Menschen aus allen Richtungen zu kommen, man hörte hastig heranstürmende Schritte auf den Kieswegen.
Lucile fuhr aufhorchend empor und schwang sich mit einem elastischen Sprung auf den Wagentritt. »Himmelelement, da haben wir die Bescherung – die Häscherbande kommt!« rief sie grimmig in sich hineinlachend. »Bah, für diesmal wäre das Spiel verloren, dank Ihrer gütigen Einmischung, werteste Frau Schwiegermutter! ... Was Sie veranlaßt haben mag, aus Ihrem gräßlichen Unkenloch ans Tageslicht zu kriechen – der Himmel mag es wissen! Darüber zerbreche ich mir auch meinen armen Kopf durchaus nicht; Liebe oder sonst eine gute Eigenschaft ist's ganz gewiß nicht gewesen, das steht bombenfest! ... Na, diesmal hat die Bosheit gesiegt – prosit, wohl bekomm es Ihnen, verehrte Frau! Ein anderes Mal lache ich!«
Sie machte einen spöttischen Bühnenknicks voll unvergleichlich drastischer Komik, sprang in den Wagen und warf sich in die Polster. »Vorwärts!« kommandierte sie mit ihrer hochliegenden Kinderstimme ungeduldig und rücksichtslos; die Pferde zogen an, und der unglückliche Sekretär, der sich nach der Kammerjungfer eben auf den Tritt geschwungen hatte, taumelte wie trunken auf den Vordersitz des davonrollenden Wagens. –
33.
Die Majorin blieb auf der Schwelle stehen, als gelte es, den Eingang zu hüten, bis auch das letzte, fernste Räderrollen des Wagens verhallt war. Sie wandte nur das Gesicht in den Garten hinein, wo Paula auf dem Arm ihrer schwarzen Wärterin unaufhörlich weinte und nach »Mama« und der »wunderschönen, großen Schreipuppe« verlangte, die ihr Minna versprochen habe.
Ein Menschentrupp hatte sich um Deborah geschart und verlangte Auskunft über das, was eigentlich geschehen. Die Leute, wie sie sich herandrängten, der Gärtner, der Stallknecht und verschiedene weibliche Dienstboten des Schillingshofes, sie hörten dem überstürzten, atemlos hervorgestammelten Bericht der Schwarzen mit ganz verblüffter, verständnisloser Miene zu. Die kleine gnädige Frau habe ihr eigenes Kind stehlen wollen – darauf sollte sich einer einen Vers machen! Das war ja rein lächerlich!... Deborah vergaß vor Schrecken alle Vorsicht, und Jack, der vom Säulenhaus herbeigestürmt war, in seiner Wut ebenfalls. »Das hat Kanaille Minna ausgeheckt!« rief er. »Ist immer da hinausgegangen bei Besorgungen in der Stadt – hat gewußt, daß Klein-Paula morgens immer dort spielt, allein mit Deborah!«
Donna Mercedes kam flüchtigen Ganges quer über die Wiesenflächen daher. Sie war im weißen, duftig flatternden Morgenkleide – es sah aus, als schwebe sie über die Grasspitzen.
Deborah lief ihr mit der kleinen Paula entgegen und wiederholte unter angstvollen Gebärden ihre Erzählung – sie zitterte sichtlich unter dem Blick der großen, fragenden Augen.
Das schöne Antlitz der Herrin wurde totenblaß, und ihre Brauen zogen sich finster und drohend zusammen; aber sie verlor die Geistesgegenwart nicht wie ihre Leute. Sie unterbrach mit kurzen, leisen Worten und einem Handwinken den Bericht, und als die Schwarze verstummend nach der Mauertür zeigte, in deren Rahmen die Majorin noch stand, da nahm sie das Kind, das bei Erblicken der Tante ruhiger geworden war, vom Arm der Wärterin, stellte es auf die kleinen Füße und führte es direkt der Frau zu, die seine Entführung verhindert hatte.
Diesmal wich die Majorin nicht zurück; sie ging im Gegenteil Donna Mercedes um einige Schritte entgegen, und die junge Dame war ganz verblüfft von der königlichen Haltung, dem würdevollen edlen Gang der Frau. Sie hatte in der Tat die blauleinene Kochschürze über ihrem dunkeln Wollenkleide; im Drange des Augenblicks waren ihr weder Zeit noch Überlegung verblieben, sie abzuwerfen, und auch jetzt schien sie durch das Begebnis viel zu sehr in Anspruch genommen, um zu bedenken, daß sie, wie eine Magd auf fremdem Boden, einer hocheleganten Dame gegenüber stehe. Eine seine Röte innerer Erregung brannte auf ihren Wangen.
»Ist Ihnen das kleine Mädchen anvertraut worden, Fräulein, dann werden Sie es in Zukunft besser hüten müssen,« sagte sie kurz, fast strafend. »Es möchte sich nicht immer so treffen, daß Hilfe nahe ist, wie es eben der Fall war.«
»Einen solch heimtückischen Streich von Seiten der Mutter konnte niemand voraussehen,« antwortete Mercedes, peinlich berührt von dieser unverhüllten Rüge. »Ich hüte die Kinder wie meinen Augapfel.«
Die Majorin ließ einen scharfprüfenden Blick über die junge Dame hingleiten. »Sie sind die Erzieherin?« fragte sie zögernd und etwas unsicher. Ein leises ironisches Lächeln stahl sich um Donna Mercedes' Mund. »Nein – ich bin die Tante.«
Die Majorin trat unwillkürlich zurück. »Ach so – also auch eine Fournier?« warf sie verächtlich hin, und ihre Augen hefteten sich ausdrucksvoll auf das spitzenbesetzte Morgenkleid, als wollten sie sagen: »Auch Theaterplunder!«
Donna Mercedes errötete vor Unwillen. »Ich muß sehr bitten,« entgegnete sie entrüstet. »Jener Familie habe ich nie angehört, weder dem Blut noch dem Namen nach! Ich stelle mich Ihnen vor als Frau de Valmaseda.« – Ein richtiger Instinkt hielt sie ab, dieser geschiedenen Frau jetzt schon, in einem Augenblick der Aufregung, zu sagen, daß sie Felix Lucians Stiefschwester sei.
Eine derartige Annahme schien aber auch der Majorin vollkommen fern zu liegen. Sie forschte nicht weiter, weil sie offenbar mit brennender Ungeduld eine andere Frage zu lösen wünschte. Man sah, sie rang nach einem möglichst unverfänglichen Ausdruck, und plötzlich sagte sie: »Die Person, die da eben fortgefahren ist –«
»Sie meinen Lucile Lucian, geborene Fournier?«
Die Augen der Majorin glühten erbittert auf – für ihr Ohr war diese Namenverbindung jedenfalls noch genau so verhaßt, wie an jenem Abend, da sie den einzigen Sohn um seiner Wahl willen verstoßen hatte. Aber sie bezwang sich. »Ich wollte fragen, ob sie getrennt lebt von – von ihrem Mann?«
Donna Mercedes fühlte, wie ihr vor Erschütterung alles Blut zum Kerzen zurücktrat – sie schauderte. Diese Mutter da, in der sich Liebe und Reue aufbäumten und sie unwiderstehlich auf den Weg der Umkehr drängten, sie war völlig ahnungslos, daß es zur Buße zu spät sei, daß sie keinen Sohn mehr habe, zu dem sie in beglückender Verzeihung sagen konnte: »Komm an das Mutterherz zurück!« – Mit weggewendetem Blick, barsch und rauh, hatte sie die Frage hingeworfen – noch wogte ein starker Rest von Trotz und Unbeugsamkeit in dem Gefühlssturm mit – aber ein kaum zu unterdrückendes Frohlocken sprach aus ihren Zügen, lag in der atemlosen Spannung, mit der sie auf die bejahende Antwort horchte. Sie glaubte das unwürdige Band gelöst, sie hoffte auf eine doppelt frohe Wiedervereinigung mit dem Sohn, nachdem das verhaßte störende Element ausgestoßen war ...
Da hob sie betroffen die Lider, weil keine Antwort erfolgte, und sah die plötzliche Veränderung in den Zügen der jungen Dame. »Nun, warum sprechen Sie nicht?« fragte sie heftig und trat so dicht an Donna Mercedes heran, daß diese meinte, sie höre das starke, stürmisch bewegte Herz der Frau klopfen. »Hörten Sie denn nicht, was ich fragte? – Ich will wissen, ob er sich von jenem unseligen Geschöpf getrennt hat –«
»Ja – aber in anderer Weise als Sie denken,« versetzte Donna Mercedes stockend – ein unsägliches Mitleiden, ein inniges Erbarmen umflorte diese schwachen Töne.
Das Gesicht der Majorin wurde plötzlich fahlweiß bis in die Lippen, und die hochgehobenen Brauen falteten sich wie in wildem Entsetzen über den weit aufgerissenen Augen ...
Donna Mercedes ergriff ihre Hände und zog sie mit einem tränenfeuchten Aufblick an sich. »Glauben Sie, Felix würde seine Kinder allein hierhergeschickt haben? – Er würde, nachdem sein Knabe das Zeichen Ihrer Verzeihung heimgebracht, nicht sofort hinübergestürzt sein –«
»Tot!« stöhnte die Majorin auf. Sie riß sich los, fuhr mit beiden Händen nach dem Kopfe und schlug plötzlich auf den Boden hin, wie ein Baum niederschmettert, den die Säge an der Wurzel durchschnitten hat.
Die zusammengelaufenen Leute des Hauses hatten sich inzwischen entfernt, nur Deborah war dageblieben. Sie kam erschrocken herbei und half ihrer Herrin, die Gestürzte aufzurichten. Sie war nicht bewußtlos – es war die