– –« gellend klang es über den weißen Strand, die Dünen hinauf, bis zu dem Friesenhäuschen, hinter dem Frau Doktor Braun herzklopfend die Entwicklung der Dinge mit ansah. Ach, daß sie nicht zu ihrem Nesthäkchen hinunter durfte und es tröstend in ihre Arme nehmen!
Aber da waren schon andere Arme, die sich liebevoll um das weinende kleine Mädchen legten. Zärtlich zog Tante Lenchen das fremde Kind an ihr Herz.
»Weine nicht, mein Herzchen, du sollst mal sehen, wie hübsch es bei uns ist. Die andern Kinder sind doch alle gern in Villa Daheim. Heute abend nach dem Essen spielen wir noch im Garten, dann schläfst du ganz schnell, und morgen früh treffen wir dann Mutti wieder am Strande – ja, wollen wir es so machen, Annemie?«
Die weiche Stimme machte Eindruck auf das weinende Kind. Es hörte auf »Mutti« zu schreien und schluchzte nur noch leise.
»Ich – ich hab’ ja gar kein Nachthemd und auch keine Zahnbürste da – und mein süßes neues Köfferchen auch nicht – ich muß bestimmt noch mal zu Mutti – und – und einen Gutenachtkuß muß ich ihr auch erst noch geben – so kann ich gar nicht einschlafen!« Aufs neue ging das Jammern los. Halb mitleidig, halb spöttisch umstanden die andern Kinder das große Mädel, das nach seiner Mutter weinte. Ihre Mutter war doch nicht mal hier in Wittdün, sondern weit, weit fort, und sie weinten nicht. Freilich, daß sie es seinerzeit nicht anders gemacht hatten als die Annemarie, das hatten die kleinen Herrschaften vergessen.
Inzwischen versuchte auch Miß John, die Engländerin, ihre Überredungskunst.
»Du geben morgen früh dein Mutter zwei Kusse, ein zu Guter Nacht und ein zu Guter Morgen«, schlug sie in ihrem unvollkommenen Deutsch vor.
Da mußte Annemarie über die zwei »Kusse« lachen, unter Tränen lachte sie, und wenn ein Kind erst einmal lacht, dann hören auch die Tränen bald auf zu fließen.
»Dein neues Köfferchen ist schon in Villa Daheim abgegeben worden, das packen wir heute abend noch aus. Nein, was werden nur die andern Kinder sagen, wenn sie dein neues Köfferchen sehen!« so redete Tante Lenchen Annemarie zu.
»Und was da aber erst alles drin ist!« die verweinten Blauaugen begannen, in Erinnerung an all die neuen Herrlichkeiten, wieder aufzustrahlen. Ja, was würden bloß Ellen und Gerda zu den neuen Sandalen und zu dem hellblauen Badeanzug sagen.
»Na, denn will ich die Gerda anfassen«, erklärte Doktors Nesthäkchen ganz plötzlich zu Tante Lenchens und Miß Johns freudigstem Staunen. Die kleine, eitle Evastochter war bereit, mit ins Kinderheim zu gehen, nur um ihr süßes neues Köfferchen vor den neuen Freundinnen auspacken zu können.
Sie faßte nach Gerdas Hand, während die übrigen Zöglinge ebenfalls zu zweien antraten.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Oben an dem Friesenhäuschen atmete ein gepreßtes Mutterherz erleichtert auf.
»Du – geh doch ordentlich – mach doch nicht solchen Ulk – ich muß ja immer mitknicksen, wenn du bei jedem Schritt einen Knicks machst, Gerda«, rief Annemarie schon wieder lachend.
»Ich mache keinen Ulk« – eine Blutwelle ergoß sich über das liebliche Gesicht des kleinen Engelköpfchens – »aber ich bin lahm, ich kann nicht anders gehen.«
Annemarie ließ jäh die Hand des Kindes los. Ihr weiches Herz krampfte sich in heißem, mitleidigem Weh zusammen – die arme, arme Gerda! Beide Arme schlang sie plötzlich – gerade oben vor dem Friesenhäuschen – um das kleine Mädchen und drückte zärtlich ihr noch immer tränenfeuchtes Gesicht gegen das der anderen.
»Ich will dich sehr lieb haben, Gerda, du sollst meine Freundin sein«, flüsterte sie in dem eifrigen Wunsche, der Kleinen etwas Gutes anzutun. »Das kann Margot Thielen nicht übel nehmen, weil du doch immer humpeln mußt.« Innig umschlungen gingen die beiden neuen Freundinnen an dem Friesenhäuschen vorüber, das Annemaries Mutter bald darauf beruhigt verließ.
»Bist du wild gewesen und von einem Baum heruntergefallen, Gerda? Vater meint immer, wenn ich klettere, ich werde mir noch ein Bein brechen«, forschte Annemarie.
»Nein, die Ärzte sagen, ich habe ein Kniegelenkleiden. Aber es ist hier an der Nordsee schon viel besser geworden. Früher konnte ich gar nicht laufen und mußte immer im Rollstuhl gefahren werden.«
»Ach, ich hatte auch mal einen kleinen Rollstuhlfreund im Krankenhaus, als ich Scharlach hatte. Kurt hieß der. Aber gesprochen habe ich nur ein einziges Mal mit ihm, weil Schwester Elfriede Angst hatte, ich könnte ihn anstecken.« Annemaries Mundwerk war jetzt aufgezogen.
»Ich bin schon zwei Jahre hier«, plauderte auch das Lockenköpfchen weiter, das es gar nicht so traurig wie Annemarie empfand, daß es humpeln mußte. Denn von klein auf war es ja schon daran gewöhnt.
»Zwei Jahre bist du schon von deiner Mutti und deinem Vater weg, wo wohnen denn die?« Annemarie konnte es kaum fassen. Da weinte und jammerte sie, bloß, weil sie Mutti heute abend nicht mehr sehen sollte. Und die arme Gerda, die noch dazu nicht wie andere Kinder herumspringen konnte, war schon zwei ganze Jahre allein in der Fremde. Ordentlich schämen tat sich Doktors Nesthäkchen.
»Meine Eltern wohnen schrecklich weit von hier, in Breslau, da ist Vater Hauptmann. Das ist die Hauptstadt von Schlesien – habt ihr das schon in der Schule gehabt?«
»Ja, natürlich«, Annemarie bejahte eifrig. »Ich bin auch schon mal in Schlesien gewesen, bei meinem Onkel Heinrich und bei Tanke Kätchen in Arnsdorf. Die haben da ein großes Gut. Und im Riesengebirge war ich auch schon mal, sogar auf der Schneekoppe«, berichtete sie.
In allerbester Stimmung betrat Doktors Nesthäkchen ihre neue Heimat.
Da war bereits die Tafel zum Abendessen gedeckt. Aber vorher mußten erst sämtliche Sandhände gewaschen und die von dem Seewind zerzausten Haare glatt gebürstet werden.
»Ellen, nimm Annemarie mit in euer Zimmer und hilf ihr beim Einräumen von Kämmen und Waschzeug. Ihr seid ja schon groß genug dazu.« Tanke Lenchen mußte sich um die Kleinen kümmern, die noch nicht allein fertig wurden.
Annemarie folgte der Hamburger Ellen. Eigentlich hätte sie viel lieber mit Gerda zusammen gewohnt, denn Ellen war doch zu groß für sie als Freundin.
Diese öffnete inzwischen eine Tür im ersten Stock. »Das ist unsere S–tube, in dem Bett dort am Fenster schläfst du, dies ist meins, und das Bett, das drüben s–teht, gehört Gerda«, erklärte sie.
»Gerda wohnt bei uns – famos!« Annemarie machte einen Luftsprung und gerade in ihr Reisegepäck, das man auf der Erde aufgestapelt hatte, hinein. Der Hutkarton sprang ebenfalls zur Seite, und die Handtasche bekam sogar einen Tritt ab. Aber sowas störte den Wildfang nicht. Annemarie hatte augenblicklich nur Augen für ihr neues Reiseköfferchen, das neben dem übrigen Gepäck thronte.
»Ist es nicht süß – warte, ich zeige euch gleich, was alles drin ist.« Sie nestelte eifrig den Schlüssel an dem rosenroten Bändchen, das sie stolz um den Hals trug, hervor.
»Laß lieber s–tecken«, meinte die verständigere Ellen. »Wir sollen uns doch zum Abendbrot fertig machen. Gleich wird es schellen.«
Aber Doktors Nesthäkchen pflegte daheim auch nicht immer zu gehorchen. Nein, sie mußte Ellen und Gerda, die sich auch inzwischen eingefunden hatte, unbedingt erst noch die schönen, neuen Sachen aus ihrem Köfferchen zeigen.
Nun mag man noch so verständig sein: wenn man erst dreizehn Jahre alt ist, hat man auch ein ganzes Teil Neugierde in sich. Ellen war genau so begierig wie Gerda, zu sehen, was die kleine Fremde Schönes mitbrachte. So hockten sie alle drei um das neue Köfferchen herum, aus dem Annemarie jetzt all die hübschen, neuen Sachen, die Mutti so ordentlich eingepackt, wild durcheinander auf dem Fußboden herumstreute. Immer höher wurde der Berg von Sachen um die kleinen Mädchen. Bewundernde »ach, wie fein!« und »nein, ist das süß« begleitete zu Annemaries freudigem Stolz fast jedes Stück.
Vergessen war das Abendbrot – nicht einmal die Glocke, welche die Kinder zum Essen rief, wurde von ihnen beachtet. Ellen, eine kleine Leseratte, war bereits in das schöne Geschichtenbuch,