Eugenie Marlitt

Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte


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dem Kind lebten so wenig Bosheit und Heimtücke wie in ihm, der einst von der heimischen Schwelle gestoßen worden war ...

      »Jugendstreiche, Therese, wie sie sein müssen bei einem rechtschaffenen Jungen, der gesundes Blut in den Adern hat!« lachte der Rat gezwungen auf. »Ich will dir damit auch nur schlagend beweisen, daß man nach solch scheinbar schlimmen Anzeichen, über die eben auch nur alte Weiber zetern, den künftigen Mann nicht beurteilen soll. Veit wird dir noch Freude machen, darauf verlasse dich! Er wird dir ein Sohn sein wie mir –«

      Er hielt inne, denn seine Schwester streckte plötzlich unterbrechend die Linke gegen ihn aus.

      »Ich habe einen Sohn!« rang es sich fast wie ein Schrei von ihren Lippen.

      In diesen vier Worten gipfelte und erlosch der furchtbare Kampf, der jahrelang verborgen getobt – die Zornflammen waren in sich zusammengesunken, und unversehrt, wie ein Phönix, stieg das Muttergefühl empor.

      Der Rat prallte förmlich zurück. Wohl war er den Spuren der Wandlung in dieser Frauenseele mit scharfem Blick vom ersten Tag an gefolgt; aber er hatte auch mit dem Starrkopf seiner Schwester, mit ihrem unbeugsamen Trotz, ihrer absoluten Unversöhnlichkeit gerechnet. Diese Frau hatte ihre Jugend, ihre strahlende Schönheit aus Rache gegen ihren Mann in das alte Klosterhaus eingeschlossen; sie war, grauenhaft vereinsamt, alt geworden, aber nie in den langen Jahren war ihr auch nur ein Wort der Reue, ein klagender Laut entschlüpft, und er hatte fest gemeint, mit der aufgerüttelten Erinnerung an den Sohn werde sie schließlich ebenso reinen Tisch machen – und nun siegte das Weib plötzlich, überwältigend in ihr! Ein Kind, »der blaue Hanswurst mit dem Flachskopf« hatte es ihr angetan! Eine wahrhaft grimmige Wut kam über ihn.

      »Du hast einen Sohn? – Verzeih, ich hatte das vergessen, oder vielmehr vergessen müssen auf dein ausdrückliches Geheiß!« sagte er mit tödlichem Hohn. »Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fürchten mußte, du würdest dich an mir vergreifen, wenn ich auch nur den Namen des Entarteten laut werden ließe.«

      Er senkte das Gesicht gegen die Brust und drehte den Kinnbart zwischen den Fingern. »So, so! ... Nun ja, du wirst alt, alt und mürbe, Therese! Da geht der Charakter in die Brüche, und man macht pater peccavi ... Na, sieh mal! Da darf man ja wohl wieder von vergangenen Zeiten sprechen? Oder besser, ich will dir ein paar Berliner Zeitungen mit heimbringen. Da steht's alle Tage zu lesen, daß die Frau Majorin Lucian eine berühmte Schwiegertochter hat. Aber du kannst ruhig sein, Therese – dein Sohn wird dabei nicht genannt. Neben solchen Theaterdamen ist der Ehegatte allemal eine Null, ein Nichts, höchstens der Schatten, den die Gefeierte unvermeidlich an der Ferse nachschleppt – er ist eben der Mann seiner Frau, macht den Sekretär – eine brillante Laufbahn, wie sie sich kaum die kühnste Phantasie einer ehrgeizigen Mutter träumen läßt – und lebt natürlicherweise ausschließlich mit von den glänzenden Einnahmen, welche die Ballettsprünge der Frau Gemahlin einbringen –«

      »Das glaubst du selbst nicht,« unterbrach sie ihn entschieden, wenn auch dumpf, wie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie hatte längst ihre Arbeit weggeschoben und war aufgestanden. Wie furchtbar es in ihr stürmte, das bewies das tiefe, beklommene Atmen, das ihre Brust hob, das nicht zu bezwingende Beben der Hand, die sich auf den Tisch stutzte. – »Er hat seine Sache gelernt – er kann sich sein Brot selbst verdienen.« Der Rat lachte rauh auf. »Du meinst, er mache seine Laufbahn als Jurist wie die Frau Gemahlin als Tänzerin, das heißt durch Gastieren in allen europäischen Städten?«

      Es ging plötzlich wie ein Aufleuchten über ihr Gesicht. »Weißt du so gewiß, daß er bei ihr ist?«

      Es kann auch der brutalsten Denkweise passieren, daß sie einen Augenblick zaudert, eine unverkennbare Lüge über einen Toten auszusprechen.

      Der Rat hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet; er trat in das Fenster und sah angelegentlich nach allen Himmelsrichtungen, als prüfe er den Stand des Wetters. Er zuckte die Achseln. »Ich muß dir gestehen,« sagte er noch abgewendet, »daß mir das bisher sehr gleichgültig gewesen ist. Es ist mir nicht eingefallen, auch nur im geringsten nachzuforschen – eine so abgetane Sache, wie die Verstoßung eines mißratenen Familiengliedes, rührt man nicht wieder auf; man müßte denn charakterlos und unzurechnungsfähig, mit einem Wort ein Waschlappen geworden sein ... Es scheint mir übrigens, als hofftest du, infolge besserer Einsicht auf der einen Seite sei jene verhaßte Ehe gelöst worden – liebe Therese, nicht in jeder Menschenseele wohnt die Kraft, die Gemütsruhe, mit denen du einst ein unliebsames Joch abgeschüttelt und deinem Mann den Laufpaß gegeben hast.«

      Sie ballte die Hände und drückte sie krampfhaft gegen die Brust, während sie das Gesicht langsam nach dem Sprechenden hinwandte. Er folterte sie stückweise, ihr ehemaliger Berater und Helfershelfer in allen Dingen, wo es gegolten hatte, den Wolframschen Starrkopf durchzusetzen. Jetzt begriff sie den Haß der Stadtbewohner gegen ihren ehemaligen Oberbürgermeister, jetzt, wo sich die schneidige Waffe seiner beißenden Zunge gegen sie selbst kehrte.

      Er kam wieder auf sie zu. »Ich muß dich daran erinnern, wie du einst gewohnt gewesen bist, zu handeln,« sprach er mit gesteigerter Stimme; »ich muß dir ins Gedächtnis zurückrufen, daß du stets nach Männerart lieber sofort einen verhaßten Knoten durchschnitten als dich unter seinen Druck gebeugt hast. Solch ein zerhauener Knoten aber läßt sich nie und nimmer wieder zusammenflicken, es sei denn, daß man sich vor Gott und aller Welt unsterblich blamieren will – und davon wird der derzeitige Chef des Wolframschen Hauses eines seiner Familienglieder ganz sicher zurückzuhalten wissen. Das kommt in erster Linie; in zweiter erinnere ich dich an deinen eigenen Ausspruch, der kurz und bündig besagt, daß dein Vermögen Pfennig um Pfennig, Groschen um Groschen, von unseren braven Vorvätern aufgesammelt worden, und du niemals gewillt seiest, dieses Geld in einer liederlichen Theaterwirtschaft verprassen zu lassen. Hast du deine Ansicht darüber geändert – gut – ich nicht!« – Er schlug mit seinen harten Knöcheln auf den Tisch. – »Jetzt stehe ich vor diesem Erbe und fordere es für diejenigen, die gegenwärtig den Namen Wolfram tragen, sowie für die, welche ihn in später Zukunft führen werden.«

      »Das kam in erster Linie und – das ist der Punkt, um den sich alles, alles dreht!« stöhnte sie auf unter der niederschmetternden Wucht einer plötzlich tagenden Erkenntnis.

      »Denke, was du willst – ich gehe den Weg, den mir die Pflicht vorschreibt,« sagte er eisig. »Ich rate dir wohlmeinend, Therese, hüte dich, mit mir anzubinden! Du ziehst den kürzeren, samt deiner ganzen Komödiantensippe, darauf verlasse dich!«

      Er ging wieder nach dem Fenster, öffnete einen Flügel desselben und rief einem über den Hof schreitenden Knecht einen Befehl zu, so ruhig und gleichmütig in die Tagesgeschäfte einlenkend, als seien eben auch nur die alltäglichsten Dinge in der Eßstube verhandelt worden.

      Währenddessen verließ die Majorin das Zimmer; sie ließ die Hausarbeit im Stich und ging hinauf in ihre Giebelwohnung...

      Von Einschüchterung konnte bei dieser Frau nicht die Rede sein; wo sie sich in ihrem guten Recht wußte, da fürchtete sie alle Juristenkniffe der Welt nicht – sie wurde schon fertig mit denen, die an ihr unbestrittenes Eigentum zu rühren wagten, und deshalb hätte sie die Anmaßung ihres Bruders, seine Drohungen verlacht, wäre ihr nicht der scharfe Schmerz der bittersten Enttäuschung im Hinblick auf eben diesen Bruder durch das Herz gegangen ... Also es war nicht brüderliche Selbstlosigkeit und Hingebung gewesen, daß er treu zu ihr gehalten! Er hatte sie bestärkt in ihrer unbeugsamen Härte; er hatte sie mit den Jahren geflissentlich abgedrängt von ihrem Kinde, nicht aus Brudertreue und in der Überzeugung, daß die Schwester völlig korrekt und gerecht handle und dabei gestützt werden müsse, sondern einzig und allein in wahnwitziger Vergötterung seines einzigen Sprossen, dem er auf diese Weise eine große Erbschaft zuwenden wollte.

      Ihre Augen feuchteten sich, und das Gefühl einer tiefen Demütigung trieb ihr das Blut in das Gesicht... Wo waren die vermeintlich unerschütterlichen Stützen hin, auf denen ihr Selbstbewußtsein bisher gestanden? Es waren Stelzen gewesen, Stelzen des Eigendünkels, welche die ewige Vergeltung über Nacht umgeblasen ... Sie hatte sich selbst bestohlen in ihrer Rachgier, Herrschsucht und Verblendung, bestohlen um viele Jahre, in denen sie tausendfachen Segen hätte geben und empfangen