das weiß ich jetzt.« Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen.
Das mochte stimmen, aber immerhin existierte eine Geburtsurkunde, die einen Stefan Behrend als Vater des Kindes auswies.
*
Unerklärliche Gefühle bewegten Anschi, wenn sie mit dem Kind sprach. Eine Vertrautheit war zwischen ihnen, die unbegreiflich war.
Manchmal dachte Anschi, dass Sabine Stefans Kind sein müsse. Dann jedoch stieg ein heißer Zorn gegen ihren Mann in ihr empor.
Es war sechs Uhr, als Stefan von Stuttgart anrief, und sie war richtig erschrocken, als sie seine Stimme vernahm, obgleich er ihr versprochen hatte, anzurufen.
Sie war kurz angebunden. Am Telefon konnte sie unmöglich über Sabine mit ihm sprechen.
»Was fehlt dir?«, fragte er. »Bist du etwa böse auf mich?«
»Nein.«
»Aber deine Stimme klingt so komisch. Fühlst du dich nicht wohl?«
»Doch.«
»Sag mir doch, was dich bedrückt, Liebling. Ich mache mir Sorgen.«
»Darüber sprechen wir morgen, wenn du zurück bist.«
»Es ist doch nichts mit dem Baby?«, fragte er erregt.
An ihr eigenes Kind hatte sie gar nicht mehr gedacht, nur an jenes, das da am Tisch saß und mit großen Augen zu ihr herüberblickte.
»Es ist wirklich alles in Ordnung, Stefan«, versicherte sie. »Bis morgen.«
»Warum hast du nichts von mir gesagt?«, fragte Sabine.
»Weil man so etwas am Telefon nicht bereden kann. Pass auf, gleich wird meine Mutter anrufen, und dann werde ich auch nichts sagen.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als das Telefon schon wieder läutete. Es war ihre Mutter, und diese war über Anschis knappe Antworten mindestens ebenso bestürzt wie Stefan.
*
»Wir werden morgen nach Hohenborn fahren und dir ein paar hübsche Sachen kaufen«, sagte Anschi, um das Kind abzulenken, denn Sabine war jetzt in melancholische Stimmung geraten.
»Du sollst kein Geld für mich ausgeben«, erwiderte Sabine leise. »Und dann werden mich auch die Leute sehen.«
»Die können dich doch sehen.«
»Aber sie werden reden. Enzo hat auch immer gesagt, dass die Leute reden und womöglich noch denken, dass er mein Vater sei. Das wollte er nicht, und das wird dein Mann auch nicht wollen.«
Da mochte sie nicht so ganz unrecht haben. Anschi überlegte, was wohl Herr Münster denken würde, wenn Stefan plötzlich eine neunjährige uneheliche Tochter hatte.
»Weißt du, wir könnten ja sagen, dass du eine kleine Verwandte bist«, schlug sie vor. »Du bist zu Besuch bei uns.«
»Geht das denn?«, fragte Sabine. »Und wo komme ich hin, wenn der Besuch vorbei ist?«
»Daran wollen wir jetzt mal gar nicht denken«, entgegnete Anschi. »So ganz einfach ist das natürlich nicht.« Sie seufzte.
»Für dich auch nicht. Du willst sicher kein so großes Kind haben«, flüsterte Sabine. »Überhaupt mache ich dir Scherereien, und das will ich doch gar nicht«, schluchzte sie auf.
Wieso nehme ich eigentlich alles so gelassen hin, fragte sich Anschi. Es ist doch nicht irgendein Kind, dem ich Freundlichkeiten erweise, wie man sie eben einem hilflosen Wesen erweist. Es ist Stefans Tochter, wenn da nicht irgendeine Intrige im Gange ist.
Aber warum sollte man plötzlich, nach so vielen Jahren, eine Intrige heraufbeschwören, noch dazu wo die Mutter des Kindes tot war?
Sie sah Sabine an. Tiefer Kummer stand in dem schmalen Gesichtchen.
»Eines verspreche ich dir, Sabine«, sagte sie, »in ein Heim kommst du bestimmt nicht mehr und zu dem Enzo auch nicht«
Da schlang Sabine ihre Arme um Anschis Hals und flüsterte: »Danke, Anschi! Du bist der liebste Mensch von der Welt!«
*
Anschi betrachtete sich im Spiegel. »So, das bin ich«, sagte sie leise. »Angelika Behrend, die immer jemanden brauchte, an den sie sich klammern konnte, die immer Angst vor dem Alleinsein hatte und nichts selbst entscheiden konnte. Mein lieber Stefan, jetzt bin ich aber sehr gespannt, was du zu deiner Frau sagen wirst und wie du dich aus der Affäre zu ziehen gedenkst. Glaube ja nicht, dass du mir mit Ausflüchten kommen kannst.«
Währenddessen lag Stefan Behrend in seinem kahlen Hotelzimmer im Bett. Er machte sich Sorgen um seine Frau.
Was hatte Anschi nur? Warum hatte sie ihm kein liebes Wort gesagt?
Er konnte nicht schlafen. Am liebsten hätte er noch mal angerufen. Aber dann bekam Anschi womöglich einen Schrecken. Das wollte er auch nicht. Morgen bin ich ja wieder daheim, dachte er.
Anschi hatte sich wieder mit dem Inhalt der Tasche beschäftigt. Ein Kuvert, das an Herrn Stefan Behrend adressiert war, lag auch darin. Dann Schulhefte von Sabine, die davon zeugten, dass sie eine sehr ordentliche Schülerin sein musste.
Sie betrachtete die Puppe, die nach Sabines Worten von ihrer Mutter selbst gefertigt worden war. Fast künstlerisch konnte man sie nennen, und doch war es eine Puppe so richtig zum Liebhaben. Erika Messner musste ihr Kind liebgehabt haben. Woran sie wohl gestorben sein mochte? An gebrochenem Herzen?
Anschi kroch ein Frösteln über den Rücken, als sie daran dachte, dass ihren Mann die Schuld daran treffen könnte. Würde alles noch so sein können wie früher?
Nein, das nicht. Aber sie mussten einen Weg suchen, der auch Sabines Wohl einschloss.
Und nun dachte sie an ihr Kind, auf das sie sich so freute.
War es nicht purer Hohn, dass Sabine ausgerechnet jetzt in ihr Leben treten musste?
Sie ging noch einmal zu dem Mädchen.
Du kannst nichts dafür, dachte sie. Du darfst nicht dafür büßen. Und sie fühlte sich plötzlich sehr stark.
*
»Und wenn sie Sabine einfach auf die Straße setzen?«, fragte Ruth Enzo Ragazzi.
»Hör doch endlich damit auf!«, schrie er sie an. »Mamma Mia, hol sie doch und scher dich mit ihr zum Teufel!«
»Ich hätte doch mit Stefan Behrend sprechen müssen«, bemerkte sie. »Es hätte sich so gehört. Schließlich sind wir aus einer anständigen Familie.«
»Er hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich um das Kind zu kümmern! Lange genug habe ich es ernährt!«
Du lieber Gott, dachte sie, was hat er schon getan. Warum muss ich so an ihm hängen.
»Wir wollen doch selbst Bambinis haben, Ruth«, sagte er da in sanftem Ton. »Wir wollen uns ein neues Leben aufbauen. Wir müssen beide arbeiten. Sei doch vernünftig! Morgen früh geht das Schiff in See«, wechselte er das Thema, »dann beginnt die Zukunft, Ruth! Eine herrliche Zukunft!«
Aber sie konnte ihm nicht glauben. Sie fragte sich, ob man ein Leben mit so viel Gewissensbissen beginnen konnte.
*
Bambi Auerbach kam mit hochroten Wangen zu ihrer Mami in die Küche geflitzt.
»Warum rennst du nur immer so, Bambi!«, sagte Inge Auerbach mahnend. »Du glühst ja förmlich.«
»Du, Mami, ich habe Frau Behrend mit einem Mädchen gesehen!«, sprudelte Bambi hervor. »Sie sind in den Bus eingestiegen.«
»Na und?«, fragte Inge.
»Das sah aber ein bisschen arm aus, das Mädchen. Wie ein Ferienkind.«
»Vielleicht ist es ein Ferienkind«, bemerkte Inge Auerbach.
»Jetzt sind doch aber keine Ferien«, entgegnete Bambi.