Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Seefahrern gehört hätte, fand Wattlaufen nicht weniger schön.

      »Aber nicht länger als eine Stunde, es wird früh Nacht,« rief Tante Lenchen, die mit Fräulein Mahldorf und Gerda in der Heide zurückblieb, den unter Aufsicht von Miß John Davoneilenden nach.

      Im Nu waren Schuh und Strümpfe ausgezogen. Da standen sie auch schon an der meilenweit sich erstreckenden braunen Flur, die jetzt während der Ebbe vollständig wasserfrei vor ihnen lag. Bei zurückkehrender Flut wurde alles wieder zum Wattenmeer.

      Herrlich war es, barfuß auf dem feuchtwarmen Boden dahinzulaufen. Die Kinder spielten Haschen und andere lustige Spiele. Dabei kam es auch vor, daß eins plötzlich laut aufschrie, wenn es sich an einer Muschel geritzt oder unvermutet auf eine Qualle getreten. Aber das erhöhte das Vergnügen nur noch.

      »Kinders, ihr mußt passen auf, nicht zu gehen zu fern, wir mussen sein punktlich zuruck,« vergeblich rief Miß John es hinter den in ungebundener Freiheit sich Tummelnden her.

      Hallo – da gab es ja Krabben in Unmengen, die das Meer zurückgelassen hatte. Eiligst wurden Hüte und Mützen damit gefüllt, denn ein Krabbengericht war ein beliebtes Abendbrot in Wittdün.

      »Kinders, jetzt wir gehen zuruck. Es ist an die Zeit, Tante Lenchen ist wartend auf uns,« damit machte Miß John energisch kehrt.

      Die übermütigen Krabben ließen ihren Krabbenfang in Stich und folgten, wenn auch schweren Herzens, der Engländerin.

      Nur zwei waren wieder mal ungehorsam. Peter und Annemarie.

      »Wir können ruhig noch ein Stück weiter gehen,« überredete Peter seine kleine Kameradin bei allen dummen Streichen. »Wir laufen ja viel schneller als Miß John. Wenn wir nachher zurückrennen, holen wir sie längst noch ein.«

      »Ach nee, Tante Lenchen wird böse sein,« wandte Annemarie ein, die erst vor wenigen Tagen versprochen hatte, von nun an immer brav zu sein.

      »Merkt sie doch überhaupt gar nicht, du Schafskopf. Wir kommen bestimmt zu gleicher Zeit mit den anderen zurück. Aber wenn du nicht willst, dann laß es bleiben! Dann suche ich eben allein nach den silbernen Schwertern und den goldenen Ringen der Wikinger.« Peter glaubte nämlich fest und steif, daß hier auf dem Watt, wo das Meer allerlei heranspülte, auch noch Schmuckstücke der alten Wikinger zu finden sein müßten.

      Annemaries Schwanken war besiegt. Einen Ring wünschte sich das Putzlieschen schon lange. Was würde bloß Gerda sagen, wenn sie mit einem goldenen Wikinger Ring zurückkam! Peter dagegen hoffte bestimmt, ein silbernes Schwert zu finden.

      Glänzte es da nicht golden in der braunen Erde? Ach nein, das war nur ein Stückchen Bernstein, welches das Meer herangeschwemmt. Aber dort – nein, da – noch ein Stückchen mehr nach links, dort flimmerte es doch silbern – wieder nichts, nur ein feuchter, in der Sonne blitzender Stein hatte sie gelockt. Immer weiter und weiter eilten die Kinder, sie wollten, sie mußten doch irgend etwas finden.

      Keins von ihnen sah, daß die Sonne sich verkrochen hatte, daß schweres, schwarzes Gewölk von Nordwest heraufzog. Der Sturm begann sein wildes Lied zu blasen, tüchtig zauste er die bösen Kinder bei den Haaren.

      »Peter – wir müssen umkehren! Es ist gar nichts mehr von Miß John und den übrigen zu sehen«, ängstlich rief es Annemarie, tiefaufatmend mit erhitzten Wangen stehen bleibend. Ihr kam plötzlich ihr Ungehorsam jäh zum Bewußtsein.

      Der Junge machte widerwillig halt. Sein Dickschädel ging nur schwer von etwas ab, was er sich mal in den Kopf gesetzt.

      »Meinst du wirklich?« Peter zögerte noch immer.

      Aber was war das? Ein Heulen, ein Brausen und Tosen plötzlich in den Lüften – war das nur der Sturm? Große Tropfen schlugen vom gelblich düsteren Himmel und durchnäßten die Kinder im Umsehen. Wie ein Wirbel packte sie der Nordwest, daß sie kaum die Augen zu öffnen vermochten.

      Da – wieder dieses Heulen und Brausen – und jetzt ein deutliches Gurgeln und Wogen dazwischen – – –

      »Peter – Peter – die Flut kommt!« entsetzt schrie es Annemarie in das Toben der Elemente hinein.

      »Schnell zurück zum Strand!« Der kräftigere Junge packte das zarte Mädel, das sich kaum vor der Gewalt des Nordseesturmes aufrechthalten konnte und zog es mit sich fort.

      Ja, wo war der Strand? Sie wußten es alle beide nicht mehr. Bei dem Kreuz-und Querlaufen hatten sie vollständig die Richtung verloren. Nichts wie eine unendlich weite braune Fläche ringsum, wohin sie auch blickten, und da – wieder das Gurgeln und Brausen, nicht nur hinter ihnen, nein, von allen Seiten kam die Flut.

      »Lieber Gott – strafe uns nicht so sehr für unseren Ungehorsam!« weinend, mit erbleichenden Lippen betete es Doktors Nesthäkchen, während es sich von Peter vorwärts ziehen ließ.

      Die Erde unter ihren nackten Füßen quietschte vor Nässe. Aus dem Boden heraus sprangen die Wasser, schon überspülten kleine Sturzwellen ihre Füße bis zum Knöchel.

      »Ich glaube wir laufen in verkehrter Richtung – wir laufen der Flut noch entgegen!« auch Peter, dem so leicht nicht bange zumute wurde, war jetzt leichenblaß.

      Wieder wurde kehrt gemacht – aber nein, da wälzten sich ja schon die schwarzgrünen Wogen brausend und unheilvoll wie eine furchtbare, alles niederreißende Mauer aus der Ferne auf sie zu – »zurück – zurück, das Meer kommt!« wie gejagt eilten die Kinder über den glitscherigen Boden vor der sie verfolgenden, hinter ihnen her brüllenden Brandung davon.

      »Der Quallenkönig – der Quallenkönig nimmt Rache, daß wir seiner zu spotten gewagt haben!« war das noch der mutige Peter, der da mit schlotternden Knien vor dem sicheren Verderben Reißaus nahm?

      »Mutti – Mutti – iii – – –« Annemarie schrie es wie am Spieße.

      Ach, Mutti war weit. Die hörte den Angstschrei ihrer Lotte nicht. Die ahnte nicht, daß ihr Nesthäkchen in diesem Augenblick in Todesgefahr schwebte.

      Immer dunkler wurde es – durch das Unwetter zog der Oktoberabend früher als sonst herauf. Die Kräfte der Kinder erlahmten allmählich, die Füße erstarrten in der kalten Nässe. Aber weiter, nur immer weiter – daß die hinter ihnen herrasende Sturmflut, die donnernde und brausende, sie nicht packte!

      War denn noch immer kein Strand zu sehen? Endlos dünkte sie die braune Ebene, die sie durchjagten. Kaum ließ sich mehr Boden von Wasser unterscheiden. Schwarz alles ringsum.

      Ein Licht – jäh durchbrach es plötzlich die Finsternis. Noch einmal tauchte es auf, und wieder – dann alles dunkel wie zuvor.

      Barmherziger Himmel – war das ein Irrlicht? Einer von den bösen Geistern, welche die schlechten Menschen ins Heidemoor locken, wo sie elend umkommen müssen? Oft genug hatte Mutter Antje den Stadtkindern davon erzählt.

      Jetzt wieder das hellaufstrahlende Licht, blitzartig durch die Nacht zuckend – »Annemarie, das ist ja das Blinkfeuer des Amrumer Leuchtturms!« Peters Stimme klang vor Aufregung heiser, und doch zitterte verhaltener Jubel durch.

      »Flink – flink – Annemarie, gar nicht weit mehr scheint das Blinkfeuer, wir müssen gleich am Strande sein!«

      Es war auch die höchste Zeit. Denn das bei weitem schwächlichere Mädchen war mit seinen Kräften am Ende. Noch ein paar Schritte, dann sank es aufs tiefste ermattet zur Erde.

      Aber was war das? Das war doch nicht mehr der nasse, glitscherige Wattboden – in trockenes Heidekraut griffen Annemaries Hände. Sie waren wieder auf dem Festland – hinter ihnen brüllte in ohnmächtiger Wut das entfesselte Wattenmeer.

      »Lieber Gott, ich danke dir« – kaum vermochte Annemarie noch diesen Gedanken zu fassen. Auch der schlimme Peter stand, immer noch zitternd, mit gefalteten Händen neben ihr. Zu nah war das Verderben an ihnen vorübergeschritten.

      Eine empfindliche Kälte machte sich nach dem fieberhaften Hasten in den durchnäßten Kleidern bald fühlbar. Sie mußten weiter, wenn sie sich nicht auf den Tod erkälten wollten.