aus der Schulstube. Ein jedes griff nach seinem schon auf der Anrichte bereitlegenden Frühstückskörbchen und holte sein Badezeug, Sandschaufeln und Schiffchen. Dann wurde wieder zu Zweien angetreten, Annemarie natürlich Arm in Arm mit Gerda. Als der Zug sich eben unter Führung von Fräulein Mahldorf, einer liebenswürdigen jungen Dame, in Bewegung setzen wollte, fehlte Annemarie.
»Sie ist bloß noch mal schnell nach oben gelaufen, ihr Badezeug holen, das hatte sie vergessen«, berichtete ihre neue Freundin Gerda.
Da kam Annemarie auch schon wieder zurück, natürlich das Treppengeländer herabgesaust.
»Wildfang«, schalt die Erzieherin lächelnd. »Ein kleines Mädchen geht hübsch manierlich die Stufen herunter.«
Die anderen Mädchen lachten, und die Jungen quiekten Beifall.
»Annemarie, du kannst deinen Badeanzug zu Hause lassen«, Tante Lenchen, ihren grünseidenen Sonnenschirm in der Hand, trat aus Frau Kapitäns Wohnzimmer. »Du sollst die ersten vierzehn Tage noch nicht baden.«
»Och – ttt –« Annemarie schnalzte unzufrieden mit der Zunge. »Wenn die anderen Kinder baden, will ich auch. Wozu habe ich denn sonst den hübschen, blauen Badeanzug mit dem Anker bekommen?!« Schweren Herzens bequemte sie sich dazu, ihn zu Hause zu lassen, denn er hatte an Annemaries Badelust eigentlich mehr Anteil als die Nordsee selbst.
Tante Lenchen tat, als hätte sie die unartigen Worte nicht gehört. Man darf ein Kind nicht gleich am ersten Tage durch zuviel Ermahnen kopfscheu machen. Aber daß Doktor Brauns Nesthäkchen bei allem bestrickenden Liebreiz ein recht verzogenes kleines Fräulein war, das wurde ihr allmählich klar.
Einsilbig trottete Annemarie in ihren grauen Höschen neben Gerda dem Strande zu. Auch die anderen Kinder, wenigstens die kleineren, trugen sämtlichst dieses praktische Kleidungsstück. Nicht mal auf Mutti freute sich die Annemarie mehr. Der Schmerz um den neuen Badeanzug, den sie noch nicht einweihen durfte, wirkte zu niederdrückend. Vergeblich plauderte der rotblonde Lockenkopf neben ihr von allem, was heute in der Schulstunde durchgenommen worden. Die Neue blieb mucksch.
»Du, Annemarie, denk’ mal, ich bin schon zwei Jahre in Wittdün und darf überhaupt nicht baden.« Ganz schlicht, nicht einmal traurig klang’s von Gerdas Lippen. Und doch machten diese einfachen Worte den allertiefsten Eindruck auf Annemarie. War sie nicht ein ganz undankbares Kind?
Bei dieser Erkenntnis flog der häßliche Schatten, der ihr Gesicht verdüstert, rasch davon. Mit einem hellen Jubellaut konnte Annemarie jetzt von den Dünen herab der unten am Strand nach ihr ausschauenden Mutter entgegeneilen.
»Mutti – fein ist’s im Kinderheim – ich wohne mit der Gerda Eberhard zusammen, die ist meine neue Freundin, aber sie muß immer humpeln – und heute morgen habe ich aus Mutter Antjes Brauttasse Schokolade getrunken – ach, das süße Friesenhäuschen mußt du dir auch mal angucken. Mutter Antje sieht aus wie eine Spreewälderin. And weißt du, warum unsere Frau Kapitän weiße Haare hat? Weil ihr Mann mit seinem Schiff untergegangen ist. Und ich darf noch nicht baden, sagt Tante Lenchen, und Miß John sagt – ach, die spricht ja zum Piepen, Mutti – ich soll dir heute zwei ›Kusse‹ geben, weil du gestern abend doch fort warst,« wie die Wellen des Meeres so quirlte und brodelte das aus Annemaries Mund. Freigebig entlud sie sich dabei ihrer »Kusse«. Die Mutter konnte sich kaum vor dem Ansturm retten.
»Ruhig – Lotte – sei doch nicht solch Umband, wie willst du bloß dick werden, wenn du so quecksilberig bist,« dämpfte Frau Doktor Braun die Lebhaftigkeit ihres Töchterchens. Aber das Glück, ihre Lotte wieder zu haben, sah ihr dabei aus den Augen.
»Ich werde bestimmt dick im Kinderheim. Da muß ich die olle, eklige Sahne immer mittrinken«, versprach Annemarie. »Und hier ist meine Freundin Gerda und das ist die Ellen, die redet wie Fräulein Neudorf in unserer Schule. Und die zwei sind Lies und Lott’, und die – – –« Annemarie hätte wohl die Namen sämtlicher Kinder heruntergeschnurrt, wenn nicht inzwischen Tante Lenchen und Fräulein Mahldorf herangekommen wären und nun auch Frau Doktor Braun begrüßen wollten.
Annemaries Mutter sprach den Damen ihren herzlichsten Dank aus, daß sie sich ihres Kindes so warm angenommen und gleichzeitig ihre freudige Überraschung, ihre kleine Tochter so vergnügt und begeistert vom Kinderheim zu sehen. Sie hatte gefürchtet, trösten und zureden zu müssen. Nun schien es gar nicht der Schokolade, der hübschen Ansichtskarten und der neuen Schippe, die Frau Doktor Braun gekauft hatte, um ihr Nesthäkchen vergnügter zu stimmen, zu bedürfen. Froher konnte Annemarie eigentlich gar nicht sein, als sie es augenblicklich war. Sie hatte ihre Sandalen, wie die anderen Kinder, in ihrer Burg gelassen, und nun sprang die ganze barfüßige Gesellschaft, sich die Hände zu einer langen Kette reichend, in der warmen Sonne den augenblicklich während der Ebbe zurückflutenden Meereswellen nach. Wenn aber eine naseweise Woge sich einmal zu weit vorwagte, und die Barfüßchen alle überspülte, dann gab es lauten Juchhei.
»Ich glaube, das Meer trocknet aus«, rief Annemarie, als sie sah, daß die Fluten immer weiter und weiter zurückgingen, und immer mehr feuchter Strand herauskam.
»Schäfchen, das ist doch jetzt nur während der Ebbe«, eines der großen Backfische lachte das Dummchen aus.
Auslachen ließ sich Annemarie höchst ungern. Darum verschmähte sie es auch, sich näher danach zu erkundigen, was das mit der Ebbe eigentlich für eine Bewandtnis habe. Denn die kleine Landratte hatte noch nie etwas von Ebbe und Flut gehört. Aber bald darauf wurde sie schon wieder ausgelacht.
»Ach, die vielen, vielen Tauben!« Annemarie wies begeistert auf die über das Meer flatternden weißen Vögel.
»Haach – ist die dämlich!« sämtliche Kinder brachen in Lachen aus.
»Das sind doch Möwen und keine Tauben.« belehrte sie Ellen.
Annemarie aber lief beleidigt zu ihrer Mutti.
»Kinder, kommt frühstücken,« rief Tante Lenchen gerade zum Glück. Gehorsam löste sich die jubelnde Kette, und ein jedes eilte zu seinem Frühstückskörbchen.
Jetzt erst fiel es Annemarie auf, daß ihre Freundin Gerda ja nicht vorhin bei dem lustigen Wellenhaschen mitgetan hatte. Ganz allein saß das Lockenköpfchen in der gemeinsamen Burg und legte aus Gräsern, Blumen und Muscheln ein Gärtchen an.
»Du, Gerda, warum haste denn nicht mitgespielt?« fragte Annemarie erstaunt. »Es war so fein.«
»Ich kann solche wilden Spiele nicht mitmachen, und im Wasser darf ich überhaupt nicht waten«, gab Gerda so ruhig zur Antwort, als ob dies das Selbstverständlichste von der Welt sei. Wieder stand Doktors Nesthäkchen betreten da. Wie würde es selbst wohl geweint und gemurrt haben, wenn es von dem fröhlichen Spiel der anderen Kinder ausgeschlossen wäre.
»Du tust mir so leid, Gerdachen,« zärtlich legte sie ihre Hand mit dem Frühstücksbrot um der Freundin Hals.
»Warum denn?« ganz verwundert fragte es das Lockenköpfchen. »Der Garten, den ich für meine Puppe mache, wird auch wunderhübsch.«
Muttis mitgebrachte Herrlichkeiten wurden glückselig in Empfang genommen. Eine Ansichtskarte sollte der Vater bekommen und eine die Großmama. Aber an Margot, Fräulein und Kusine Elli in Arnsdorf wollte Annemarie auch nachher gleich schreiben.
»Nimm dir nicht zu viel vor, Lotte, dann wird gar nichts daraus. Wenn du jeden Tag eine Karte abschickst, das genügt.«
Die Schokolade, die Mutti ihr geschenkt, verteilte das gutherzige kleine Mädchen sogleich unter alle Kinder, trotzdem die sie vorhin ausgelacht hatten. Auch Peter bekam etwas davon ab; freilich, wenn Annemarie gewußt hätte, daß er nachher solch Nichtsnutz sein würde, hätte sie ihn gewiß nicht bedacht.
»Wir können heute vormittag nicht baden, Kinder, wir haben jetzt Ebbe, erst nachmittag ist wieder Flut,« Tante Lenchen trat zu der sich sonnenden kleinen Schar, die sich ihr Butterbrot, mit Schokolade belegt, schmecken ließ.
Wieder das Wort Ebbe – Annemarie beschloß Gerda um Rat zu fragen, die war doch schon zwei Jahre in Wittdün, die mußte das doch wissen. Und auslachen würde die sanfte