Eugenie Marlitt

Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte


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hatten, über den Arm.

      »Ja, mein liebes Kind, die will ich behalten,« sagte sie, und behutsam, als sei es eine zerbrechliche Filigranarbeit, sammelte sie die Kettenglieder in der Linken; dann griff sie mit der Rechten in die Tasche und zog den Becher heraus. »Ich will dir auch etwas schenken, einen kleinen Trinkbecher, aus welchem du künftig deine Milch trinken sollst.«

      Der Becher, den das alte Klosterhaus so lange wie ein Argus behütet, er lag jetzt auf der blauen Decke, und der Knabe griff mit beiden Händen danach. »Ach, der ist aber schön!« sagte er bewundernd und wandte ihn spiegelnd hin und her. »Ich danke dir!« rief er plötzlich aus vollem, erfreutem Kinderherzen und reckte sich mit ausgestreckten Armen an der Frau empor, und sie – ihrer nicht mehr mächtig, schlang ihre Arme fester und fester um den kleinen Leib, der sich an sie schmiegte, und als wolle sie alle die trotzige Entsagung, die namenlos bittere, bohrende Reue, die furchtbare Einsamkeit der letzten Jahre, die grausame, übermenschliche Zurückhaltung, die sie neulich dem Kinde gegenüber behauptet, in einem einzigen glückseligen Moment auslöschen und vergessen, bedeckte sie ihn mit den Küssen einer fast wild hervorbrechenden Zärtlichkeit ...

      Tiefaufatmend ließ sie das Kind in die Kissen Zurücksinken. »Willst du auch an mich denken, wenn du aus dem Becher trinkst?« fragte sie – wer hatte je diese Stimme so weich, so bewegt und seelenvoll gehört? ...

      »Ja – aber wie heißt du denn?«

      »Ich? –« das Blut, das ihr heiß nach dem Kopf geströmt war, sank jäh zurück, und mit blassen Lippen wiederholte sie nochmals: »Ich?! – Ich heiße Großmama!«

      Damit trat sie rasch, fast wie flüchtend, von dem Knaben weg und schritt nach der Tür.

      »Bleib' doch da!« rief er bittend.

      Auf diese Laute hin wandte sie noch einmal den Kopf nach ihm; aber in demselben Augenblick bog der Neger um die Ecke des Ateliers. Noch ein Winken mit der Hand, dann war sie so rasch hinter der Mauertür verschwunden, daß Jack nur noch einen Zipfel ihres langen schwarzen Gewandes wie einen Schatten hinausgleiten sah.

      31.

       Inhaltsverzeichnis

      Die Majorin schritt wieder auf dem geradlinigen Hauptweg des Klostergartens. Es war eine rein mechanische Tat ihrer Ordnung schaffenden Hände gewesen, daß sie die Tür pünktlich verschlossen und die hingeschleuderte Küchenschürze wieder vorgebunden hatte – sie wußte es kaum. Sie wandte das Gesicht nicht mehr nach dem Zaun hinüber; aber ihr vorwärts gerichteter Blick sah auch nicht die weinbekleidete schiefe Wand des Hintergebäudes, auf welches sie unverweilt Zuging – die Augen blickten wie traumverloren, als schreite diese Frau in die weite Welt hinein und nicht durch den dunklen, dumpfen Holzstall in den engumgrenzten offenen Raum, von dessen Mauern der ganze wüste Lärm eines Gutshofes widerhallte.

      Mosje Veit war jedenfalls eben dem Schulzwang entlaufen. Er rannte, als sei er in einem engen Käfig eingesperrt gewesen, in tobender Ausgelassenheit durch den Hof und ahmte ein wildes Pferd nach, das in das Gebiß knirscht und schäumt.

      Die Majorin blieb wie angewurzelt stehen. Noch fühlte sie den Hauch des süßen Kindermundes auf den Lippen, und der zärtlich-sanfte Knabe mit seinen großen sprechenden Augen, den sie in den Armen gehalten, er war schön wie ein Seraph, er hätte mit seinem grazienhaft ruhigen und edlen Wesen ein Fürstenhaus geziert – und er war ihr eigen Fleisch und Blut; der Lebensstrom, der einst von ihr ausgegangen, er hatte eben, wie zurückkehrend, in sanften Schlägen des kleinen Herzens an ihre Brust geklopft, unabweisbar zu ihr gehörend und die unnatürliche Schranke überflutend, die das harte Gebot: »Ich will dich nie wiedersehen, selbst nach dem Tode nicht!« selbstsüchtig aufgerichtet ... Und sie hatte einst gemeint, man könne vergessen und verwinden, wenn man nur ernstlich wolle; sie hatte sich all die Jahre hindurch immer angstvoller an den Namen ihrer Väter angeklammert, der wie ein knorriger Eichenstamm jahrhundertelang seine Eigenart behauptet und nach dem dünkelhaften Sinn der letzten seiner Töchter kein ausgeartetes, verkrüppeltes Reis tragen konnte. Sie hatte »vergessen und verwinden« wollen um diesen da, der eben wie ein losgebundenes, junges wildes Tier den Boden stampfte, der mit seinen schiefgestellten Augen tückisch nach einem Opfer für seine Peitsche suchte, und in seiner brutalen Roheit und Bosheit, seiner Lügenhaftigkeit der Schrecken aller war.

      Gerade in diesem Augenblick kam ihm die Stallmagd in den Weg. Sie trug zwei volle Eimer und konnte sich nicht wehren, und das war ein zu günstiger Augenblick – sausend fuhr die scharfe Peitschenschmitze über die dünn bekleideten Schultern des Mädchens; sie stieß ein Wehgeschrei aus und krümmte sich vor Schmerz.

      Mit wenigen raschen Schritten trat die Majorin aus dem Holzstall – sie entriß dem Knaben die Peitsche, zerbrach den Stock derselben in Stücke und warf sie ihm vor die Füße auf das Pflaster.

      Er wollte wütend auf sie losspringen – es lief ihr wie ein Schauer über den Leib; nach jenem innigen Umfangen durfte ihr dieses Element nie wieder nahe kommen. Sie stand da wie eine Mauer und streckte dem Heranstürmenden die geballte Faust entgegen.

      »Fort – oder ich züchtige dich, so lange ich eine Hand rühren kann!« sagte sie mit ihrer eiskalten, harten Miene, wenn ihr auch vor Grimm die Lippen bebten.

      Er hatte die Kraft dieser Hand neulich zur Genüge gespürt und zog sich feige zurück. Dafür verlegte er sich aufs Schimpfen; er machte die Geste der langen Nase und hob den zerbrochenen Peitschenstock auf, um ihn nach dem Düngerhaufen zu schleudern.

      »Der Papa wird dir's schon sagen! Wenn er nach Hause kommt, da kriegst du deine Leviten!« drohte er und lief nach dem Pferdestall, wo noch verschiedene seiner Peitschen und Reitgerten waren.

      Der Papa war aber bereits zu Hause. Er stand am Fenster der Eßstube und hatte den zerknitterten Filzhut mit der breiten, schlappigen Krempe noch auf dem Kopfe. Die Majorin hatte ihn schon vor Vollzug ihres Strafaktes bemerkt, und gerade weil er nicht die geringste Miene machte, die Mißhandlung der Magd auch nur mit einer Silbe zu rügen, hatte sie die Ausgleichung in die Hand genommen.

      Sie ging in die Küche, nahm einen Korb voll frischgepflückter Johannisbeeren aus einem Schranke und trug ihn in das Eßzimmer, um dort die Beeren zum Einmachen vorzurichten. Ihr Gesicht war wie immer so starr und verschlossen, als sei heute auch noch nicht die mindeste Gemütsbewegung darüber hingegangen; und wenn der arme Felix einen Rückblick in das alte Falkennest hätte werfen können, er würde genau wie bei seiner jedesmaligen Heimkehr das unbeirrte Schaffen und Hantieren, das Sparen und Einheimsen gefunden haben ... Und die Stube, an deren Eßtisch sich die Majorin einen jener steiflehnigen, hartgepolsterten Stühle gerückt hatte, die schon für die Großeltern Erbstücke gewesen waren, sie war unverändert dieselbe, in der dem Ausgestoßenen vor acht Jahren der Prozeß gemacht worden war. Sie zeigte dieselbe häßliche schokoladenfarbene Tapete; nur daß da und dort neue Flicken, jedenfalls im Bereich von Veits zerstörenden Händen, aufgesetzt waren und die Spuren täglicher Berührung am Schlüsselloch der tapezierten Wandschranktür sich verdunkelt und verbreitert hatten. Dahinter stand noch auf derselben Stelle der Blechkasten mit dem Milchgeld.

      Der Rat lehnte mit verschränkten Armen an der Fensterbrüstung, als seine Schwester eintrat. Er hatte den Hut auf das Nähtischchen geworfen, und das grünliche Licht, das durch die Ulme hereinfiel, ließ die reichen Silberfäden in seinem starren, immer noch sehr dichten Haar aufflimmern. ... Es sah aus, als habe er auf die Majorin gewartet, und sie mußte sich selbst denken, daß er sie Veits wegen zur Rede setzen werde, und gerade deshalb war sie in die Eßstube gegangen. Aber sie wartete vergeblich auf eine seiner beißenden, verletzenden Bemerkungen. Er trat nach einem kurzen Schweigen vom Fenster weg und fing an, in der Stube auf und ab zu gehen.

      »Du bist in der letzten Zeit so wortkarg, ja, so stumm gewesen, Therese, daß ich nicht einmal weiß, ob dir das drohende Unheil in meinen Kohlengruben vollständig zu Ohren gekommen ist,« hob er zu ihrem Erstaunen endlich an.

      »Das Gesinde spricht den ganzen Tag davon,« antwortete sie gelassen und streifte nach wie vor die Beeren von den Stengeln.

      »Und