Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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auch nicht«, es waren ziemlich unartige Gedanken, mit denen Doktors Nesthäkchen ihre neue Heimat in Augenschein nahm.

      »Hier unten liegt gleich das Eßzimmer,« damit öffnete die Dame eine Tür.

      Von dem langen die Mitte des Zimmers einnehmenden Tisch hoben sich blonde und braune Kinderköpfe mit ebensolchen neugierigen Augen, wie die hineinspähende Annemarie sie hatte. Hier und da erhob sich ein höfliches kleines Mädchen und knickste.

      »Bleibt sitzen, Kinder«, rief Frau Clarsen. »Fangt nur heute an, mal ohne mich die Suppe zu essen. Dafür bringe ich euch nachher auch eine neue kleine Freundin mit.«

      »Die neue kleine Freundin« hatte inzwischen mit Verwunderung wahrgenommen, daß auch Jungen an dem Eßtisch saßen. Annemarie, die selbst ein halber Junge war, wie Vater immer sagte, empfand das durchaus nicht unangenehm. Im Gegenteil – das laute Herumtoben von Jungen sagte dem Wildfang mehr zu als die artigen Spiele kleiner Mädchen.

      Eine Dame, die Frau Clarsen sehr ähnlich sah, nur daß sie blonde Haare hatte, teilte die Suppe aus.

      »Meine Schwester – Frau Doktor Braun«, stellte Frau Kapitän vor. »Lenchen ist unser guter Hausgeist, der für das körperliche Wohl der kleinen Gesellschaft Sorge trägt – Annemarie wird die Tante Lenchen auch bald so lieb haben wie alle übrigen Kinder.«

      Die grauen Augen der jungen Dame begegneten sich mit den strahlendblauen des fremden kleinen Mädchens – nur eine Sekunde. Da wußte Annemarie es sofort, daß sie Tante Lenchen lieb haben mußte, ob sie nun wollte oder nicht.

      »Dies ist unsere Erzieherin, Fräulein Mahldorf, die einen Teil des Unterrichts gibt, den übrigen erteilt ein hiesiger Lehrer«, stellte Frau Kapitän weiter vor. »Und hier noch Miß John, unsere Engländerin.«

      Man verließ den Speiseraum und trat in das nebenliegende Spielzimmer. Das war ein luftiges helles Gemach mit hübschen Kinderbildern an den Wänden. Eine weitgeöffnete Tür führte zur Terrasse und in den Garten hinaus. Die eine Ecke des Zimmers gehörte den Puppen, die zweite dem Militär. Bleiregimenter aller Gattungen waren dort aufmarschiert. In der dritten Ecke sah man in einem Regal Gesellschaftsspiele aufgestapelt, in der vierten aber stand der Bücherschrank mit Märchen und Geschichtenbücher. Konnte es wohl ein Kinderherz geben, das solchem Zauber widerstanden hätte? Immermehr fühlte Annemarie ihre Abneigung gegen das Kinderheim schwinden. Ob Gerda, wenn sie erst wieder da war, wohl auch hier einquartiert wurde?

      Nun ging es in die Schulstube. Nein, wie eine Klasse sah es hier ganz und gar nicht aus. Zwar standen Tische und Bänke nebeneinander aufgereiht, aber die weißen Mullgardinen an den Fenstern, die Gruppenbilder ehemaliger Zöglinge, welche die Wände schmückten, machten auch diesen Raum der Arbeit anheimelnd und nahmen ihm das schulmäßig Nüchterne. Nur die große Landkarte an der Hauptwand verriet das Klassenzimmer.

      Frau Kapitäns Wohnräume und die der Lehrerinnen waren besichtigt, nun ging es über eine blankgebohnerte Treppe in das obere Stockwerk. Dort lagen die Schlafzimmer der Kinder. Alles helle freundliche Zimmer mit graublau oder rosa getünchten Wänden und weißen Möbeln. Zwei oder auch drei Betten in jedem Raum, die meisten mit einem kleinen Balkon, der einen herrlichen Blick über Strand und Meer erschloß.

      »Ach, die wundervollen Blumen überall«, Frau Doktor Braun war entzückt von dem, was sie sah. Hier ließ sie ihre Lotte ganz beruhigt.

      »Ja die haben sich unsere Kinder im Frühling selbst gesät. Jedes Kind hat seinen Blumenkasten und auch ein Fleckchen Erdreich unten im Garten. Ich halte soviel von dieser gärtnerischen Tätigkeit. Sie erhält Körper und Seele gesund. Du bekommst auch deinen Blumenkasten, Annemarie«, versprach Frau Kapitän. In den blauen Augen des kleinen Mädchens leuchtete es auf. Es gefiel ihr hier genau so gut wie ihrer Mutter, aber – es durfte ihr ja gar nicht gefallen.

      Die Damen stiegen die Treppe wieder hinab. Da rutschte etwas an ihnen vorüber, etwas Rotes mit weißen Punkten.

      »Aber Lotte – – –« rief Mutti entsetzt.

      »Au, hier rutscht es sich fein das Geländer herab, hier müßte Klaus sein!« mit strahlenden Augen stand Annemarie unten.

      »Sieh mal an, das habe ich gar nicht gedacht, daß du solch kleiner Wildfang sein kannst – ich habe dich für ein ganz schüchternes kleines Mädchen gehalten«, lächelte Frau Kapitän.

      Der Mutter war die Einführung ihres Töchterchens sichtbar peinlich.

      »Nun will ich mich aber verabschieden, ich habe Ihre Mittagszeit schon allzu lange in Anspruch genommen, Frau Kapitän,« damit reichte die Mutter der Dame die Hand.

      Auch Annemarie streckte mit tiefem Knicks ihr Händchen hin.

      »Ei, Herzchen, bleibst du denn nicht gleich bei uns?« verwunderte sich die Pensionsmutter. »Ich wollte dich jetzt mit deinen kleinen Kameradinnen bekannt machen.«

      »Ach nee – nee, das geht nicht.« die dumme Annemarie verkroch sich hinter ihrer Mutter.

      »Aber Lotte, sei doch nicht so töricht, warum sollte das denn nicht gehen?« Frau Doktor Braun schob ihr Nesthäkchen wieder nach vorn.

      »Ich – ich – ich hab’ ja überhaupt noch gar kein Mittagbrot gegessen –« wie gut, daß ihr das noch einfiel.

      »Das schadet nichts, mein Herzchen,« lachte Frau Kapitän. »Wir beide tafeln nach, sie werden uns schon noch etwas übrig gelassen haben.«

      »Und – und mein kleines neues Köfferchen ist ja auch noch nicht da, das muß ich bestimmt erst noch holen« – wie der Wind war Annemarie an der Tür.

      Frau Kapitän Clarsen war eine erfahrene Frau. Sie hatte schon so manche Heulszene mit kleinen Neuankömmlingen erlebt, die sich nicht von den Eltern trennen wollten. Sie wußte, daß man nur mit Güte die jungen, ängstlichen Herzen gewinnen konnte.

      »Schön, Annemarie, dann gehst du jetzt mit deiner Mutti Mittag essen. Am Nachmittag treffen wir uns am Strande, da kannst du gleich mit deinen neuen Freundinnen spielen. Und heute abend schläfst du dann das erstemal bei uns. Ja, wollen wir es so machen?« schlug Frau Kapitän freundlich vor.

      »Ja – ja« – Annemaries ganzes Herz flog der netten Dame zum Dank für diese Worte entgegen. Sie durfte noch ein bißchen bei Mutti bleiben, weiter wollte sie ja fürs erste gar nichts. Bis heute abend war ja noch schrecklich lange, und – sie hatte ja überhaupt gar kein Bett in Muttis Zimmer.

      Frau Doktor Braun war weniger einverstanden mit dem Vorschlag der Frau Kapitän. Sie fürchtete, daß sich am Nachmittage genau dasselbe Manöver abspielen würde. Und wenn man dem Kinde erst einmal nachgegeben hatte, würde es am Ende das zweitemal auch sein Köpfchen durchsetzen wollen. Aber Frau Doktor Braun irrte sich diesmal.

      Nachdem sie in dem schönen Kurhaus gespeist hatten, ging die Mutter mit ihrem Töchterchen an den Strand hinunter.

      »Ach, die niedlichen, rotweißgestreiften Häuschen, sind die für Puppen?« für große Menschen waren sie doch viel zu klein.

      »Das sind ja Strandkörbe, Lotte. Dort hinein setzt man sich mit einem Buch oder einer Handarbeit, wenn die Sonne zu sehr brennt, oder wenn es regnet.«

      »In einen Korb – wie unser Puck!« amüsierte sich die Kleine.

      Herrliche Muscheln lagen auf dem feuchten Sand, die das Meer herangeschwemmt. Weiße, gelbe, bläuliche und rosa, große und kleine. Jubelnd machte sich Annemarie ans Sammeln. Muschelsuchen – das war ein bisher unbekanntes Vergnügen für die kleine Berlinerin.

      »Ich hätte dir eine Sandschaufel kaufen sollen, Lotte«, meinte die Mutter, »aber das kann ich ja noch morgen nachholen.«

      »Was, eine Schippe für mich, großes Mädel? Mit zehn Jahren spielt man doch nicht mehr mit Sand, was sollten da wohl die anderen Kinder von mir denken!« lachte Nesthäkchen los.

      »Sieh mal dorthin, Lotte,« die Mutter wies auf den belebten Teil des Strandes, dem sie sich jetzt näherten.

      Nanu – Annemarie traute ihren Augen nicht.