Abrechnung mit Gábor Fodor
Von keinen Skrupeln geplagt, verfolgte Viktor Orbán also schon damals, nicht einmal 30-jährig, beharrlich das anvisierte Ziel, die unbestrittene Herrschaft über den Fidesz zu erlangen. Mit Hilfe des treuen Kameraden Kövér überspielte er raffiniert bei jeder Kraftprobe den früheren Freund und späteren Rivalen Fodor; zuletzt, als Fodor den Posten des Vorsitzenden des erweiterten Vorstandes anstrebte. Gábor Fodor war damals der mit Abstand populärste Fidesz-Politiker und der zweitbeliebteste im Land. Angesichts der hinterhältigen Druckversuche und Intrigen traten schließlich Fodor und zwei weitere Abgeordnete im November 1993 aus der Partei aus und legten ihre Abgeordnetenmandate nieder. Einige Monate später verließen noch zwei bekannte Abgeordnete auch aus politischen Gründen den Fidesz. Insgesamt verlor die Partei laut Fodor 400 bis 500 aktive Mitglieder.
Bereits vor dem endgültigen Bruch kommentierten die Medien die innerparteilichen Differenzen im Allgemeinen und Orbáns absoluten Führungsanspruch im Besonderen. In dieser Periode gewährte der Parteivorsitzende der kritischen Journalistin Zsófia Mihancsik11 ein langes Interview. Sie wies auf die Vorwürfe hin, wonach der Fidesz bereit sei, jederzeit seine Prinzipien zugunsten der Machteroberung aufzugeben, und fügte hinzu, dass Orbáns Haltung als Parteiführer geeignet sei, bei den normalen Bürgern Angst zu erwecken. Orbán wies die Vorwürfe wegen »persönlicher Abrechnungen« mit Hinweis auf demokratische Mehrheitsentscheidungen ebenso zurück wie die Behauptung, dass man vor ihm Angst haben müsse. Unter anderem sagte er wörtlich: »Meine Persönlichkeit hat mehrere Fehler (ich sage nicht welche, die sollen die Gegner herausfinden) und das bietet gute Gelegenheit für solche persönlichen Angriffe. Man betrachtet mich als einen entschlossenen Menschen; ich mag die rationalen Argumente und auch jene Politik, bei der die Entschlossenheit ein wichtiges Element ist. Auch meine Mentalität bietet eine Angriffsfläche, in dem Sinn, dass ich nach Abstammung nicht ein feinfühliger Intellektueller der zwanzigsten Generation bin, und das wirft manche Stilfragen auf; es gibt in mir vielleicht eine von unten mitgebrachte Rauheit. Das ist kein Nachteil, weil wir wissen, dass die Mehrheit der Menschen von unten kommt. Aber auch die Tatsache gibt Gelegenheit für solche Angriffe, dass man meiner Meinung nach in gewissen Konflikten nicht Kompromisse, sondern Konfrontationen anstreben müsste, weil dadurch spätere größere Konflikte vermieden werden könnten.«
Bei den Wahlen musste der Fidesz einen hohen Preis für den Streit mit Fodor und seinen Parteigängern zahlen. Als sie die Partei verließen, stand der Fidesz laut den Meinungsumfragen bei 20 Prozent und der Rivale, der SzDSz, bei 8 Prozent. Knapp sechs Monate später, bei den Wahlen im Mai 1994, erhielt der SzDSz mehr als 19 Prozent, während der Fidesz bloß 7 Prozent erreichte. Statt der von Orbán erwarteten 100 oder mindestens 60 Mandate bekam die Fidesz-Liste nur 20 Mandate, um zwei weniger als 1990. Die Partei schlitterte auf den letzten Platz, noch hinter die Christdemokraten mit 22 Mandaten.
Eine herbe Enttäuschung für die siegessichere Fidesz-Führung. Eine zusätzliche schmerzliche Ohrfeige war der Einzug der drei abtrünnigen Abgeordneten, mit Fodor an der Spitze, auf der SzDSz-Liste ins Parlament. Viktor Orbán – und mit ihm der Fidesz – stand nach einem glanzvollen Aufstieg und einem völlig unerwarteten Absturz vor der größten Bewährungsprobe seines Lebens.
Kapitel 4
DER WEG ZUM ERSTEN SIEG
Im Sommer 1994 erlebte Viktor Orbán den Tiefpunkt seiner politischen Karriere. Während die postkommunistischen Sozialisten ihre Mandate verfünffachten und trotz ihrer absoluten Mehrheit aus Gründen der politischen Optik nach außen mit den Liberalen (SzDSz) sogar eine Koalitionsregierung bildeten, die über 72 Prozent der Sitze verfügen konnte, sank der Fidesz bei den Umfragen bis Dezember sogar auf bloß 5 Prozent. Knapp vier Jahre später, im Mai 1998, gewann dieselbe Partei die Wahlen und Orbán wurde Ministerpräsident Ungarns, der jüngste Regierungschef in der Geschichte des Landes und damals auch Europas. Wie war das möglich, was waren die Gründe für diese wahrhaft sensationelle Wende?
Die liberalen Masken des Viktor Orbán
Hier müssen wir wieder – noch vor der Analyse der Fehler der sozial-liberalen Regierung – zur Rolle der Persönlichkeit, also in diesem Fall zu Orbán zurückkehren. Als ich ihn am 22. September 1993 anlässlich seiner in nicht sehr geschliffenem Englisch gehaltenen Rede bei einer Veranstaltung des Instituts für die Wissenschaften von Menschen (IWM) in Wien gehört und anschließend mit ihm bei einem vom Institutsleiter Krzysztof Michalski gegebenen Abendessen in kleinem Rahmen zum ersten Mal gesprochen habe, beeindruckte er mich durch seine Offenheit auch hinsichtlich seiner Rivalität um die Parteiführung mit Fodor und durch seine feste liberale Haltung in Opposition zum national gesinnten, rechtskonservativen Kurs der Antall-Regierung. Er machte damals auf seine Zuhörer und Gastgeber und auch auf mich den Eindruck eines zukunftsträchtigen, progressiven Politikers der jungen Generation. Dieser ersten Begegnung folgten andere, die allerdings schon in die Zeit des gewendeten Orbán, Vertreter eines nationalen und rechtskonservativen Kurses, fielen.
Nach der Wahlniederlage stellte sich bald heraus, dass Orbán und seine engsten Freunde nur liberale Masken aufgesetzt hatten, die sie dann geschmeidig den sich bisweilen ebenso rasch wie dramatisch verändernden Rahmenbedingungen anzupassen verstanden. Dass die radikal regimefeindlichen Liberalen des SzDSz bereit waren, mit dem ex-kommunistischen Ministerpräsidenten Gyula Horn und seiner siegreichen MSzP eine Koalition zu bilden, und dass Gábor Fodor, das frühere Aushängeschild des Fidesz, sogar den Posten des Bildungs- und Kulturministers in der Koalitionsregierung übernahm, schien nachträglich die harte und misstrauische Linie des Orbán-Kövér-Duos gegenüber dem stärkeren, linksliberalen Konkurrenten zu bestätigen. Nach einem formellen Rücktritt der Parteiführung und einer geschickten Mischung von Selbstkritik und zugleich Verurteilung jeder Zusammenarbeit mit den Sozialisten wurden Orbán, Kövér und ihre Freunde bei einem außerordentlichen Parteikongress noch im Juli 1994 in ihren Funktionen bestätigt. Obwohl er damals in seiner Rede sowohl einen Links-wie auch einen Rechts-Schwenk ausschloss, war dies wohl nur eine taktische Finte.
Sein damaliger Berater und späterer Biograf József Debreczeni hat nach Orbáns katastrophaler Niederlage im Sommer 1994 mit ihm ein langes Interview für sein Buch über den verstorbenen Ministerpräsidenten Antall auf Band festgehalten. Die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Überlegungen wurden nur acht Jahre später, diesmal in seiner ersten Orbán-Biografie, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die außerordentliche Schärfe der Kritik Orbáns an Antall wirkte deshalb für die Leser so verblüffend, weil in der Zwischenzeit Fidesz-Propagandisten ganze Legenden verbreitet hatten, wonach der Ministerpräsident kurz vor seinem Tod dem jungen Nachwuchspolitiker persönlich eine Art politisch-persönliches Vermächtnis übertragen hätte. Im Gespräch mit Debreczeni warf Orbán ihm nun jedoch vor, für eine künftige rechtsbürgerliche Regierung keine Kommunikations- oder Wirtschaftsbasis hinterlassen zu haben: »Antall trägt die persönliche Verantwortung. Nicht deshalb, weil wir in Opposition sind, sondern deshalb, weil wir pudelnackt, mit nacktem Hintern, in der Opposition sind … Es gibt keine einzige Zeitung. Ein Teil der Blätter wurde geklaut, er ließ es zu, dass die anderen vor seiner Nase gestohlen wurden, und den anderen Teil ließ er in Staatsbesitz … Es gibt kein Radio, keinen TV-Kanal. Es gibt nichts. Dafür gibt es keine Entschuldigung.«
Den anderen Hauptfehler erblickte Orbán darin, dass der verstorbene Ministerpräsident »den Ausbau persönlicher Kontakte mit den acht bis zehn Großkapitalisten versäumt hatte … Was hätte man tun sollen? Vor den Bankiers klarstellen, diese acht bis zehn Personen sind unsere Leute … Und dann zulassen, dass das Geschäft nach seiner Logik den Rest ordnen würde. Man hätte vielleicht bei den Investitionsfonds, bei den Ausschreibungen diesen Leuten etwas helfen können … Nach einer internationalen Verhandlung wurde er in kleinem Kreis gefragt, warum er mögliche Wirtschaftsprojekte nicht vorgeschlagen habe. Darauf sagte Antall, er sei nicht gekommen, um Geschäfte zu machen, sondern um die Positionen des Landes zu verbessern. Diese Sachen gehörten laut ihm nicht zur Politik, obwohl diese die Substanz der Politik ausmachen. Er hatte eben kein Gefühl für so etwas. Überhaupt