fast verzweifelt. Guter Gott, was sollte sie denn machen?
»Da kommt ein Taxi«, sagte sie rasch. »Du wirst gleich bei deinem Vater sein, und wenn wir die Geschäfte abgeschlossen haben, besuche ich dich. Hier hast du noch Geld, Kleine. Ciao, Sabine.«
Das Taxi hatte schon gehalten. Ruth schob das Kind hinein.
»Nach Erlenried, Frühlingsstraße sieben.«
Sabine Messner presste die Lippen aufeinander. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Gewiss hatte sie bei Tante Ruth und Enzo kein glückliches Leben gehabt, aber es waren die einzigen Menschen, die ihr nahestanden. Und nun sollte sie zu einem Vater, den sie nie gesehen hatte.
*
Anschi hatte Ordnung geschaffen in ihrem hübschen Haus, sofern das überhaupt nötig war, denn obgleich sie sehr verwöhnt worden war, hatte sie immer auf Ordnung gehalten.
Die Sonne lockte. Was sollte sie im Haus sitzen? Viel Bewegung hatte auch Dr. Riedel ihr verordnet, der nette Arzt aus dem Sonnenwinkel, den sie schon bald nach ihrem Einzug aufgesucht hatte.
Sie zog den Mantel an, und da klingelte das Telefon. Natürlich war es ihre Mutter. Sie rief jeden Morgen an. Ob Vati nicht über die Telefonrechnung schimpfte, dachte Anschi. Warum ruft Mutti nicht abends an. Aber da war ja Stefan daheim, und Norma Kerst grollte ihrem Schwiegersohn noch immer.
»Ja, es geht mir gut, Mutti. Ich will eben ein Stück spazieren gehen«, sagte Anschi.
In die besorgten Ratschläge ihrer Mutter hinein schlug der Türgong an.
»Es läutet, Mutti. Ruf doch heute Abend an.«
Anschi ging zur Tür und sah ein Taxi wegfahren. Dann erst bemerkte sie das Kind, das schüchtern am Pfosten der Gartentür lehnte.
»Zu wem möchtest du denn?«, fragte sie freundlich.
»Zu Herrn Stefan Behrend«, erwiderte Sabine.
»Was willst du denn? Mein Mann ist verreist.«
Hilfesuchend blickte sich Sabine um, aber es war niemand da, der ihr hätte helfen können.
»Tante Ruth schickt mich«, brachte sie stockend hervor. »Mein Vater weiß schon Bescheid, hat sie gesagt.«
»Dein Vater?«, wiederholte Anschi ungläubig. »Wir wohnen hier ganz allein.«
Sie war zur Gartentür gegangen und öffnete diese. Schließlich war das ein Kind, und Anschi liebte Kinder.
»Tante Ruth hat aber gesagt, dass Stefan Behrend mein Vater ist«, flüsterte Sabine.
Anschi wurde es schwarz vor den Augen.
»Nein«, stammelte sie, »das stimmt nicht! Das ist ein Irrtum!«
Sabine betrachtete sie mit traurigen Augen.
»Aber wo soll ich jetzt hin? Tante Ruth ist doch mit Enzo fortgefahren.«
Anschi nahm sich zusammen. Schließlich musste es eine Erklärung geben, dass man das Kind hierhergeschickt hatte.
»Komm herein«, sagte sie mit aller Kraftanstrengung. »Erzähle mir alles.«
»Mir ist sehr bange«, flüsterte Sabine, und sie wusste nicht, dass sie damit schon einen winzigen Schritt tat, Anschis Herz zu gewinnen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte sie tröstend. »Wir werden uns jetzt mal vernünftig unterhalten. Wie heißt du?«
»Sabine Messner.«
»Wie alt bist du?«
»Neun Jahre.«
»Und woher kommst du?«
»Aus Verona«, erwiderte Sabine leise. »Enzo wohnt dort.«
»Und deine Mutter?«
»Meine Mutter ist tot, schon lange. Ich war bei Tante Ruth, und sie war in Verona. Wenn aber mein Vater gar nicht hier ist, wie Tante Ruth gesagt hat, dann will ich Sie nicht belästigen.«
Es klang rührend, und trotz all der wirren Gedanken, die Anschi durch den Sinn gingen, konnte sie dem Kind ihr Mitgefühl nicht versagen.
»Du belästigst mich nicht. Hast du Hunger?« Das Kind sah so aus.
Sabine nickte. »Wir sind die ganze Nacht gefahren. Ich habe gar nicht geschlafen«, bemerkte sie scheu.
»Jetzt wirst du erst mal essen«, sagte Anschi. Das muss ein unheilvoller Irrtum sein, dachte sie wieder, aber deshalb konnte man dieses Kind nicht einfach auf die Straße setzen.
Als Sabine die leckeren Brötchen sah und der Kakaoduft ihr in die Nase stieg, war ihre Angst erst einmal verschwunden. Die Dame war nett. Sie schimpfte nicht und schickte sie nicht gleich wieder fort.
»So, jetzt badest du, und dann legst du dich hin. Wenn du nicht zu müde bist, erzählst du noch ein bisschen«, meinte Anschi, vorerst alle finsteren Gedanken von sich schiebend.
»Sie sind sehr lieb«, sagte Sabine leise. »So lieb war noch niemand zu mir.«
Diese Worte tönten in Anschis Ohren fort, als sie für das Kind das Bett im Gästezimmer zurechtmachte. Sie gab der Kleinen ein kurzes Nachthemdchen von sich. Sehr schmal war das Körperchen. Es sah so aus, als hätte sie nie genügend zu essen bekommen.
Anschi wunderte sich, dass sie jeden Gedanken daran, dass Sabine Stefan Behrend als ihren Vater bezeichnet hatte, ausschalten konnte. Es war unmöglich. Sie wies es von sich.
Sabine kuschelte sich in die duftenden Kissen.
»Sie haben schöne Zimmer«, bemerkte sie andächtig, »ich habe noch nie so ein schönes Haus gesehen.«
»Hast du immer in Verona gelebt?«, fragte Anschi.
»Nicht immer. Die letzten Jahre, seit Mama tot ist. Mama war lange krank, und ich war in einem Heim. Dann ist Tante Ruth gekommen und hat mich geholt.«
»Und wann war das?«
Sabine überlegte. »So vor zwei Jahren. Ja, ich hatte gerade meinen siebenten Geburtstag gehabt.«
»Dann seid ihr nach Verona gegangen?«
Sabine nickte. »Tante Ruth hatte eine Stellung in einem Hotel. Wir konnten auch dort wohnen. Und dann hat sie Enzo kennengelernt. Da hatte sie nicht mehr viel Zeit für mich.« Die Augen fielen ihr schon bald zu. »In der Tasche da sind die Papiere«, flüsterte sie. »Da steht alles drin. Danke, dass Sie so lieb mit mir sind.«
Sie war eingeschlafen. Gedankenvoll schaute Anschi das Kind an. Es war schon komisch, aber für sie galt augenblicklich nur die Tatsache, dass sie nicht allein war.
Ihr Blick wanderte von dem Kind zu der Tasche, die alt, billig und abgegriffen war. Die Papiere wären darin, hatte Sabine gesagt.
Da war ein kleines Mädchen, neun Jahre alt, das Sabine Messner hieß und sagte, Stefan Behrend sei sein Vater.
Müsste ich jetzt nicht in Panik geraten, fragte sich Anschi. Neun Jahre! Stefan war einunddreißig. Vor neun Jahren war er zweiundzwanzig gewesen. Da hatte er studiert. In Göttingen.
Sie glaubte, alles aus seinem Leben zu wissen. War es möglich, dass er ihr so etwas ungeheuer Wichtiges verschwiegen hatte?
Sie sah wieder auf die Tasche, die wohl die Lösung des Rätsels in sich barg.
Aber hatte sie das Recht, diese Tasche zu öffnen?
Was würde Stefan sagen, wenn er jetzt hier wäre? Wie hätte er dieses Kind behandelt? Würde es dann auch so friedlich in dem frischen Bett schlummern können?
Immer wieder zog die Tasche ihren Blick an, und dann hielt sie diese plötzlich in den Händen und öffnete sie.
Es waren mehrere Bücher und ein Aktenordner darin.
Anschi klappte ihn auf und wieder zu. Sie warf noch einen Blick auf das schlafende Kind