Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Nesthäkchen war doch ungeheuer stolz, daß es das Weihnachtsbuch schon allein lesen konnte.

      »Du bist ja so nachdenklich, Lotte«, sagte Doktor Braun verwundert im Laufe des Abends, als Klein-Annemarie schon eine ganze Weile angelegentlich in das grüne Tannengeäst gestarrt und kein Wort gesprochen hatte. Das kam bei dem Plappermäulchen nicht oft vor.

      »Ich mußte eben bloß mal an Johannisbad denken, weil es da auch immer so schön nach Tannen gerochen hat wie heute hier. Was meinst du, Vatchen, ob die kleinen Meergänschen wohl auch einen Weihnachtsbaum haben und Geschenke bekommen?«

      »Sicherlich, Frau Meergans hat ja durch ihre vielen Sommergäste einen schönen Verdienst, da wird sie ihren Kleinen gewiß heute eine Freude machen«, lautete die beruhigende Antwort.

      »Und die Himbeermizi? Die hat ganz sicher keine Geschenke gekriegt! Ihre Eltern sind ja so arm, daß sie ihr nicht einmal eine Schulmappe kaufen konnten«, überlegte Nesthäkchen weiter. Plötzlich leuchteten Klein-Annemaries Blauaugen noch heller als sonst.

      »Vatchen, Mutti, würdet ihr wohl erlauben, daß ich der Himbeermizi von meinen Weihnachtsgeschenken etwas hinschicke? Ich habe doch so schrecklich viel gekriegt und die arme Mizi sicher gar nichts.« Erwartungsvoll sah die Kleine zu den Eltern auf.

      Nur zu gern gaben die Eltern ihre Einwilligung, sahen sie doch aus der Bitte, daß ihr Töchterchen bei aller Freude die nicht vergaß, denen es weniger gut ging als ihr selbst.

      Das gab jetzt ein emsiges Aussuchen.

      »Fräulein, glaubst du, daß Mizi sich über den Stickkasten freuen würde? Und ob sie wohl ein Kleid hat, zu dem sie die rosa Seidenschärpe tragen könnte? Die kleine Puppenschule von Tante Käthchen kann ich wohl selbst behalten, die Mizi ist doch so fleißig, die hat bestimmt keine Zeit, damit zu spielen, nicht wahr?« so beriet Annemarie eifrig.

      Fräulein half der Kleinen, eine verständige Auswahl unter ihren Geschenken zu treffen. Was sollte die Mizi mit einer rosa Schärpe? Das warme Wollröckchen und die dunkelblaue Kleiderschürze mit bunter Borte würden ihr sicherlich mehr zustatten kommen.

      »Tante Albertinchen,« – die Kleine drückte sich schüchtern an die alte Dame, – »würdest du es wohl übelnehmen, wenn ich der Himbeermizi meine neue Sportmütze schenken würde, die du mir gehäkelt hast? Sie ist so schön mollig, man kann sie bis über die Ohren ziehen, und Fräulein sagt, im Riesengebirge pfeift der Wind einem im Winter doll um die Ohren.«

      »Du bist ein gutes Kind«, sagte die alte Tante und nickte mit dem Kopf. Und all ihre grauen Löckchen nickten mit, als ob sie derselben Meinung wären. »Lege nur ruhig die Mütze bei, ich werde für meinen kleinen Liebling eine andere häkeln.«

      Mutti fügte Wäsche, warme Strümpfe und feste Schuhe von Klaus hinzu, Vater legte in das kleine Portemonnaie, das Nesthäkchen der Mizi überließ, ein Goldstück. Die gute Hanne brachte ihre halbe Weihnachtsstolle für das arme Kind, Frieda ein warmes Tuch. Hans und Klaus aber wollten nun auch nicht zurückstehen, die räuberten tüchtig ihre bunten Schüsseln mit Pfefferkuchen, Äpfeln und Nüssen für die Mizi.

      Ein feines Weihnachtspaket wurde es.

      »Nicht wahr, Fräulein, gleich morgen schicken wir es hin«, bat die Kleine, als sie bereits im Bett lag und kaum noch die Augen aufhalten konnte. Solchen schönen Heiligabend hatte Nesthäkchen noch nie erlebt. Das kam daher, daß sie auch anderen eine Freude machen wollte!

      Am ersten Feiertag ging die Weihnachtskiste an die Himbeermizi ab. Nesthäkchens Gedanken gaben ihr das Geleit und malten sich die Freude in dem kleinen Hüttchen aus, die sie hervorrufen würde.

      Dann aber hatte die Kleine andere wichtige Beschäftigung. Hoch oben auf ihrem Arbeitspult thronte sie und schrieb mit ihrer schönsten Schrift die Einladungen zur Kindergesellschaft auf die kleinen, neuen Weihnachtsbriefbogen.

      »Liebe Ilse,« stand da, »ich darf am dritten Feiertag eine Kindergesellschaft geben. Du sollst auch kommen.

      Deine Freundin Annemarie.«

      »So ist’s gar keine richtige Einladung. Du mußt schreiben, ›mit Erlaubnis meiner lieben Eltern bitte ich dich‹«, sagte Klaus mit weiser Miene.

      Aber Fräulein meinte, daß die Kinder wohl auch auf Annemaries Einladung hin kommen würden. Zu Nesthäkchens ungeheurer Erleichterung, denn es fürchtete schon, sämtliche acht Briefe noch mal schreiben zu müssen. Jetzt war die Kleine doch recht froh, daß Mutti ihren Vorschlag, alle fünfzig Kinder zu sich einzuladen, entsetzt abgelehnt hatte. Sonst wäre sie mit dem Schreiben der Briefchen wohl erst am vierten Feiertag fertig geworden, und am dritten sollte die Kindergesellschaft doch schon stattfinden.

      Annemarie hatte so lange gebeten, auch Hilde Rabe ein rosa Einladungsbriefchen schicken zu dürfen, bis Mutti diesem Wunsche nachgegeben hatte.

      »Denn sieh’ mal, Muttchen,« hatte die Kleine erklärt, »ich habe der Hilde gleich, als wir in die Schule kamen, gesagt, sie solle meine zweitbeste Freundin sein. Da muß ich sie doch einladen, sonst ist sie bestimmt traurig. Und sie ist jetzt auch gar nicht mehr so ungezogen, und Letzte sitzt sie auch nicht mehr, sondern Vorletzte!«

      Alle kamen sie, Hilde Rabe sogar schon um drei Uhr, statt um vier. Doktor Brauns saßen noch beim Mittagstisch, denn Vater war spät von der Praxis nach Hause gekommen.

      Nesthäkchen wollte spornstreichs von Tisch laufen und mit ihrem Besuch spielen. Aber das litt Mutti nicht. Ehe »Gesegnete Mahlzeit« gewünscht ist, darf man nicht von Tisch aufstehen.

      Hilde wurde inzwischen ins Kinderzimmer geführt, und Puppe Gerda hatte die Aufgabe, den kleinen Besuch zu unterhalten. Trotzdem sich die Puppe alle Mühe gab, sah die von Annemarie zum Empfang ihrer kleinen Gäste gar sauber hergerichtete Kinderstube lustig aus, als Annemarie sie nach beendigtem Mittagessen betrat. Da waren die Puppenbetten aus Wagen und Bettstelle gerissen und lagen ringsum auf dem Boden. Sämtliche Puppen, die bereits in ihrem Sonntagsstaat dasaßen, waren ausgezogen und die Kleider überall herumgestreut. Ja, sogar eins von Annemaries niedlichen rosa Täßchen lag in Scherben auf der Erde.

      Nesthäkchen war empört. Es fehlte nicht viel, dann hätte es angefangen zu weinen.

      »Du, wenn ich gewußt hätte, daß du mir meine Kinderstube so liederlich machst, hätte ich dich nicht eingeladen«, rief die Kleine nicht gerade gastfreundlich.

      »Aber Annemie,« ermahnte Fräulein leise, »zu seinem Besuch muß man stets nett sein!«

      Nesthäkchen sollte heute noch öfters erfahren, daß solche Kindergesellschaft, so schön sie auch ist, doch auch manche Schattenseite haben kann, besonders für die Wirtin.

      Punkt vier begann die Klingel – klingling – sich in Bewegung zu setzen. Ein Kind nach dem anderen erschien, die meisten in weißen Kleidern. Sie knicksten vor Frau Doktor, bestellten die ihnen aufgetragenen Grüße ihrer Mutter und wagten zuerst überhaupt nicht, den Mund aufzumachen. Nur Hilde Rabe redete keck drauflos.

      Aber als Annemarie jetzt ihre kleinen Freundinnen in das Weihnachtszimmer führte und ihnen ihre schönen Geschenke zeigte, löste sich die verlegene Befangenheit.

      »Hast du aber viel geschenkt bekommen,« sagte Margot bewundernd – »och, ich hab’ noch viel, viel mehr gekriegt!« rief Hilde dazwischen.

      »Mein Märchenbuch ist noch mal so dick wie deins«, rühmte sich auch Ruth.

      »Und meine Cousine hat eine Puppenschule mit einer großen, schwarzen Tafel und einer Landkarte«, übertrumpfte Ilse sie noch.

      »Ich finde meine aber auch sehr schön«, sagte Annemarie ärgerlich.

      Mariannchen, welche die süße, kleine Lampe für die Puppenstube bewunderte, zerschlug dabei den Zylinder. Hilde Rabe aber ärgerte Mätzchen mit kß, kß, kß, daß es aufgeregt im Bauer umherflatterte.

      Die kleine Wirtin war ordentlich erleichtert, als Fräulein die Kinder zur Schokolade rief. Schokolade mit Schlagsahne! Ei, wie das schmeckte, wie die kleinen Mäulchen schleckten! Von der anfänglichen Verlegenheit war keine Spur mehr zu merken,