Paul Lendvai

Orbáns Ungarn


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und zur Gruppenbildung der Gründungsväter des Fidesz beigetragen hatte, als Staatsminister im Amt des Ministerpräsidenten die zentrale Rolle.

      Die Feierlichkeiten zum Gedenkjahr der Krönung von Stephan dem Heiligen, des ersten Königs von Ungarn, wurden als eine zwei Jahre dauernde, gesamtstaatliche nationale Kampagne inszeniert und die Stephans-Krone wurde nach einer landesweiten Tour aus dem Nationalmuseum ins Parlament überführt.

      Der junge, energisch auftretende, nationalbewusste Ministerpräsident fand im In- und Ausland ein positives Echo. In einem Fernsehinterview im März 2000 gab er zu, dass er vor und während öffentlicher Auftritte immer nervös sei, er betrachte diese als den schwierigsten Teil seiner Aufgaben. Dass er seine Interviews und Reden nachher stets analysiert, um Versprecher oder Fehler in der Zukunft zu vermeiden, hatte er schon am Anfang seiner politischen Karriere erzählt.

      Nach seiner schon erwähnten Rede im Wiener IWM-Institut habe ich ihn sechs Jahre später beim internationalen Europa-Forum in Stift Göttweig in Niederösterreich wieder persönlich erlebt. Ich moderierte seit dem Anfang vor rund 25 Jahren diese angesehene Veranstaltung, so auch am 6. Juni 1999, als an diesem Sonntag Viktor Orbán als ranghoher ausländischer Gast seine Rede über Ungarn und seine Europapolitik vor einem internationalen Publikum hielt. Beim Mittagessen gratulierte ich ihm, dass er sich im Gegensatz zu manchen prominenten Rednern zurückgehalten und nur rund 20 Minuten lang gesprochen hatte. Daraufhin erzählte er völlig unbekümmert, dass er den Text mehrmals vorgelesen und notfalls gekürzt hatte, um die von den Organisatoren vorgegebene Länge nicht zu überschreiten. Er war schon damals ein politischer Vollprofi – auch in dieser Hinsicht.

      Im Gegensatz zu den früheren (und älteren) Ministerpräsidenten nützten die Kommunikationsexperten der Regierung die Boulevardblätter und vor allem das Fernsehen zur Popularisierung des jungen Regierungschefs und seiner Familie. Dass Orbán jeden Sonntag in der Mannschaft seines Heimatdorfes Felcsút in der Meisterschaft spielte, wurde natürlich durch TV- und Zeitungsreportagen voll vermarktet, ebenso das Familienleben zu Weihnachten oder auf Sommerurlaub in Kroatien. Am 7. August 2001 spielte sich eine rein zufällige, aber zugleich höchst peinliche Episode in der traditionsreichen nordungarischen Kleinstadt Mezőkövesd ab: Eine alte Frau küsste die Hand des jungen Ministerpräsidenten. In einer Hand einen Blumenstrauß und ein Buch haltend, wollte Orbán mit der anderen die Hand der betagten Frau schütteln und konnte sich nicht wehren, als diese seine Hand plötzlich an sich riss und sie untertänigst küsste. Das Foto über die absurde Szene, bei der der Politiker überhaupt nichts zur Abwehr tun konnte, wurde freilich von der Opposition und von den Medien weidlich ausgenützt. Abgesehen von diesem Fall trugen die wöchentliche Rundfunksendung und der monatliche Fernsehauftritt Orbáns zur Mobilisierung der Anhänger und zur erfolgreichen Verbreitung der politischen Botschaften der Regierung bei.

       Orbáns offensive Politik

      Bereits in dieser ersten Regierungsperiode sorgte die offensive Regierungspolitik auch für die direkte oder indirekte Übernahme von Führungspositionen bei den öffentlich-rechtlichen Medien und die Gründung von neuen Tages- und Wochenzeitungen durch politisch regierungsnahe Persönlichkeiten. Das Ende der Amtszeit politischer Spitzenfunktionäre, etwa des Staatspräsidenten, des Obersten Staatsanwaltes und des Präsidenten der Nationalbank, bot die Chance, diese durch absolut gefolgstreue Persönlichkeiten zu ersetzen. Im Gegensatz zur Festigung der Machtpositionen des Fidesz und der Stärkung der persönlichen Autorität des Regierungschefs entstand in den Medien ein vernichtendes Bild der Regierungsmitglieder der Kleinlandwirte-Partei, des Koalitionspartners in der Orbán-Regierung, ebenso wie der korrupten Praktiken im Umfeld der 1998 abgelösten sozial-liberalen Regierung. Schließlich musste sich der Regierungschef von den wegen Bestechung öffentlich entlarvten Ministern der Koalitionspartei trennen.

      Die undurchsichtigen Transaktionen beim Verkauf der Fidesz-Zentrale 1992/1993 führten indirekt zum Rücktritt des engen Orbán-Freundes Lajos Simicska als Leiter der obersten Steuer- und Aufsichtsbehörde. Am Rande dieser zwielichtigen Affäre wurde 1999 übrigens bekannt, dass Győző Orbán, der Vater Viktor Orbáns, beim Erwerb eines Steinbruches durch manipulierte Kauf- und Verkaufstransaktionen einer von Simicska mitgegründeten Schattengesellschaft sechs Jahre zuvor faktisch mit einem Betrag in der Höhe von 3,55 Millionen Forint begünstigt worden war. Diese Tatsache hat der Ministerpräsident 2002 auf Fragen seines Biografen József Debreczeni ausdrücklich bestätigt.14 Schon damals fügte Debreczeni hinzu: »Im Westen hätte ein ähnlicher Skandal den Sturz15 des Regierungschefs ausgelöst. Er müsste demissionieren. Nicht in Ungarn … Hier muss man nicht zurücktreten …«

      Im Jahr 2001, wohl im Hinblick auf die 2002 fälligen Parlamentswahlen, erfolgte eine radikale Wende von der restriktiven zu einer expansiven Haushaltspolitik. Die Mindestlöhne für 750.000 Beschäftigte wurden in zwei Phasen (2001/2002) um 50 bzw. 25 Prozent erhöht, die Realverdienste stiegen in der ersten Hälfte des Jahres 2001 um 4,5 Prozent, im zweiten Halbjahr bereits um 8,4 Prozent. Im Lauf des Jahres wurden die Renten zweimal, insgesamt nominell um 16 Prozent, erhöht; das entsprach in Anbetracht des Konsumentenpreisindexes einer realen Steigerung von 5,8 Prozent. Wenn man die Sonderzuschüsse für 120.000 öffentlich Bedienstete, die 70-prozentige Erhöhung der Gehälter der Berufs- und vertraglich verpflichteten Soldaten, die erhöhten staatlichen Zinszuschüsse für private Wohnbaukredite und das erhöhte Kindergeld sowie die diversen Sonderzuschüsse für Bahnangestellte, Ärzte und Pfleger usw. in Rechnung stellt, ist es nicht überraschend, dass zum ersten Mal seit 1994 das Wachstum des Konsums mit 5,2 Prozent wesentlich höher ausfiel als das des Bruttoinlandsproduktes (4,3 Prozent).

      Im ersten Viertel des Wahljahres 2002 betrug die Wachstumsrate der realen Verdienste das Dreifache der Steigerungsrate des BIP. Die Industrieproduktion stagnierte, das Defizit der laufenden Zahlungsbilanz und die Wachstumsrate des Kleinhandelsumsatzes verdoppelten sich. Abgesehen von der Erhöhung des privaten Konsums um 9 Prozent zeigten alle wirtschaftlichen Indikatoren eine Verschlechterung der Lage. Der Grundstein für die spätere und noch gefährlichere Wirtschaftskrise – für welche in erster Linie die folgenden sozial-liberalen Regierungen verantwortlich waren – wurde also schon in der letzten Phase der Regierung Orbán gelegt.

       Die Gründe für die Niederlage

      In den von der Rechten kontrollierten Tages- und Wochenzeitungen und sogar in einer der meistgehörten Sendungen des öffentlich-rechtlichen Hörfunks wurde die Verharmlosung, Verteidigung und Verherrlichung des früheren Horthy-Regimes emsig betrieben. Die internationalen Medien und auch die nichtstaatlichen Bürgerrechtsgruppen berichteten immer häufiger von antisemitischen und romafeindlichen Entgleisungen. Die kalkulierten Tabubrüche, die keineswegs nur auf die Publikationen der Csurka-Partei (MIÉP) beschränkt waren und breite Schichten der studentischen Jugend beeinflussten, fanden einen starken negativen Widerhall auch in den USA und in den Publikationen jüdischer Organisationen im Ausland. Die Tatsache, dass sich Ministerpräsident Orbán nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten nicht sofort und entschlossen von einer empörenden antisemitischen und antiamerikanischen Bemerkung Csurkas distanziert hatte, war laut Presseberichten der Grund, warum Präsident Bush nicht bereit war, Orbán zu empfangen, als dieser im Februar 2002 zur Übernahme der Urkunde eines Ehrendoktorats der Universität Boston in den Vereinigten Staaten weilte.

      Die Sprüche der zündelnden Fidesz-Politiker über die Rechte und Autonomiewünsche der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern gewannen zwar die begeisterte Zustimmung der meisten Minderheitenvertreter, lieferten jedoch zugleich den dortigen nationalistischen Kräften politische Munition. Dass die Sozialisten ebenso bereit waren, bei günstiger Gelegenheit auf dem Rücken der Minderheiten populistische Schlagworte zu benutzen, zeigt die demagogische Ausnützung einer missverständlichen Formulierung in der Vereinbarung, die Orbán mit dem rumänischen Ministerpräsidenten Adrian Năstase Ende 2001 unterschrieben hatte. Danach hätte man in Ungarn jedem rumänischen Staatsbürger, also nicht nur den dort lebenden Ungarn, eine Arbeitsbewilligung für drei Monate sowie eine Sozialversicherung gewährt. Obwohl klar war, dass dafür maximal 81.000 Menschen infrage gekommen wären, hatten die Sozialisten eine massive Einschüchterungskampagne