Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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sie Ilse.

      »Und an dem vorgenommenen Reiseprogramm hält man auch fest.« Bei Marlene mußte alles geordnet zugehen.

      »Aber aussteigen muß ich, Kinderchen, ich verdurschte. Kein mitleidiger Pikkolo läßt sich mit Bier oder Limonade sehen. Ob ich mal ganz schnell zum Büfett dort drüben hinspringe und uns eine Brauselimonade hole? In zwei Minuten bin ich wieder da.« Annemarie war bereits an der Tür.

      Die beiden Cousinen hielten sie ängstlich fest.

      »Nicht doch, Annemarie, du könntest den Zug versäumen.«

      »Es wird sicher noch jemand mit Getränken kommen.« Alle beide versuchten sie, Annemarie zurückzuhalten.

      Aber wenn Doktors Nesthäkchen sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer, es vom Gegenteil zu überzeugen. Und außerdem quälte der Durst. »Was seid ihr für eine umständliche Gesellschaft – bis ihr mit eurer langatmigen Auseinandersetzung fertig seid, bin ich zehnmal wieder da – auf Wiedersehen – –.« Fort war sie.

      »Sie brauchen keine Sorge zu haben, meine Damen, der Zug pflegt hier in Würzburg immer längeren Aufenthalt zu haben«, beruhigte ein Mitreisender die erschreckten Cousinen.

      Am Büfett war es voll. Es dauerte lange, bis Annemarie, trotzdem sie ihre Ellenbogen zu brauchen verstand, die gewünschte Limonade erhielt. Für Flasche und Glas waren fünfzig Pfennige Pfand zu lassen. Trotz ihres großen Durstes lief die gutherzige Annemarie, ehe sie selbst trank, zum Zuge zurück, um die Freundinnen zuerst zu erquicken. Nach längerem Suchen fand sie ihr Abteil erst wieder, denn die Nummer desselben hatte sie sich in ihrer Huschligkeit nicht gemerkt.

      »Steig’ ein, Annemarie, der Zug kann abgehen«, drängte Marlene, sich kaum Zeit zum Trinken nehmend.

      »Fällt mir nicht im Traume ein. Die Luft ist herrlich hier draußen. Kommt doch auch noch ein bißchen ‘raus.«

      »Nein, Annemarie, du weißt nicht, wie lange der Aufenthalt noch dauert. Bitte, steig’ doch bloß ein«, versuchte auch Ilse sie zu überreden.

      »Was seid ihr für nervöse junge Damen! Immer mit de Ruhe!« lachte Doktors Nesthäkchen ausgelassen und ließ sich die Limonade schmecken.

      »Flink, Annemie, sieh nur, die andern Leute steigen alle schon ein.« Ilse war ganz aufgeregt.

      Wirklich, der Bahnsteig leerte sich.

      »Euer Wunsch ist mir Befehl. Ich will nur noch Flasche und Glas abgeben.«

      »Ach, nimm sie doch mit, komm bloß schon!« Auch die ruhigere Marlene wurde durch Ilses Aufgeregtheit angesteckt.

      »Ihr seid wohl ‘n bißchen hops?« Annemarie tippte mit der Flasche gegen die Stirn. »Fünfzig Pfennige Pfand habe ich darauf zurückzubekommen. Die lasse ich auf keinen Fall schießen.« Allen Einwendungen der beiden ungeachtet, lief Annemarie noch einmal zum Büfett. Wieder eine Verzögerung – die Büfettdame hatte das Geld nicht gleich passend zur Hand. Aber Doktors Nesthäkchen blieb ganz sorglos. Unbekümmert machte es, nachdem es das Geld endlich erhalten, kehrt und – da fuhr der Zug bereits.

      »Halt – halt!« schrie Nesthäkchen hinterdrein. »Ich muß ja noch mit!«

      »Annemie – – –« ein entsetzter Doppelschrei von irgendeinem Fenster her. Dann sah die hinter dem Zuge Herlaufende nur noch die schwarze Rauchfahne.

      Annemarie blieb mit ziemlich verdutztem Gesicht stehen, und dann brach sie plötzlich in helles Lachen aus. Nein, war das komisch! Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

      Ein Herr, der einen Freund zur Bahn begleitet hatte, wandte sich ihr zu. Er hatte das Intermezzo beobachtet. Aber daß jemand in solchem Falle lachte, anstatt sich darüber zu ärgern, das war ihm doch noch nicht vorgekommen.

      »Ein unfreiwilliger Aufenthalt, gnädiges Fräulein«, meinte er lächelnd. »Aber es lohnt sich halt, dem schönen Würzburg einen Besuch abzustatten.«

      »Ich fahre gleich mit dem nächsten Zug hinterdrein nach Stuttgart.« Das war wieder ganz Doktors leichtsinniges Nesthäkchen.

      »Damit werden’s heut’ nimmer Glück haben, gnädiges Fräulein. Der nächste Zug nach Stuttgart geht nit vor morgen früh gegen sechs Uhr.«

      »Wa–as?« Nun bekam die junge Dame doch einen Schreck. »Aber das ist ja gar nicht möglich. Ich werde mal den Stationsvorsteher fragen.«

      »Das haben Sie nit nötig. Ich bin Stuttgarter und fahre die Strecke öfters.«

      Trotzdem wandte sich Annemarie, Auskunft erbittend, an den Mann mit der roten Mütze. Es stimmte. Der nächste Zug ging erst am andern Morgen.

      »Na, das ist ja eine nette Geschichte!« Die Komik der Situation begann allmählich dem Ernst derselben zu weichen. »Was mache ich denn nun bloß? All meine Sachen sind im Zuge bei meinen Freundinnen.«

      »So sind dieselben wenigstens nit verloren. Wenn ich halt irgendwie inzwischen aushelfen kann, gnädiges Fräulein –.« Der fremde Herr griff nach seiner Brieftasche. Das reizende junge Mädchen sah nicht wie eine Hochstaplerin aus. Er hätte ihr jede Summe anvertraut.

      »Danke vielmals. Aber mit Geld bin ich genügend versehen.« Sie hatte ja ihr Geldtäschchen zum Glück in der Hand. Und zum Überfluß noch das Lederbeutelchen mit den größeren Geldscheinen an einem Bande unter der Bluse. Gleich darauf biß sich Annemarie auf die Lippen. Mutti hatte recht, sie war wirklich unvorsichtig. Man sagte doch einem fremden Menschen nicht, daß man Geld hatte. Er konnte sie doch bestehlen.

      Wie ein Dieb sah der Fremde aber eigentlich nicht aus. Es war ein noch junger, gutgekleideter Herr mit braunem Haar. Seine grauen Augen hinter dem Kneifer blickten vertrauenerweckend. Trotzdem nahm sich Nesthäkchen vor, auf der Hut zu sein.

      Der Stationsvorsteher hatte sich bereits entfernt. Auch Annemarie wandte sich mit kurzem Kopfneigen gegen den Fremden zum Gehen. Nun bekam sie doch noch Würzburg zu sehen.

      Aber mit einigen Schritten hatte der fremde Herr sie wieder eingeholt.

      »Gnädiges Fräulein, wenn ich Ihnen am End’ sonst irgendwie hier in der fremden Stadt behilflich sein kann, so steh’ ich Ihnen herzlich gern zur Verfügung.« Er hatte eine freie, sympathische Art und sprach den einem norddeutschen Ohr so gemütlich klingenden süddeutschen Dialekt.

      Aber Nesthäkchen wollte nicht wieder unbesonnen sein. Nicht umsonst hatte Mutti sie vor fremden Menschen gewarnt.

      »Danke – ich kann mir allein helfen.« Das klang ziemlich abweisend unter der gefaßten Vornahme. Gar nicht so liebenswürdig, wie das sonst Annemaries Wesen entsprach.

      Der Fremde zog den Hut und schritt davon.

      Hatte sie ihn beleidigt? Das war nicht ihre Absicht gewesen, wo er sich ihr gegenüber doch immerhin freundlich gezeigt hatte. Na, deshalb machte sich Nesthäkchen kein unnötiges Kopfzerbrechen. Wahrscheinlich würde es den Betreffenden im ganzen Leben nicht wieder zu sehen bekommen.

      Nun mal erst ein Hotelzimmer, daß sie ihr müdes Haupt heute abend betten konnte. Und dann auf den Stadtbummel. Morgen lachte sie Marlene und Ilse aus, daß sie die schöne Barockstadt nun doch zu sehen bekommen hatte.

      Vorläufig aber lachte Annemarie nicht. Denn es war nicht so einfach, ein Zimmer in einem der Hotels zu bekommen. Weder auf dem großen Platz hinter dem Bahnhof noch in der Kaiserstraße, die in das Stadtinnere führte. Hotel neben Hotel, Annemarie lief kreuz und quer – überall besetzt. Nirgends ein Zimmer frei. Die erste Frage lautete stets: »Haben Sie Zimmer bestellt?« Und wenn das junge Mädchen dann wahrheitsgemäß verneinte, zuckte der Herr Geschäftsführer die Achsel. Wie konnte man auch in heutiger Zeit annehmen, daß man unangemeldet ein freies Zimmer finden könnte. Ja, mancher sah sie sogar mißtrauisch an, weil sie kein Gepäck bei sich hatte. Wäre es nicht doch vielleicht besser gewesen, die freundliche Hilfsbereitschaft des fremden Herrn, der hier Bescheid wußte, anzunehmen?

      Nun war es zu spät dazu. Man mußte anderweitig Rat schaffen. In den Bahnhofsanlagen zu kampieren, dazu waren die Nächte