Schrey, als er seine Hand ausstreckte, um mich zu packen.
»Verstockter Bösewicht!« rief er hinter mir her und machte die Thüre zu.
Mir war nicht am besten zu Muthe. Ganz fort zu gehen, und dem Magister für heute nicht wieder zu nahe zu kommen, dazu hatte ich nicht Herz genug. Meinen Kranz abzulegen, und dadurch dem ganzen Streit ein Ende zu machen, fiel mir nicht ein, denn er kam von einer Hand, für die ich durch Feuer und Wasser gelaufen wäre.
So stand ich eine Weile auf dem Saale, unschlüßig, ob ich umkehren sollte, oder nicht. Wenn die Geschichte mit Marthens Weinschränkchen nicht vorgefallen wäre, so würde ich den geradesten Weg nach Hause genommen haben; aber eine Untersuchung über die verstohlne Näscherey fürchtete ich eben so sehr, als den Zorn des Magisters.
Ich näherte mich der Thür einigemal und streckte die Hand aus, um sie aufzumachen, aber der fürchterliche Gedanke: Fink könne an derselben stehen, und mir, so wie ich den Kopf herein steckte, den Kranz herunter reißen – jagte mich immer wieder zurück. Endlich wagt' ich es, aber mit Vorsicht. Ich nahm den Kranz herunter, hielt ihn in der linken Hand und mit der rechten machte ich die Thür auf. Als ich den Magister am Ende des Zimmers auf seinem Stuhle sitzen sah, kam ich dreist herein und zog mich hinten herum gerade zu Malchen. Der Kranz saß wie vorher auf dem Kopfe.
Des Magisters Hitze schien sich abgekühlt zu haben. Er examinirte Louischen im Katechismus, und that, als ob er mich nicht sähe. Aber einige gierige Blicke, die er von Zeit zu Zeit auf meinen Kranz schießen ließ, machten mich mißtrauisch. Bey der kleinsten Bewegung von seiner Seite, fuhr ich zusammen, und dabey legte ich meine rechte Hand jedesmal auf den Kopf, um den Kranz zu schützen, wenn er etwa einen Hauptsturm auf denselben wagen sollte. Blut und Leben hätte ich seiner Vertheidigung aufgeopfert, und Malchen hätte nicht einmal nöthig gehabt mir ins Ohr zu sagen: Laß ihn dir nicht nehmen!
Es vergingen wohl zehn Minuten, ohne daß von feindlicher Seite etwas unternommen wurde. Ich hielt mich am Ende schon für sicher, und gab deswegen nicht mehr so fleißig auf den Magister Achtung. Plötzlich sprang er auf, und fuhr mit seinem langen Arm nach meinem Kopfe; meine Hände fanden sich zur Vertheidigung ein; ich bog den Kopf weit zurück, aber doch nicht weit genug, als daß er den Kranz nicht hätte erreichen können. Ich schrie was ich konnte, aber er ließ sich nicht irre machen. Endlich riß ich mich los und er behielt ein Stück des Kranzes in Händen. Mit rasendem Grimme sprang ich zur Thür, machte sie weit auf, sah mich erst um, ob auch jemand in der Nähe wäre, der mich halten und dem Magister ausliefern könnte; als ich aber niemand bemerkte, stellte ich mich, roth wie ein Truthahn, in die Thür, und rief mit einer fürchterlichen Anstrengung: Alter Schlingel! und nun über Hals, über Kopf die Treppe hinunter, und zum Hause hinaus.
Zehntes Kapitel.
Furcht und Unruhe gebären einen sehr kecken Entschluß.
Als ich im Freyen war, und sich meine Hitze gelegt hatte, stieg eine peinvolle Besorgniß in mir auf. Ich konnte leicht vermuthen, daß der Magister »den alten Schlingel« nicht auf sich sitzen lassen, und daß er zum gnädigen Herrn und von da zu meinem Papa gehen und mich verklagen würde. Bey dem erstern würde es die Folge haben, daß er mir von stundan das Haus verböthe, unter dem Vorwande, daß ich seine Kinder mit meiner Gottlosigkeit ansteckte; und bey dem letztern die, daß ich nach Befinden wohl gar die Ruthe davon trüge. Es wäre mir nicht halb so bange gewesen, wenn ich an Marthen eine gnädige Schutzheilige gehabt hätte, aber bey ihr, besorgte ich, durch die Unternehmung auf das Weinschränkchen, alles verdorben zu haben, und dieser Gedanke machte mich muthlos. Ich warf mich, in einer Verzweiflung, die so stark war, als sie in jenen Jahren seyn kann, nicht weit vom Schlosse nieder, und wälzte mich voll einer Angst, die am Ende in helle Thränentropfen ausbrach, Kopf oben, Kopf unten im Grase herum.
Mein erster Gedanke war, in alle Welt zu gehen. Vom Schlosse gejagt zu werden und die Ruthe zu bekommen, waren ein paar Umstände, die mich in einem Zuge bis zum Vorgebirge der guten Hoffnung würden gehetzt haben, und die um so heftiger auf mich wirkten, da es ganz ausser Zweifel war, daß sie Malchen zu Ohren kommen würden. Hätt' ich in meinem Leben wieder die Augen zu ihr aufschlagen können, wenn ich mich wie ein ABC-Schütz hätte hinlegen müssen, um mir den St** mit der Ruthe malen zu lassen?
Wenn die Angst erst den kleinen Finger hat, nimmt sie bald die ganze Hand.
Besorgnisse, die mich in meinem gewöhnlichen Zustande nicht angefochten haben würden, waren mir jetzt unsäglich quälend. Ich stellte mir unter allen argen Gerichten, die über mich ergehen würden, gerade das allerärgste vor, und wenn sich auch mein sonstiger Leichtsinn von Zeit zu Zeit einmal rührte, war er doch nicht fähig, die ängstlichen Grillen zu verjagen. Ruthe und Malchen, waren zwey Begriffe, die sich durchaus nicht vertrugen, und die allein schon fähig gewesen wären, meinen Entschluß, in alle Welt zu gehen, mit jeder Minute fester zu machen; aber es kam noch ein dritter hinzu, der mir vollends keinen andern Weg übrig ließ.
Mein Papa hatte jährlich drey- oder viermal einen Besuch, auf welchen unser ganzes Haus, wie auf eine frohe Erscheinung vom Himmel, wartete. Ein Neffe des Präsidenten von Lemberg, der als Legationsrath in D** stand, kam jährlich einigemal zu seinem Onkel, und da er meinen Papa als einen alten vertrauten Freund in der Nähe hatte, so machte er ihm bey der Gelegenheit jedesmal seinen Besuch. Wenn er in die Stube trat, war ich der erste, der in seine Arme lief. Er umschloß mich dann mit allem Feuer einer väterlichen Zärtlichkeit, nannte mich seinen guten Moriz, oder auch (was mir unendlich süßer klang) seinen lieben Sohn. Er unterhielt sich mit meinem Papa nicht halb soviel, als mit mir. Ich mußte ihm erzählen, was ich seit seinem letzten Besuche gelernt, gethan und geschwärmt hatte, und ob ich artig oder unartig, folgsam oder ungehorsam gewesen? Bey diesem letztern Artikel wurden auch Papa und Martha vernommen, und sie verschwiegen ihm nichts. Manche Dinge, die für den Papa bis dahin ein Geheimniß geblieben waren, kamen dann an den Tag; denn Martha schien es sich zu einer strengen Regel gemacht zu haben, meinem Papa alles, aber dem Legationsrath nichts zu verbergen, was ich Böses oder Gutes die Zeit über vorgenommen hatte. Woher es kam, daß sie diesem Manne keine einzige meiner großen und kleinen Sünden verschwieg, konnte ich mir aus keinem andern Umstand erklären, als daß sie, so lange er bey uns war, (und das dauerte zuweilen vier bis fünf Tage) täglich eine oder zwey Stunden geheime Konferenz mit ihm hielt, und wenn er abreisete, jedesmal einen neuen Anzug oder ein paar Louisd'or, auch öfters beydes zugleich bekam. Durch dieses Mittel hatte er sie, wie es mir schien, so auf seine Seite gezogen, daß sie ihre ganze sonstige Nachsicht gegen mich vergaß und alles haarklein beichtete, was sie von mir wußte.
Eine Hauptregel, die er mir bey seiner Ankunft und Abreise jedesmal dringend ans Herz legte und anpries, war diese:
Hab' Ehrfurcht und Gehorsam gegen deinen Vater und Lehrer, und mache dir niemand, auch den Geringsten nicht, zum Feinde.
Verstoßungen gegen diesen Grundsatz ahndete er sehr scharf, nicht mit harten Ausdrücken, sondern mit Ton und Worten einer zärtlichen Rührung, die lieber weinen als schelten möchte.
Nun denke man sich, was ein Blick auf diesen Mann und diesen Grundsatz für eine Zerstöhrung in meinem Herzen anrichten mußte. Papa hatte schon seit acht Tagen gesagt, daß der Legationsrath ehestens kommen würde. »Vielleicht ist er schon da!« sagte mein beklommenes Herz: »Wenn du nach Hause kömmst, läuft er dir mit offnen Armen entgegen, drückt dich an seine Brust, nennt dich seinen lieben Sohn, und mitten unter diesen Ergießungen der Zärtlichkeit, tritt der Magister in die Stube, und erzählt, wie gottlos du ihn behandelt hast!«
»Nein, du kannst nicht nach Hause gehen!« war der erste und nächste Gedanke, der aus jenem entsprang, und sich meiner mit solcher Gewalt bemächtigte, daß ich aufsprang und ein paar hundert Schritt in größ'ter Eile fortlief. Aber, so rüstig ich auch vorwärts jagte, holten mich doch zwey Gedanken ein, die mich anfangs fest, wie angenagelt hielten, und bald nachher mich auf das Schloß und von da auf unser Gut zurückschoben. Der eine war: willst du fortlaufen, ohne Malchen etwas davon zu sagen? und der andre: du mußt deinen guten Phylax mitnehmen,