammlung. – Tante Lenchen, sehen Sie bloß mal, eine richtige Uhr« – so ging das hin und her.
Frau Kapitän und Tante Lenchen hatten die Gabe, sich mit jedem der Kleinen mit zu freuen. Vor soviel Kinderglück mußte jede trübe Erinnerung, die gerade an festlichen Tagen des Jahres ihre Stimme besonders laut zu erheben pflegt, verstummen.
Aber die Damen selbst gingen auch nicht leer aus. In der Handarbeitsstunde bei Fräulein Mahldorf hatten die Mädelchen alle für Frau Kapitän und für Tante Lenchen emsig gestichelt. Kissen und Deckchen, Körbchen und Läufer waren da entstanden, mit denen die so treu für sie Sorgenden erfreut wurden.
Inzwischen hatte Frau Kapitän ihren Dienstboten, Line und Dörthe, den Weihnachten beschert. Auch in den Heimatspaketen der Kinder fand sich eine nette Kleinigkeit für die Mädchen des Hauses. Außerdem war es Sitte, daß die Zöglinge jedem Mädchen drei Mark gaben. Von ihrem Taschengelde, das Frau Kapitän für die Kinder verwaltete,