Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


Скачать книгу

      Zum Zureden war es zu spät – der »Ersatzmann« mußte vor.

      »Annemarie, schnell, du mußt den Vers sprechen – wo ist Annemarie?« in höchster Aufregung flüsterte es Tante Lenchen ihren Zöglingen zu. Denn schon hatte Prinzessin Heinrich vor der blumengeschmückten Kinderschar haltgemacht.

      Die Backfische waren zur Seite getreten, um Annemarie, von der sie annahmen, daß sie noch hinter ihnen stände, vortreten zu lassen. Aber keine Annemarie erschien, die klammerte sich hoch oben fest an ihrem Segelmast – sollte sie sich zu erkennen geben?

      »Annemarie Braun« – das war die Stimme der Frau Kapitän – der mußte unbedingt Gehorsam geleistet werden.

      »Hier bin ich« – erklang es zur allgemeinen Verwunderung aus der Höhe in die beklemmende Stille hinein. Und da kam es auch schon wie der Wind den Segelmast herabgerutscht, gerade zu Füßen der Prinzessin Heinrich.

      Mit zerdrücktem und beschmutztem Stickereikleid, mit schiefem Rosenkranz, glühenden Wangen und schallender Stimme begann Doktors Nesthäkchen:

      »Im freundlichen, meerumkränzten Wittdün,

       Mit seiner Dünen sanftem Grün,

       Die sich wie erstarrte Wellen von Sand

       Erheben über den weißen Strand,

       Mit seinen Möwen, den schwebenden, schnellen,

       Lieblichen, schlanken Gespielen der Wellen,

       Wohin zu uns den Weg du genommen,

       Sei, hohe Frau, von Herzen willkommen!«

      Ihre Königliche Hoheit konnte nicht ernst bleiben. Viele feierliche Empfänge waren ihr schon in ihrem Leben bereitet worden, aber ein derartiger doch noch nicht. Sie verbarg das lachende Gesicht in dem Rosenstrauß, den Klein-Annekathrein sich nun doch noch zu überreichen bequemte.

      Dann aber wandte sie sich freundlich zu dem reizenden Blondkopf: »Du hast deine Sache ja sehr schön gemacht – ich danke dir für dein Willkommen, mein Kind.« Die Prinzessin reichte Doktors Nesthäkchen die Hand, die diese als wohlerzogenes Mädchen mit einem tiefen Knicks an die Lippen zog. Nur schade, daß dabei nun auch noch die schönen weißen Handschuhe Ihrer Königlichen Hoheit mit dem Staub und Ruß des Segelmastes Bekanntschaft machen mußten, denn Annemaries Hände sahen lustig aus. Die Prinzessin aber schritt unter den lauten Hurrarufen der übrigen Kinder dem Kurhaus zu.

      Was nützten alle Vorwürfe und nachträglichen Ermahnungen jetzt noch? Frau Kapitän, Tante Lenchen und Mutti, die natürlich von der merkwürdigen Begrüßung ihres Töchterchens erfuhr, ließen es daran nicht fehlen. Leider aber muß ich berichten, daß Annemarie sich dieselben gar nicht sehr zu Herzen nahm. Die Prinzessin war ja so freundlich zu ihr gewesen – einen Handkuß hatte sie ihr sogar geben dürfen!

      Oll Modder Antje und Doktors Nesthäkchen, das waren heute die beiden Stolzesten auf ganz Wittdün.

      14. Kapitel

       Böse Freundschaft

       Inhaltsverzeichnis

      Die großen Sommerferien waren zu Ende – Wittdün leerte sich. Nur vereinzelt blieben noch Kurgäste zurück, die wußten, daß die klaren Herbsttage mit ihrem wunderbaren Farbenspiel die schönsten am Meere sind.

      Auch Frau Doktor Braun war abgereist. Die Scheidestunde, vor der sie sich die ganzen Wochen ihres Wittdüner Aufenthaltes gefürchtet hatte, ging besser vorüber, als sie gedacht. Annemarie hatte ihren Vorsatz, nach Berlin mit zurückzukehren, vollständig vergessen. Es war ja so herrlich im Wittdüner Kinderheim! Freilich, wenn Mutti immer dageblieben wäre, dann würde es noch viel schöner gewesen sein. Aber Doktors Nesthäkchen war vernünftig genug, einzusehen, daß der Vater und die Brüder nun auch die Mutter wieder daheim haben wollten. Und sie hatte ja Tante Lenchen hier und auch oll Modder Antje, die gütig wie eine Großmutter zu dem fremden Stadtkinde war. Nach Vater hatte sie ja dolle Sehnsucht, aber statt der Brüder hatte sie so lustige Gesellschaft hier, daß sie die kaum entbehrte. Besonders der wilde Klaus ward aufs beste von dem ungezogenen Peter vertreten.

      So wurde der Mutter der Abschied schwerer als ihrer Lotte selbst.

      »In einem Jahr bin ich doch wieder zu Haus – ein Jahr ist ja gar nicht lang, Muttichen«, jetzt war es Annemarie, welche die Mutter tröstete. Immer wieder drückte Frau Doktor Braun feuchten Auges ihr Nesthäkchen ans Herz, ehe sie sich dazu entschließen konnte, den Dampfer zu besteigen. Ein Jahr ist gar nicht lang – für ein sorgloses Kindergemüt wohl nicht, aber einer Mutter, die sich von ihrem Kinde trennen soll, erscheint es endlos.

      »Grüß’ Vatchen und die Jungs, und Großmama und Hanne, und Tante Albertinchen und Puck, auch Margot und Fräulein, wenn sie mal zu Besuch kommt – grüß’ ganz Berlin – auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« so brüllte Doktors Nesthäkchen hinter dem in See stechenden Schiff her und ließ ihr Taschentuch ganz fidel in der Meeresbrise flattern. Und alle Kinder des Clarsenschen Heims standen oben auf der Düne, wehten mit ihren weißen Tüchern und schrien ebenfalls: »Auf Wiedersehen!«

      Die schwimmenden Augen der Mutter konnten bald ihre Lotte nicht mehr aus dem Kinderknäuel herauserkennen. Die aber balgte sich bereits, trotzdem das Schiff noch nicht einmal ihren Augen entschwunden war, mit Peter in dem weißen Sande herum. Mit dem Schlingel verband sie neuerdings nämlich eine innige Freundschaft – leider.

      Die sanfte Gerda bildete zum Glück das Gegengewicht gegen den durchtriebenen Strick. Solange Annemarie mit Gerda zusammensaß, war sie das bravste Kind, das man sich denken konnte. Aber immer war Annemarie nicht zum Puppenspiel, zum Gärtchenbauen und Muschelverkauf aufgelegt. Ab und zu wollte auch der Wildfang in ihr sein Recht haben, besonders mit den wiederkehrenden Kräften. Dann kam ihr der Peter stets sehr gelegen.

      Selbst in den Unterrichtsstunden, an denen jetzt auch Annemarie teilnahm, machte sich Peters böser Einfluß bemerkbar. Annemarie Braun war stets in Berlin eine gute Schülerin gewesen. Nur durch ihr lebhaftes Wesen und durch ihre Unordentlichkeit hatte sie nicht immer den ersten Platz behaupten können. Auch hier in Wittdün war sie bald eine der besten. Klassen gab es dort nicht, dazu waren zu wenig Kinder. Mädchen und Jungen wurden in Rechnen, Religion, Geschichte und Geographie zusammen unterrichtet. Diese Lehrstunden gab Herr Jessen, der Lehrer der dortigen Schule. Das war ein freundlicher, kurzsichtiger Herr, der so begeistert von seinem Lehrstoff war, daß er in seiner Kurzsichtigkeit nicht bemerkte, wenn einzelne Schüler inzwischen Dummheiten trieben. Dies machte sich der Peter natürlich zunutze. And leider verführte er auch Annemarie öfters dazu.

      Deutsch und Französisch, das Annemarie auch seit kurzem trieb, gab Fräulein Mahldorf. Sprachunterricht hatten die Großen getrennt von den Kleinen. Fräulein Mahldorf wußte sich bei all ihrer Liebenswürdigkeit durchaus in Respekt zu setzen. Selbst die Jungen wagten nicht bei ihr zu mucksen. Umso toller trieb man es in der englischen Stunde bei Miß John. Das fehlerhafte Deutsch der Engländerin gab stets Lachstoff, und wenn Kinder erst lachen, dann ist es leicht mit dem Respekt vorbei.

      Annemarie sollte eigentlich noch gar keinen englischen Unterricht mitnehmen, sondern die Zeit lieber im Freien zubringen. Aber da man sich so gut bei Miß John amüsierte, fand sie sich auch regelmäßig zur Stunde ein. Miß John freute sich über den Eifer des kleinen Mädchens, das bei seiner guten Auffassungsgabe eine ganze Menge lernte.

      Es war in der Geographiestunde. Der Zeigestock des Herrn Jessen reiste auf der Landkarte von Afrika umher, während die Gedanken einiger seiner Schüler andere Wege einschlugen. Peter, der seinen Platz hinter Annemarie hatte, zupfte sie an einem ihrer blonden Rattenschwänzchen.

      »Du, laß das, sonst sag’ ich’s Herrn Jessen«, das Läuten an ihren Zöpfen war der Kleinen nun mal ein Dorn im Auge. Darum tat es der Peter auch stets.

      »Petze!« sagte der Junge und weiter nichts. Aber nach einem Weilchen begann er doch wieder: »Du, Annemarie, ich weiß was.«

      Annemarie war von Natur aus ziemlich neugierig.