Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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sich ausgebreitet und sah sich bereits damit in den Nordseewellen herumhopsen.

      Da wurden sie alle drei jäh aus ihrer Versunkenheit herausgerissen. Die Tür ward geöffnet. Miß John erschien, um die drei kleinen Säumigen zum Essen zu holen.

      »Himmel – wie sieht der Stube aus!« Entsetzt blieb sie an der Schwelle stehen. »Ellen, du sein genug groß, nicht zu dulden das Unordnung«, meinte sie ärgerlich.

      Trotzdem es unartig war, zu lachen, wenn eine Lehrerin böse war, konnte sich Annemarie nicht helfen. Laut los kicherte sie, die Sprache der englischen Miß war aber auch zu ulkig!

      »Warum lachen du? Es sein nicht zu lachen, wenn du machen der schöne Stube so häßlich. Aber jetzt erst kommen zu essen die Abendbrot.« Wieder begann es um Annemaries Lippen zu zucken, aber diesmal nicht vor Lachen. Das kleine Fräulein war sehr empfindlich, ein Vorwurf von fremder Seite ging ihr nah. Stumm folgte sie Ellens und Gerdas Beispiel und wusch sich die Hände.

      Inzwischen tat es Miß John leid, daß sie der kleinen Fremden, die ja noch nicht die Hausordnung kannte, den ersten Verweis in ihrer neuen Heimat gegeben.

      »Du brauchen nicht zu sein betrübt, Annemarie«, sagte sie beim Verlassen des Zimmers, die Wange des kleinen Mädchens aufmunternd klopfend.

      Aber Annemarie war gar nicht mehr »betrübt«. Die sauste bereits wieder zur nicht geringen Verwunderung der Engländerin höchst fidel das blanke Treppengeländer hinab.

      »Gerda, das kannst du auch machen, trotz deines kranken Beines«, rief sie von unten hinauf.

      Aber Gerda hatte gar keine Lust dazu, die war durch ihr Leiden niemals ein wildes Kind gewesen. Miß John schüttelte den Kopf, sie mochte nicht schon wieder schelten. Doktors Nesthäkchen aber hat, trotz allen Kopfschüttelns und aller Verweise – wie ich gleich verraten will – das ganze Jahr, das es im Kinderheim zubrachte, kaum einmal die Treppenstufen hinunter benutzt. Das blanke Geländer war stets zu verlockend.

      Die andern Kinder waren schon eifrig am Werk.

      »Na, ihr drei habt wohl gar keinen Hunger?« Frau Kapitän drohte lächelnd.

      »Ei, Annemarie, du hast wohl gleich ausgepackt?« scherzte Tante Lenchen, die Kleine auf einen leeren Stuhl neben sich ziehend. Sie ahnte nicht, daß sie das richtige getroffen.

      Annemarie wurde rot.

      »Bitte, Tante Lenchen, seien Sie nicht böse, ich wollte Ellen und Gerda so schrecklich gern die neuen Sachen in meinem süßen Köfferchen zeigen. Und dabei habe ich alles furchtbar liederlich gemacht – aber Miß John hat schon geschimpft«, setzte sie noch schnell hinzu. Als ob Tanke Lenchen das nun nicht mehr nötig hätte.

      Nein, Tante Lenchen schalt auch nicht. Die freimütige, offene Art der kleinen Neuen nahm ihr Herz gefangen. Wenn es auch eine wilde Hummel zu sein schien, die Hauptsache – es war ein ehrliches, aufrichtiges Kind.

      Zum Abendbrot gab es Himbeergrütze mit Butterbroten. Das schmeckte Annemarie wie allen andern fein. Wenn nur nicht der große Becher Milch vor jedem Gedeck gestanden hätte.

      Puh – Milch trank sie so ungern! Noch dazu mit der dicken Sahne, welche die gute Hanne zu Hause »ihrem Kinde« stets vorher durchsiebte. Nein, die konnte sie bestimmt nicht herunterkriegen. Als die Teller und Becher schon sämtlich geleert waren, stand der ihre noch unberührt.

      »Na, Annemarie?« sagte Tanke Lenchen und nichts weiter.

      Das genügte aber auch. Während Mutti und Fräulein zu Hause sich stets den Mund fusselig reden mußten, bis Nesthäkchen sich dazu bequemte, seine Milch zu trinken, leerte es hier in wenigen Zügen trotz der Sahne das Glas. Und als Tante Lenchen, die sah, daß es dem Kinde nicht leicht wurde, ihm anerkennend über das Blondhaar strich, war keiner froher als Annemarie.

      Mit kundiger Hand schaffte Tante Lenchen auch bald in dem wüsten Durcheinander, das Annemarie in ihrem Zimmer angerichtet, Ordnung. Zum Spielen kam die Kleine heute freilich nicht mehr. Aber es war ebenso hübsch, Tante Lenchen beim Einräumen der Sachen zu helfen und alles von ihr bewundern zu lassen.

      Um acht Uhr läutete es zum Schlafengehen. Müde von der Seeluft und all dem Neuen, das sie heute erlebt, streckte sich Doktors Nesthäkchen zum erstenmal auf ihrem Lager in Villa Daheim. Und gerade, als sie anfangen wollte, ein bißchen zu weinen, weil Mutti nicht wie sonst zu ihr kam, um ihr den Gutenachtkuß zu geben, kam ein anderer – der Sandmann. Schwapp – warf er ihr die Blauaugen voll Sand, und da schlief die Annemarie auch schon, und im Traum war sie bei ihrer Mutti.

      10. Kapitel

       Oll Modder Antje

       Inhaltsverzeichnis

      Eine Glocke weckte Annemarie in aller Herrgottsfrühe am andern Morgen. Sie war noch ganz verschlafen und glaubte, in Berlin zu sein.

      Himmel – war das nicht das Läuten des Schuldieners Piefke – kam sie zu spät in die Schule?

      »Fräulein – Fräulein – es läutet – Margot ist bestimmt schon ohne mich heute in die Schule gegangen«, mit beiden Beinen zugleich sprang Annemarie erschreckt aus dem Bett.

      Aber verdutzt blickte sie um sich. Da war kein Fräulein und keine Berliner Kinderstube. In den Betten drüben an den rosenrot getünchten Wänden lagen zwei fremde Kinderköpfe eingekuschelt, ein brauner mit Zöpfen und ein rötlich blonder Lockenkopf.

      Ach – sie war ja im Wittdüner Kinderheim! Jetzt wußte Doktors Nesthäkchen wieder Bescheid. Der Lockenkopf da drüben, der müde zu ihr hinblinzelte, gehörte ihrer neuen Freundin.

      »Du, Gerdachen, es hat eben zur Schule geläutet, du mußt aufstehen«, flüsterte Annemarie, da Ellen noch fest schlief.

      »Ih wo, das war doch die Dampferglocke«, Gerda legte sich gähnend auf die andere Seite und tat es Ellen nach.

      Aber Doktors Nesthäkchen war jetzt ganz ausgeschlafen, das mochte nicht noch einmal zurück ins Bett. Viel verlockender war es, in der neuen Heimat aus Entdeckungsreisen auszugehen.

      Geräuschlos kleidete Annemarie sich an. Seit einem Jahr wusch sie sich schon allein, nur die Ohren hatte Fräulein öfters einer gründlichen Nachuntersuchung zu unterziehen. Mit dem Kämmen war die Sache schon schwieriger. Die welligen Blondhaare waren hier durch den ständigen Wind noch zerzauster, als in Berlin. Annemarie riß, zerrte und ziepte, daß ihr der Kopf weh tat, aber sie wollten sich nicht entwirren lassen. Da machte die Kleine kurzen Prozeß und band sie mit dem roten Seidenband nach hinten in ein drollig vom Kopf abstehendes Schwänzchen zusammen. Nun noch flink das gepunktete Musselinkleid – o weh – es wurde auf dem Nacken geschlossen. Vergeblich angelte die Kleine mit ihren Armen hinten in der Luft herum, die Druckknöpfe wollten sich nicht schließen.

      »Na, denn nicht – dann gehe ich eben so!« Nesthäkchen warf den ungekämmten Kopf zurück und schlich barfuß zur Tür hinaus. Vater hatte ja gesagt, sie dürfe in Wittdün barfuß laufen und gestern hatte sie viele Jungen und Mädchen ohne Schuh und Strümpfe am Strand gesehen. Daß dies Kinder waren, die sich bereits an die Nordseeluft gewöhnt hatten, und daß es außerdem im heißen Sonnenschein gewesen, daran dachte das unüberlegte kleine Mädchen nicht.

      Das Treppengeländer hinuntergerutscht, und nun stand sie in dem mit Korbsesseln und blühenden Töpfen geschmückten Vorraum. Alles still – das ganze Haus schien noch zu schlafen. Kein Laut – nur das Meer da draußen rauschte und brauste.

      Ein wenig beklommen zumute wurde es Doktors Nesthäkchen trotz aller Beherztheit doch durch diese Stille in der fremden Umgebung. Selbst unten in der Küche hörte man noch kein Klappern. Kein Mädchen ließ sich sehen.

      Annemarie schlich sich zur Haustür. Ein feiner Gedanke war ihr soeben gekommen. Sie wollte zu ihrer Mutti und diese mit einem Kuß wecken. Hatte Miß John denn gestern nicht gesagt, sie solle ihrer Mutti heute zwei »Kusse« zum Guten Morgen geben?

      Solche Bosheit – die Haustür