Hast, ohne sich von seinem Untergebenen mit einem Wort oder einem Blick zu verabschieden. Der Fremde hatte sich schon vorher entfernt, der alte Kirchendiener ging auf den leeren Beichtstuhl zu, er sah ihn fragend an, als wenn das tote Holz das Geheimnis hätte verraten können, und brummte: »Der gute Herr Chaubard hat mehr gehört, als ihm lieb ist.«
Inzwischen wurde es Abend. Im Hause des Herrn Siadoux wurde der Tisch gedeckt, und man erwartete die Heimkehr des Hausherrn. Die Töchter sahen oftmals zu den Fenstern des oberen Stockes hinaus, von denen aus man ein großes Stück der Landstraße übersehen konnte, aber von ihrem Vater war keine Spur zu entdecken.
Die Witwe Mirailhe und die beiden Nachbarn fanden sich pünktlich ein. Herr Chaubard dagegen, der sonst niemals auf sich warten ließ, kam nicht. Die Sonne ging unter, es fing an zu dunkeln, und noch immer waren weder Siadoux noch der Pfarrer erschienen.
Die kleine Gesellschaft saß wartend um den Tisch herum. Nach einer Weile wurde aus der Küche heraufgeschickt, die Speisen müßten nun gegessen werden, sonst würden sie verbrennen.
Man beriet, was zu tun wäre. Endlich sagte Frau Mirailhe: »Ich glaube, mein Bruder kommt heute nacht gar nicht mehr nach Hause. Es ich wohl das beste, wenn wir mit dem Essen beginnen, sobald Herr Chaubard kommt.«
»Dem Vater wird doch kein Unglück zugestoßen sein?« fragte eine der beiden Töchter.
»Das verhüte Gott«, versetzte die Witwe.
»Das verhüte Gott«, wiederholten die Nachbarn und warfen einen sehnsüchtigen Blick auf den leeren Eßtisch.
»Es war ein höchst ungünstiger Tag zum Reisen«, sagte Ludwig, der älteste Sohn.
»Es regnete gestern fortwährend«, ergänzte der zweite Sohn Thomas.
»Und deines Vaters Rheumatismus erlaubt ihm eigentlich nicht, daß er bei nassem Wetter reist«, bemerkte die Witwe nachdenklich.
»Das ist ganz richtig!« stimmte der erste der beiden Nachbarn zu und schüttelte beim Anblick seines untätigen Besteckes ärgerlich den Kopf.
Abermals wurde von der Küche heraufgeschickt, die Gesellschaft möchte doch nicht mehr länger warten lassen.
»Wo bleibt aber Herr Chaubard? Ist er etwa auch verreist? Warum ist er denn nicht da? Hat ihn denn heute niemand gesehen?« fragte die Witwe Mirailhe.
»Ich habe ihn heute schon gesehen«, erwiderte der jüngste Sohn, der bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte. Der junge Mann hieß Johann; er war nichts weniger als zungenfertig, dafür hatte er aber schon bei mancherlei Veranlassungen bewiesen, daß er, wenn es sich um scharfe Beobachtung oder eine rasche Tat handelte, das brauchbarste Mitglied der Familie war.
»Wo hast du ihn gesehen?« fragte die Witwe.
»Ich begegnete ihm heute morgen auf dem Wege nach Toulouse.«
»Er ist doch hoffentlich nicht krank geworden? Sah er vielleicht krank aus, als du ihm begegnetest?«
»Er sah gesund und wohlgemut aus. Er sah in seinem Leben nie besser aus.«
»Und ich habe gefunden, daß er niemals schlechter aussah als heute«, warf der zweite Nachbar in dem verdrießlichen Tone eines hungrigen Menschen ein.
»Wie? Heute morgen?« rief Johann erstaunt.
»Nein, heute nachmittag«, antwortete der Nachbar.
»Ich begegnete ihm, als er hier in die Kirche ging. Er war so weiß wie unsere Schüsseln – die wir erwarten. Und was das auffallendste dabei war: er ging an mir vorüber, ohne mich auch nur im geringsten zu beachten.«
Johann schwieg, es trat eine Pause in der Unterhaltung ein; man hörte, daß draußen der Regen in Strömen herunterfiel und an die Fenster schlug; es war mittlerweile völlig Nacht geworden. Nach einigen Minuten hob die Witwe Mirailhe von neuem an:
»Wenn es nicht so heftig regnete, könnten wir jemand wegschicken, um nach dem guten Herrn Chaubard fragen zu lassen.«
»Ich will gehen und mich erkundigen«, erklärte sich Thomas Siadoux bereit. »Es sind ja keine fünf Minuten bis zu seiner Wohnung. Man kann einstweilen das Nachtessen anrichten; ich werde einen Mantel mitnehmen, und wenn Ihr vortrefflicher Herr Chaubard noch nicht im Bett ist, so bringe ich ihn mit, dann mag er sich selbst verantworten.«
Mit diesen Worten entfernte sich der Jüngling. Das Nachtessen wurde jetzt aufgetragen. Der hungrige Nachbar stritt von diesem Augenblick mit niemand mehr, und auch der andere Nachbar bekam wieder gute Laune.
Als Thomas Siadoux in das Haus des Priesters kam, fand er diesen allein in seinem Studierzimmer. Herr Chaubard sprang entsetzt auf, als der junge Mann bei ihm eintrat.
»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer,« nahm Thomas das Wort, »ich fürchte, ich habe Sie erschreckt.«
»Was wollen Sie von mir?« fragte Herr Chaubard in einem eigentümlich barschen, halb verlegenen Tone.
»Haben Sie das heutige Abendessen bei uns vergessen?« versetzte Thomas. »Mein Vater ist zwar noch nicht zurückgekommen, wir müssen aber vermuten –«
In diesem Augenblick fiel der Priester in seinen Stuhl zurück, er schien von einem Fieberschauer erfaßt zu werden, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen schüttelte. Obgleich aufs äußerste erstaunt über diese merkwürdige Aufnahme, die die Wiederholung seiner Einladung gefunden hatte, dachte Thomas Siadoux doch daran, daß er sich verpflichtet hatte, Herrn Chaubard mitzubringen, und deshalb fuhr er in demselben Tone fort:
»Wir glauben, daß das Wetter meinen Vater unterwegs aufgehalten hat. Das ist aber für uns kein Grund, das Essen verderben zu lassen oder auf Ihre Gesellschaft zu verzichten, die Sie uns zugesagt haben. Hier ist ein guter warmer Mantel.«
»Ich kann nicht mitgehen«, erwiderte der Priester. »Ich fühle mich unwohl, ich bin schlecht aufgelegt und gar nicht in der Stimmung, auszugehen.« Dabei seufzte er tief und barg sein Gesicht in den Händen.
»Sagen Sie das nicht, Herr Pfarrer«, drang Thomas in ihn. »Wenn Sie schlecht aufgelegt sind, so wollen wir versuchen, Sie aufzuheitern, und Sie Ihrerseits werden zu unserer Unterhaltung beitragen. Man erwartet Sie in unserem Hause. Schlagen Sie es mir nicht ab, Herr Pfarrer, sonst müßten wir ja glauben, wir hätten Sie auf irgendeine Weise beleidigt. Sie waren doch sonst auf unsere Familie stets gut zu sprechen.«
Herr Chaubard erhob sich abermals von seinem Stuhl. Sein Benehmen hatte sich wieder gänzlich verändert, und zwar in ebenso auffallender Art wie zuvor. Seine Augen glänzten, als wenn Tränen darin standen, er faßte die Hand des Thomas Siadoux und drückte sie lange und herzlich. Es lag ein eigentümlicher Ausdruck von Mitleid und Angst in dem Blick, den er auf den jungen Mann richtete.
»Sie sollen nie an meiner Freundschaft zweifeln, auch heute nicht«, sagte er ernst. »So unwohl ich mich auch fühle, will ich doch an dem Abendessen teilnehmen, um Ihretwillen –«
»Und um meines Vaters willen!« fügte Thomas überredend hinzu.
»Lassen Sie uns also gehen.«
Thomas Siadoux legte ihm den Mantel um, beide verließen die Wohnung des Pfarrers und traten nach kurzer Zeit in den Kreis der wartenden Gesellschaft.
Herr Chaubard entschuldigte sein Ausbleiben mit einem Nervenübel, das ihn öfter befalle, er wolle jedoch sein möglichstes tun, um die Gesellschaft unterhalten zu helfen. Alle Anwesenden fanden das Aussehen des Pfarrers verändert, und nicht bloß sein Aussehen, auch sein Benehmen war merkwürdig. Er nahm zwar scheinbar teil an der Unterhaltung, aber sein Gespräch war unzusammenhängend und wirr, seine Heiterkeit gezwungen, er stocherte in dem Essen herum, trank dann schnell nacheinander mehrere Gläser Wein und versank oft in Gedanken, aus denen er nachher plötzlich wieder auffuhr. Die Nachbarn bedauerten die Abwesenheit des Hausherrn, verschiedene Male wurden die Fragen aufgeworfen, was ihn wohl unterwegs aufgehalten haben möchte, wo er wohl die Nacht zubringen und ob er wohl morgen kommen würde.
Sooft der Name des Herrn Saturnin Siadoux genannt ward, gab Herr Chaubard dem Gespräch eine andere