in den Betten wußte, atmete sie erleichtert auf. Ganz zerschlagen von all der Unruhe und Aufregung saß sie am Schreibtisch und schrieb an Fräulein. Denn sie allein war der schweren Aufgabe, die durch den Krieg aus Rand und Band gekommenen Sprößlinge ihrer Tochter zu beaufsichtigen, nicht mehr gewachsen.
Nesthäkchen aber lag im Bett und betete aus Herzensgrund: »Lieber Gott, laß doch meine liebe Mutti bald wieder nach Berlin kommen, aber nicht die ollen Russen. Und beschütz’ doch auch meinen Vater im Krieg. Und auch Onkel Heinrich und all die anderen Soldaten. Und schick’ uns doch wieder solchen seinen Sieg wie heute, ja? Bitte, hilf uns Deutschen doch, lieber Gott.«
Da aber fiel Nesthäkchen plötzlich ein, daß vielleicht zur gleichen Stunde französische oder englische Kinder den lieben Gott ebenfalls um seine Hilfe anflehten. Darum setzte es schnell noch hinzu: »Und wenn du uns nicht helfen willst, dann hilf, bitte, den andern doch auch nicht – bleibe wenigstens neutral, lieber Gott. – Amen!«
3. Kapitel
Wie es in Nesthäkchens Schule aussah
Endlich waren die Fenstervorhänge drüben bei Thielens in die Hohe gegangen. Ein brauner Mädchenkopf erschien am gegenüberliegenden Kinderstubenfenster und nickte strahlend einen Gruß zu Doktor Brauns herüber.
»Komm auf den Balkon, Margot, da können wir besser miteinander reden«, schrie Annemarie, glückselig, die Freundin wieder zu haben, durch die hohl an den Mund gelegten Hände.
Und dann standen die beiden Freundinnen auf den aneinandergrenzenden Balkonen, die durch eine mannshohe Wand getrennt waren. Unter bunten Winden und Bethunien reichten sie sich nach der langen Trennung endlich wieder die Hände herüber.
»Tag, Margotchen, ich glaube, ich bin jetzt größer als du, meine Zöpfe sind bestimmt länger. Bist du immer noch die Erste in der Schule? Und glaubst du, daß die Russen nach Berlin kommen werden? Unsere Hanne sagt es. Mein Vater ist mit im Krieg, in Frankreich ist er, deiner auch? Und Großmama ist jetzt bei uns, und übermorgen kommt mein altes Fräulein wieder.« Das Plappermäulchen ließ die Freundin überhaupt nicht zu Wort kommen.
Kaum konnte Margot ›Ja, mein Papa ist auch im Feld, er hat sich als Freiwilliger gemeldet, und meine Mama und ich, wir haben so geweint, als er fortfuhr‹, einwerfen.
»Meine Mutti ist doch aber in England, bei unsern Feinden, etsch!« übertrumpfte sie Doktors Nesthäkchen.
»Ach, Annemarie, und da freust du dich so?« warf die verständigere Freundin erstaunt ein.
»Na, sie kommt ja bald wieder, vielleicht schon heute oder spätestens morgen«, meinte Annemarie mit der glücklichen Sorglosigkeit der Jugend.
»Hast du mich auch nicht im Kinderheim vergessen, Annemarie, du hast mir so selten geschrieben«, fragte Margot, die ein stilles, tief angelegtes Kind war.
»I, nicht die Bohne! Ich habe zwar da ’ne andere beste Freundin gehabt, die Gerda Eberhard aus Breslau. Aber nun bist du wieder meine allerbeste, Margotchen – ach, ich möchte dir so schrecklich gern einen Kuß geben!« Vergeblich versuchte der Blondkopf zwischen den blauen Bethunien dem braunen Kinderkopf, der aus bunten Winden heraussah, nahe zu kommen. Die abscheuliche Trennungswand sprang zu weit vor.
»Warte, Margotchen, ich komm’ zu dir hinüber, einen Kuß müssen wir uns doch wenigstens geben, wenn wir uns über ein Jahr nicht gesehen haben!«
»Ja, schön – ich mache dir die Tür auf. Aber es sieht noch ziemlich liederlich bei uns aus, weil unser Gepäck eben erst gekommen ist und gerade ausgepackt wird.«
»Macht nichts, ich komm’ gar nicht erst in das Zimmer.«
»Ja, wie willst du denn da zu mir, draußen auf der Treppe ist es doch ungemütlich?« verwunderte sich Margot.
Aber ihre Verwunderung sollte sich noch steigern.
Nachdem es von drüben geheimnisvoll erklungen war: »Du wirst schon sehen – gleich bin ich da!« hörte man ein merkwürdiges Rutschen auf den Steinfliesen des Nachbarbalkons. Ehe Margot recht wußte, was los war, tauchte über der Trennungswand ein lachender Blondkopf auf. Die wilde Hummel hatte sich den Tisch an die Wand gerückt, war hinaufgeklettert und mit dem Berliner Gassenhauer: »Siehste woll, da kimmt er – lange Schritte nimmt er«, ließ sie sich jenseits der Wand auf den Thielenschen Balkon heruntergleiten.
»Fein, was?« Doktors Nesthäkchen fiel der vor Bewunderung erstarrten Freundin um den Hals. Und dann saßen sie. nachdem sie sich zu allererst selbst und dann ihre Zöpfe gegenseitig gemessen, innig umschlungen zusammen auf einem Stuhl und holten nach Möglichkeit das verlorene Jahr in der Unterhaltung nach. Alles kunterbunt durcheinander.
»Denk’ mal, meine Puppe Gerda ist bei der Flucht aus Wittdün in der Nordsee ersoffen – habt ihr noch bei Fräulein Hering Stunde? Marlene Ulrich ist nicht mehr Erste? Ist die immer noch mit Ilse Hermann so befreundet? Und ist die Hilde Rabe noch so frech?« Margot konnte gar nicht so schnell antworten, wie Annemarie fragte.
Da, mittenhinein in das lebhafte Mädchengeplauder hörte man Großmamas Stimme von nebenan: »Annemiechen – Herzchen – komm, wir wollen spazieren gehen. Herrgott – wo ist denn das Kind nun schon wieder hin? Ich habe doch im Nebenzimmer gesessen, es ist bestimmt nicht durchgegangen. Barmherziger Himmel – da wird doch nichts passiert sein?!« Großmama hielt schon wieder ängstlich auf der Straße Umschau, ob der Wildfang auch nicht hinuntergestürzt sei.
Nesthäkchen aber saß hinter der bergenden Wand und kicherte heimlich wie ein Kobold. Nein, war die Sache ulkig!
»Annemie – Annemie – –« Großmamas Stimme klang noch ängstlicher als zuvor.
»Du mußt dich melden«, flüsterte Margot, die ein sehr braves Mädel war, ihr zu.
Da bequemte sich der kleine Übermut endlich zur Rückreise. Natürlich wieder auf demselben Wege. Der Stuhl mußte diesmal den Tisch vertreten. Als Großmama aufs neue ihre Rufe erschallen ließ: »Annemiechen – Herzchen, wo bist du bloß?« erklang es ausgelassen dicht über ihr: »Hier hängt se!« und hast du nicht gesehen, kam es im hellblauen Leinenkleid über die Balkonwand herabgerutscht, gerade zu Füßen der entsetzt die Hände zusammenschlagenden alten Dame.
»Aber Annemie – wie kannst du bloß so wild sein – du bist doch kein Junge – hast du dir auch nicht weh getan, Kind?« fragte Großmama eifrig, ganz glücklich, ihr Enkeltöchterchen wieder gesund vor sich zu sehen.
»Nee, gar nicht, bloß – – –« Nesthäkchen begann plötzlich zu weinen.
Das beunruhigte Großmama natürlich noch viel mehr. Sie forschte und befühlte das Enkelchen von allen Seiten: »Wo tut’s denn weh – wo? Sag doch! Wollen wird zum Arzt schicken?«
»Nee – aber zum Schneider!« Unter Tränen schon wieder lachend, wies Nesthäkchen auf ein großes Dreieck in ihrem hübschen Sommerkleid. Das war ein Reiseandenken, das sie sich mitgebracht.
»Siehst du, Annemie, das kommt davon, wenn man so unmädchenhaft ist. Nun wird es zu spät zum Spazierengehen, wenn du dich erst umkleiden mußt.«
So zog das erste Wiedersehen der beiden Freundinnen betrübende Folgen nach sich. Annemarie aber nahm sich vor, nie wieder unmädchenhaft zu sein. Wie lange würde sie wohl daran denken?
Am nächsten Tage begann die Schule.
Fünf Minuten vor dreiviertel acht traten Annemarie Braun und Margot Thielen zu gleicher Zeit aus ihrer Tür. Wie froh war Margot, wieder den Schulweg gemeinsam mit der Freundin zurücklegen zu können. Annemarie aber war noch viel glücklicher. Sie freute sich unbändig auf die Schule, aus der sie über ein Jahr fort gewesen. Was würden die Kinder nur zu ihr sagen? Und Fräulein Hering, die immer besonders nett zu ihr gewesen!
Der Schulweg war heute tausendmal interessanter als früher. Die Straßen wimmelten von Feldgrauen.