belud sich mit dem Handgepäck des jungen Fräuleins.
Mit einem Blick umfaßte Doktors Nesthäkchen zum letztenmal ihr kleines Reich, den Nähtisch der Mutter drin im Wohnzimmer, schnell durch die Türspalte noch einmal in Vaters Sprechzimmer gelugt, dann wandte Annemarie den Kopf nicht mehr zurück. Vorwärts ging es nun, dem neuen buntwinkenden Studentenleben entgegen.
Unten vor dem Vorgarten, der sich Nesthäkchen zu Ehren mit seinen schönsten Mandelblüten besteckt hatte, standen sie alle abschiedbereit: Piefke, der Portier, der den neuen Geburtstagskoffer soeben aufgeladen. Sein Junge, Maxeken, Nesthäkchens einstiges Pflegekind, mit neugierigem Gesicht. Minna, sich die nassen Augen mit dem Handrücken wischend, und Hanne mit einer so bärbeißigen Miene, als ob sie der ganzen Welt an den Kragen wollte.
»Leben Sie wohl, Hanne, und wenn ich wiederkomme, gehe ich bei Ihnen ins Kolleg!« Nesthäkchen scherzte schon wieder.
»Kollegin brauchste nich von mich zu werden, Annemiechen. Aber das sag’ ich dich, mit das Dusagen hat das nu ‘n Ende. Wenn de von de Unversität wieda nach Hause kommen tust, denn biste vor mir ›Sie‹ und ›Fräulein‹.« Geradezu wütend sah Hannes breites Gesicht drein.
»Das überleb’ ich nicht, Hanne«, lachte Annemarie. Allen Abschiedsschmerz hatte Hannes Drohung verscheucht.
Da zog der Droschkengaul an. – »Auf Wiedersehen! – Auf Wiedersehen!« – – – »Und komm auch nich abends von de Kneipe so anjesäuselt nach Hause, wie das unser Herr Klaus manchmal jemacht hat!« rief Hanne noch vorsorglich hinter Annemarie drein.
Die lachte Tränen. Auf den Balkonen und an den Fenstern aber reckte man die Köpfe hinter der durch die Straße ratternden Droschke her. Nanu – Doktors Nesthäkchen war ja unglaublich fidel, daß es von Hause fortging!
Wenn die lieben Nachbarn allerdings gesehen hätten, wie Annemarie während der Fahrt die Hand der Mutter nicht aus der ihren ließ, wie sie sich auf dem Bahnhof die Augen ausschaute, ob der Vater, der in aller Herrgottsfrühe zu einem Schwerkranken gerufen worden war, es auch noch erreichte, um seiner Lotte den Abschiedskuß zu geben, dann hätten die lieben Nachbarn doch vielleicht gemerkt, daß Doktors Nesthäkchen der Abschied nicht gar so leicht wurde.
Aber sie ließ es sich nicht merken, daß in der Kehle ein Tränenkloß jeden Augenblick wie ein Wasserfall sich zu ergießen drohte. Das Heulen überließ sie Ilse Hermann, die abwechselnd Trost suchte in den Armen der Eltern und der älteren Schwester Lisbeth.
»Ilschen, es gibt hier auf dem Anhalter Bahnhof eine Überschwemmung.« Alle Aufmunterungsversuche Annemaries verfingen nicht. Erst als Hans und Klaus auf der Bildfläche erschienen, schämte sie sich ihres zur Schau getragenen Abschiedsschmerzes.
Marlene biß die Zähne zusammen, damit nur keiner merkte, daß es ihr ebenfalls naheging. Die Annemarie hatte doch ein glückliches Temperament, daß sie selbst jetzt noch scherzen konnte. Nicht mal die Freundinnen merkten, daß Annemaries zur Schau getragene Heiterkeit Galgenhumor war.
Nur die Mutter kannte ihr Nesthäkchen. Die war gar nicht weiter davon überrascht, daß ihre eben noch lachende Lotte, als das Signal zum Einsteigen ertönte, ganz plötzlich in einen Tränenstrom ausbrach.
»Noch kannst du hierbleiben, Lotte!« Doktor Braun hatte es doch nicht gedacht, daß es ihm so schwerfallen würde, sein Nesthäkchen fortzulassen.
»Nein – nein – ich freue mich ja so schrecklich – – –.«
»Daß ich vor lauter Entzücken in Freudentränen ausbreche«, neckte Marianne Davis. Denn die Freundinnen waren natürlich vollzählig als Ehrengeleit erschienen. Vera streichelte fortwährend Annemaries Hand. »Denk an mirr – behalt’ mirr in Liebe.« Margot weinte zur Gesellschaft mit den andern mit.
Nun waren alle Abschiedsküsse und Umarmungen erledigt, und die drei Studentinnen in spe standen am Fenster ihres Abteils, das feuchte Tränentüchlein zum letzten Gruß winkbereit.
»Marlene, gib mir bloß auf mein unbedachtes Mädel acht, du bist doch die Vernünftigste. Du glaubst gar nicht, wie unachtsam und leichtsinnig die Annemarie ist – – –.«
»Aber Muzi, mach’ mich doch nicht vor allen Leuten hier schlecht«, begehrte Annemarie schon wieder lachend auf.
»Ilse und ich werden unser Nesthäkchen schon gut bewachen, Frau Doktor«, versprach Marlene.
»Erlaube mal, Ilse ist überhaupt jünger als ich – – –.«
»Und nimm dich mit fremden Leuten in acht, Kind, du bist so vertrauensselig. Und daß du nicht kalt trinkst, wenn du erhitzt bist und – – –.« Mutter kam mit ihren vorsorglichen Befürchtungen, von denen sie noch ein ganzes Dutzend auf Lager hatte, nicht weiter, denn der Zug setzte sich in Bewegung.
»Nun lernt in Tübingen fleißig Bierjungen trinken. Wenn wir uns wiedersehen, müßt ihr das Gesicht voller Schmisse haben«, rief Hans, um die Abschiedsstimmung zu heben, den dreien nach.
»Und vergeßt das eine nicht – das allerwichtigste: Rollmops ist gut gegen ‘nen Kater!« Das war natürlich der unverbesserliche Klaus.
Wie Sonnenregen ging es da über die drei betrübten Mädchengesichter. Mit wieder lachenden Augen ließen die beiden Blonden und die Schwarze ihr Tüchlein zu ihren Lieben zurückwehen.
»Annemarie, wir sind gleich in Jüterbog.« Marlene, eingedenk ihres Ehrenamtes als Vernünftigste, zog die immer noch aus dem Fenster winkende Annemarie, die behauptete, ihre Mutter noch ganz deutlich erkennen zu können, auf ihren Platz.
»Wem du da zuwinkst, das ist irgendein Gepäckträger –.« »Ach wo, die Signalstange ist es überhaupt?« lachte Ilse.
Ihr glücklichen neunzehn Jahre, wo Abschiedstränen noch so rasch trocknen!
Durch sprießende Saaten, durch blauschwarze Kieferwaldungen, schüchtern mit zartgrünen Birkenbäumchen besäumt, fuhren die im Lenz des Lebens stehenden drei dem erwachenden Frühling entgegen. Je weiter sie nach Süden kamen, um so wonniger wurde das Blühen da draußen. Weimar, die Stadt der Musen, grüßte die drei Musentöchter bereits aus einem Meer von schneeigen Obstblüten.
»Kinder, wollen wir hier nicht aussteigen? In Weimar müßten wir Station machen«, schlug Doktors impulsives Nesthäkchen lebhaft vor. »Es ist doch unerhört, daß man an der Goethestadt vorüberfährt.«
»Ausgeschlossen, Annemarie. Wir haben zu heute abend in Stuttgart im Hotel Monopol Zimmer bestellt«, lehnte Marlene besonnen ab.
»Auf der Rückreise können wir ja in Weimar Aufenthalt nehmen«, tröstete Ilse.
»Menschenskind – auf der Rückreise – was kann in einem Jahr nicht alles sein!« Aber mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit gab Annemarie nach. Denn schließlich hatte Marlene ja recht.
Der Zug stieg bergan. Die Frühlingswelt wurde wieder winterlicher. Rauher wehte die Luft. Man näherte sich dem hochgelegenen, von Berliner Sommer-und Winterfrischlern viel besuchten Oberhof. Auch hier hätte Doktors Nesthäkchen, das alles sehen und genießen wollte, am liebsten Station gemacht. Aber der Zug entführte es weiter, immer weiter, talwärts zu Kirsch-und Fliederblüte.
Es wurde eine höchst fidele Fahrt. Zukunftspläne schmiedend, futternd und Studentenlieder singend, fuhren die drei Freundinnen ihrem Studienjahr entgegen. Annemaries ausgelassene Art steckte selbst die ruhige Marlene an. Das war ein Lachen, Scherzen und Singen zu den Klängen der Zupfgeige, die Nesthäkchen natürlich in die neue Heimat begleitete, daß die Mitreisenden ihre helle Freude an dem frischen, jungen Blut hatten. Bis auf eine etwas griesgrämige alte Dame, die fast während der ganzen Fahrt schlief. Oder vielmehr schlafen wollte, was ihr aber bei dem fidelen Kleeblatt nicht recht gelang.
So kam man in der sechsten Stunde nachmittags nach Würzburg.
»Würzburg soll die schönste Barockstadt sein, ähnlich wie Potsdam«, bemerkte Ilse, das Bauratstöchterlein.
»Müssen wir unbedingt sehen. Fahrtunterbrechung ist gestattet. Wir telephonieren dem Herrn