willen einen Vorwurf gegen uns erheben dürfte. Aber es ist in der gegenwärtigen Gefahr für uns ein Gebot der Selbsterhaltung, zu erwägen, ob Japan in Wahrheit der einzige und der eigentliche Feind ist, gegen den wir uns zu verteidigen haben. Und es liegen triftige Gründe vor, die uns dahin führen müssen, diese Frage zu verneinen. Die Regierung Seiner Majestät ist überzeugt, daß wir den japanischen Angriff lediglich der lange währenden und in ihrer heimlichen Wühlarbeit nimmer ruhenden Feindschaft Englands zu danken haben. Unablässig ist England von jeher darauf bedacht gewesen, uns zur Erlangung eigenen Vorteils zu schaden. Bei allen unseren Bestrebungen, das Wohl des Reiches zu fördern und die Völker glücklich zu machen, sind wir von jeher auf den Widerstand Englands gestoßen. Vom chinesischen Meere aus durch ganz Asien hindurch bis zur baltischen See legt England uns Schwierigkeiten in den Weg, um uns der Früchte unserer Kulturarbeit zu berauben. Niemand von uns ist darüber im Zweifel, daß Japan in Wahrheit die Sache Englands führt. Aber auch überall, wo sonst auf dem Erdball unsere Interessen in Frage stehen, stoßen wir auf die offenen oder versteckten Feindseligkeiten Englands. Die von ihm erregten und mit den verwerflichsten Mitteln begünstigten Wirren in den Balkanländern und in der Türkei haben einzig den Zweck, uns mit Oesterreich und Deutschland zu verfeinden. Und nirgends treten die eigentlichen Ziele Britanniens deutlicher zu Tage, als in Mittelasien. Mit unsäglichen Mühen und den größten Opfern an Gut und Blut haben weise Regenten die öden, von halbwilden Völkern bewohnten Landstrecken zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meere und östlich von diesem bis zur chinesischen Grenze und an den Himalaja der russischen Kultur zugänglich gemacht. Nie aber haben wir einen Schritt nach Osten oder Süden tun können, ohne englischem Widerspruch oder englischen Intriguen zu begegnen. Jetzt stehen wir nahe der Grenze des britischen Ostindien und unmittelbar an der Grenze Persiens und Afghanistans. Wir haben freundschaftliche Beziehungen zu den Herrschern dieser beiden Reiche geschaffen, pflegen einen eifrigen Handelsverkehr mit ihren Völkern, unterstützen ihre industriellen Unternehmungen und sind vor keinen Opfern zurückgeschreckt, um diese Länder den Segnungen der Kultur zugänglich zu machen. Aber auf Schritt und Tritt sucht England unsere Tätigkeit zu hemmen. Britisches Gold und britische Hetzereien waren es, die in Afghanistan zeitweilig eine kriegerische Stellung gegen uns hervorzurufen vermochten. Einmal endlich müssen wir uns die Frage vorlegen, wie lange wir solchem Beginnen untätig zusehen dürfen. Rußland muß sich den Weg zum Meere frei machen. Viele Millionen rüstiger Arme bebauen die heilige Erde unseres Vaterlandes. Wir verfügen über unermeßliche Schätze an Getreide, Holz und an allen Produkten der Landwirtschaft. Aber wir können nur mit einem geringfügigen Bruchteil dieses uns vom Himmel beschiedenen Segens auf den Weltmarkt gelangen, weil wir von allen Seiten eingeschlossen und eingeengt sind, solange uns der Weg zum Meere versperrt bleibt. Unsere mittelasiatischen Provinzen ersticken aus Mangel an Seeluft. Das weiß England sehr gut, und darum ist all sein Verlangen darauf gerichtet, uns das Meer zu verschließen. Mit einer durch nichts berechtigten Anmaßung erklärt es den persischen Golf für seine Domäne und möchte das ganze indische Meer, gleich Indien selbst, für sein Eigentum gehalten wissen. Diesem Uebermut sollte endlich ein gebieterisches ‚Halt‘ zugerufen werden, wenn unser geliebtes Vaterland nicht in die Gefahr geraten soll, unübersehbaren Schaden zu erleiden. Nicht wir sind es, die den Kampf suchen, sondern man zwingt ihn uns auf. Ueber die Mittel aber, mit denen er zu führen wäre, wenn England sich aus freien Stücken zu einer Erfüllung unserer berechtigten Forderungen nicht versteht, würde uns am besten Seine Exzellenz der Herr Kriegsminister Auskunft zu geben vermögen.“
Er verbeugte sich abermals gegen die Großfürsten und ließ sich in seinen Sessel nieder; die hohe stattliche Gestalt des Kriegsministers Kuropatkin war es, die sich jetzt auf einen Wink des Präsidenten erhob und Antwort gab.
„Zwanzig Jahre habe ich in Mittelasien gedient, und ich beurteile unsere Lage an der Südgrenze aus eigener Anschauung. Für einen Krieg gegen England ist Afghanistan zunächst der entscheidende Schauplatz. Drei wichtige Pässe führen aus Afghanistan nach Indien hinein: der Kaiberpaß, der Bolanpaß und das Kuramtal. Als die Engländer im November des Jahres 1878 in Afghanistan einmarschierten, gingen sie in drei Kolonnen von Peschawar, von Kohat und von Quetta aus auf Kabul, Gasna und Kandahar. Diese drei Wege sind auch uns vorgezeichnet. Die öffentliche Meinung hält sie für die allein möglichen. Es würde zu weit führen, wenn ich meine strategische Ansicht über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Annahme hier entwickeln wollte. Genug: wir werden den Weg nach Indien finden. Habib Ullah Khan würde sein sechzigtausend Mann starkes Afghanenheer zu uns stoßen lassen, sobald wir in sein Land einrückten. Allerdings ist er ein Bundesgenosse von zweifelhafter Zuverlässigkeit; denn er würde wahrscheinlich ebenso bereitwillig mit den Engländern gehen, wenn diese zuerst mit einer Macht, die ihm hinlänglich imponierte, in seinem Lande erschienen. Aber es hindert uns nichts, die ersten zu sein. Unsere Eisenbahn führt bis Merw, 120 Kilometer von Herat, und von dieser Zentralstelle bis zur Grenze Afghanistans. Mit unserer transkaspischen Bahn können wir die kaukasischen Armeekorps und die Truppen des Generalgouvernements Turkestan an die afghanische Grenze bringen. Ich mache mich anheischig, innerhalb vier Wochen nach der Kriegserklärung eine ausreichende Feldarmee in Afghanistan um Herat herum konzentriert zu haben. Unserer ersten Armee aber kann ein unablässiger Strom von Regimentern und Batterien folgen. Die Reserven des russischen Heeres sind unerschöpflich, und wir stellen, wenn es sein muß, vier Millionen Soldaten und mehr als eine halbe Million Pferde ins Feld. Ich möchte aber bezweifeln, daß England uns in Afghanistan entgegentreten wird. Die englischen Generäle würden jedenfalls nicht sehr klug daran tun, Indien zu verlassen. Würden sie in Afghanistan geschlagen, so kämen sicherlich nur schwache Trümmer ihres Heeres nach Indien zurück. Die Afghanen würden eine fliehende englische Armee erbarmungslos vernichten, wie sie es schon einmal getan haben. Wir aber, wenn sich, was Gott verhüten möge, das Kriegsglück anfänglich gegen uns wendete, hätten immer noch einen Rückweg nach Turkestan offen, auf dem man uns schwerlich folgen würde, und wir könnten den Angriff jederzeit erneuern. Wird die englische Armee geschlagen, so ist Indien für Großbritannien verloren. Denn die Engländer stehen in Indien wie in Feindesland; sie finden als Unterliegende keinen Rückhalt im indischen Volke. Von den eingeborenen Fürsten, deren Selbständigkeit sie brutal vernichtet haben, würden sie in dem Augenblick, da ihre Macht zusammenbricht, auf allen Seiten angegriffen werden. Uns aber würde man als Befreier von einem unerträglichen Joch mit offenen Armen empfangen. Die anglo-indische Armee sieht auf dem Papier viel gefährlicher aus, als in der Wirklichkeit, sie zählt angeblich 200000 Mann; aber nur ein Drittel davon sind englische Soldaten, während sich der Rest aus Eingeborenen zusammensetzt. Und diese Armee besteht überdies aus vier Korps, die über das ganze große Gebiet Indiens verteilt sind. Eine Feldarmee, die an der Grenze oder jenseits der Grenze verwendet werden sollte, müßte erst aus diesen vier Korps herausgezogen und neu organisiert werden. Sie könnte höchstens 60000 Mann stark sein, weil das Land um der Unzuverlässigkeit der Bevölkerung willen nicht von Garnisonen entblößt werden darf. Ich möchte nach all diesem meiner Ueberzeugung dahin Ausdruck geben, daß der Krieg in Indien selbst geführt werden muß und daß Gott uns den Sieg verleihen wird.“
Die in energischem und zuversichtlichem Ton vorgebrachten Ausführungen des Generals hatten ersichtlich einen tiefen Eindruck auf die Hörer gemacht. Aber die Rücksicht auf die Anwesenheit der Großfürsten verhinderte jede laute Kundgebung. Der greise Präsident reichte dem Kriegsminister die Hand. Dann erteilte er dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten das Wort.
„Es unterliegt für mich keinem Zweifel,“ sagte der Diplomat, „daß die soeben von Seiner Exzellenz dem Herrn Kriegsminister entwickelten strategischen Ansichten einer eingehenden Sachkenntnis und richtigen Würdigung der Verhältnisse entsprungen sind, und ich bin gewiß, daß die sieggewohnten Truppen Seiner Majestät des Zaren im Falle eines Krieges bald in der Ebene des Indus stehen werden. Auch ist es durchaus meine Ueberzeugung, daß Rußland am besten tun würde, die Offensive zu ergreifen, sobald sich einmal die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Verhältnisses zu England erwiesen hat. Aber wer mit Großbritannien Krieg führt, darf nicht mit einem Kriegsschauplatz rechnen. Wir müßten im Gegenteil auf Angriffe der verschiedensten Art gefaßt sein, zunächst wohl auf einen Angriff auf unsere Finanzen, unsern Kredit, worüber Exzellenz Witte uns bessere Aufschlüsse geben könnte als ich. Die englische Bank und die mit ihr verbündeten großen Bankhäuser würden diesen Finanzkrieg ungesäumt eröffnen. Weiter würde sich schwerlich noch ein unter russischer