Kathrin Singer

Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman


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      Sie rollte mit den Augen. »Wer Enkel hat, kann doch noch eigene Kinder bekommen.«

      »Anette!«

      Dann legte sie ihm das letzte Blatt vor. »Der schreibt sehr nett und hat Humor. Er ist Arzt in München. Aber er hat kein Foto mitgeschickt. Das macht mich misstrauisch.«

      »Mich auch.« Stefan las. »Frank Bahring. Mitte Vierzig, Kardiologe mit einer gut gehenden Praxis und seit einigen Jahren verwitwet. Hm. Hört sich gut an. Auch die Schrift wirkt sympathisch. Aber wie mag er aussehen?«, überlegte er.

      »Wenn er unattraktiv, aber eine ehrliche Haut und aufrichtig ist, stört’s mich nicht. Außerdem hat er keine Kinder. Hoffentlich wünscht er sich eins. Und außerdem …, er weiß ja auch nicht, wie ich aussehe, freut sich aber auf ein Treffen mit mir.«

      »Und? Willst du ihn treffen?«

      Sie nickte. »Nach einigen Briefen mehr, und nur, wenn du in der Nähe bleibst.« Sie bemerkte den Vorwurf in seinen Augen und setzte hastig hinzu: »Du hast es versprochen!«

      »Ich habe dir viel zu viel versprochen!«, bekannte er reuevoll. »Und alles in der Hoffnung, dass du uns erhalten bleibst und trotzdem glücklich wirst. Na gut, wenn du nach München ziehst, können wir uns wenigstens manchmal sehen.«

      »Natürlich. Und zu den Chorproben komme ich auch wieder.«

      »Wer’s glaubt, wird selig.« Da lachte sie leise. Es klang so hoffnungsvoll, dass er sich den Brief ein zweites Mal vornahm. »Also gut, verabrede ein Treffen mit Doktor Bahring, aber nimm Rücksicht auf meinen Terminkalender. Abends fahre ich nicht nach München. Ja, und wenn er dir einen Treffpunkt vorschlägt, achte darauf, dass es kein zu kleines Café oder Restaurant ist. Ich will mich ja in der Nähe aufhalten, aber nicht auffallen.«

      »Du stehst also wirklich zu deinem Versprechen?« Wie liebenswert sie schauen konnte! Da musste doch jeder Mann schwach werden!

      Und so nickte Stefan stolz, weil sie auf seinen Rat gehört und so viele Zuschriften bekommen hatte.

      »Und wenn ich ihm nicht gefalle?« Plötzlich zupfte sie fahrig an ihrer Zopffrisur herum. »Seh ich nicht wie eine Landpomeranze aus?« Sie reckte ihr Köpfchen, wobei ihr schlanker Hals besonders gut zur Geltung kam. »Soll ich vorher zum Friseur? Oder mich so elegant einkleiden wie Marie? Es kann ja sein, dass ihm Frauen in Dirndlkleidern rückständig vorkommen.«

      »Wenn du es merkst, kannst du dir immer noch einen sportlichen Hosenanzug zulegen.«

      »So was steht mir doch gar nicht!« Sie zog die zarten Brauen hoch und sah ihn strafend an, als müsste er das doch wissen!

      »Anette! Hör auf! Als ich Marie zum ersten Mal sah …«

      »Das war auf der grünen Woche in Berlin. Die Osterlohs hatten sie mitgenommen. Nur, damit sie in ihrem wunderschönen Festtagsdirndl Blicke auf sich ziehen sollte.«

      »Und sie hat meinen Blick auf sich gezogen.«

      Stefan lächelte. Wie gut Anette informiert war! Marie musste ihr den Beginn ihres Glücks häufig geschildert haben.

      »Wir sahen uns an und wussten, wir sind füreinander bestimmt.«

      »Und dabei hast du sie für eine Tochter des Brauereibesitzers Osterloh gehalten.«

      »Ja. Aber zum Glück war Marie eine Bauerntochter, Erbin des Traublinger-Hofs und kurz davor, zur Versteigerung ihres überschuldeten Hofes gezwungen zu werden.«

      »Und jetzt ist sie deine Baronin, trägt schicke Hosenanzüge und holt die Dirndl nur noch zu besonderen Gelegenheiten hervor. Und ihr liebt euch von Jahr zu Jahr mehr …«

      Da stand wieder diese Wehmut in ihren blauen Augen. Wie gern hätte er sie auch so glücklich gesehen!

      »Es kann gut sein, dir und diesem Doktor Bahring wird es auch so ergehen, Anette!«

      Er sah schon, das baute sie nicht wirklich auf. Wann nahm sie endlich Herz und Verstand zusammen in die Hand, damit ihr dieses Auf und Ab erspart blieb? Und warum sprach er so gern von seinem Glück mit Marie? Das half ihr auch nicht weiter.

      *

      Wie an jedem Arbeitstag verließ Doktor Frank Bahring auch heute am späten Nachmittag seine Praxis im Erdgeschoss und stieg die Treppe in den ersten Stock der Villa hoch. Hier lebte er seit der Scheidung von seiner Frau Sylvia mit seinen Kindern Ben und Sara.

      Die beiden kamen heute erst gegen sechs nach Hause. Der siebzehnjährige Ben war im Sporttraining, Sara hatte heute ihre Klavierstunde. Die Stunde bis zu ihrer Rückkehr musste Frank nutzen. Er war in bester Stimmung. Während er sein Jackett aus- und seine sportliche Strickjacke anzog, pfiff er eine flotte Melodie vor sich hin.

      Heute konnte er Anette Lichtner wieder anrufen. Er kannte sie noch nicht von Angesicht zu Angesicht, aber durch die Briefe, die sie in den letzten Wochen gewechselt hatten, waren sie sich nähergekommen. Und inzwischen glaubte Frank, dass diese Frau ihn über alles in den letzten Jahren Erlittene hinweghelfen konnte. Sie musste ihm ja nur gefallen. Nach ihren Briefen zu urteilen war sie kultiviert, zurückhaltend und ließ trotzdem oft einen verborgenen Humor aufblitzen. Das machte ihm Mut. Eine Frau, mit der er wieder lachen konnte, würde auch seinen Kindern gefallen. Aber bevor er sie ihnen vorstellte, musste er ihr in die Augen schauen.

      Er rief Anette an, und nach einigem Hin und Her verabredeten sie sich für den kommenden Dienstag in einem stadtbekannten, geräumigen Café.

      »Ich werde einen Strauß Tulpen mitbringen, damit Sie mich erkennen, Anette«, versprach er.

      »Einen ganzen Strauß?«

      »Oder ist es besser, eine Rose mitzubringen?«

      »Das macht jeder. Zudem ist es voreilig. Oder kitschig.«

      »Oder beides«, sagte er lachend und stellte sich ihr amüsiertes Gesicht dabei vor. Wie würde er sich fühlen, wenn er dieses erst sah? Diese Frage stellte er sich oft, war aber fest entschlossen, sich in dieses Abenteuer einzulassen.

      An den Bäumen zeigten sich erste zartgrüne Blättchen. Sollte dieser Frühling der erste nach Jahren sein, der auch für ihn ein Stückchen Glück bereithielt? Und wenn es so war, bekam er es dann endlich zu fassen?

      Ein bitteres Lächeln legte sich auf seine Lippen. Seitdem Sylvia vor vier Jahren ihrem Liebhaber Arthur nach London gefolgt war, waren Ben und Sara die wichtigsten Menschen in seinem Leben. Wie lange noch, und sie gingen eigene Wege? Was wurde dann aus ihm? Ein verknöcherter Papi, auf dessen einsame Abende die beiden Rücksicht nehmen mussten?

      Sein Rücken straffte sich. Unsinn! Er war ein gestandener Mann und als Arzt sehr erfolgreich. Er hatte eben nur als Ehemann versagt. Ob Anette das auch so sah, wenn er ihr eines Tages eingestand, dass er nicht verwitwet, sondern von seiner Frau verlassen worden war? Entschied sich dann, ob sie sein Schicksal und auch seine Kinder akzeptierte? Und ob ihre Liebe groß genug war, um mit ihm noch einmal von vorn anzufangen?

      Er faltete Anettes letzten Brief zusammen, verschloss ihn und griff nach den drei Karten für das abendliche Pop-Konzert. Sara und Ben hatten in letzter Zeit nicht viel von ihm gehabt. Wenn schon nicht bei seinen Patienten, war er in Gedanken oft bei Anette gewesen. Sein Entschluss, sie persönlich kennen zu lernen, war ein Grund zum Feiern …, auch, wenn er ihn noch vor Ben und Sara geheim halten musste.

      Aber wenn aus der ersten Begegnung mehr entstand, würde er sie Ben und Sara bald vorstellen. Dabei musste er natürlich taktvoll vorgehen. Die beiden trugen ihre Mami immer noch in ihrem Herzen – gleichgültig, was sie ihnen und auch ihm angetan hatte.

      Unten im Haus wurden Geräusche laut. Frank hörte die Stimme von Ben, der mit einer der Praxisangestellten sprach. Gleich darauf betrat er mit Sara die Wohnung. Frank wollte die beiden wie immer heiter begrüßen und freute sich auf ihre erstaunten Gesichter, wenn sie vom abendlichen Konzert erfuhren.

      Ben blieb seltsam unsicher im Korridor stehen. Er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Erst in letzter Zeit wurden seine weichen Züge männlich markant.