wohl der Papa für Sachen da drin hatte!«
Er hielt sich an der Bretterwand fest, kletterte die etwas steilen Stufen hinauf, ging beherzt zwei Schritte auf glattem Boden weiter und stieß plötzlich an etwas Elastisches, das sich anfühlte, wie das Lederpolster an Papas altem Lehnstuhl. Es gab nach und wich weit zurück, wie eine geräuschlos gehende Tür, und war weich und dick wie eine Matratze.
In dem Augenblick, als dieser seltsame Gegenstand aus dem Wege glitt, hörte der Knabe eine fremde Frauenstimme sprechen, klar und deutlich – sie klang wie eine tiefe Glocke und erzählte von brennenden Häusern und erschossenen Menschen, und von einem, der sehr krank gewesen war und immer von seiner Mutter gesprochen hatte – es war gerade, als würde aus einem Buche vorgelesen.
Mosje Veit war aber kein Freund von rührenden Geschichten. Er schlug nach den Mägden, wenn sie sich in der Gesindestube Märchen von verlassenen und verirrten Kindern erzählten, oder von dem Opfermut und Untergang irgend einer sagenhaften Spinnstubengestalt sprachen ... So riß ihm auch jetzt die Geduld, und dabei dachte er ganz geärgert, wie denn die Frau, die dort sprach, als sei sie zu Hause, aus das Klostergut komme, und er mußte sich besinnen, was das eigentlich für eine Stube sei, in der sie sitze ...
Mit seinem verwegensten und boshaftesten Gesicht drang er vor – seine tastenden Hände stießen plötzlich an Holz, und das mußte eine Tür sein, denn er bekam gerade einen Riegel unter die Finger... Jetzt wollte er aber auch der »dummen« Frau da drin, die gar nicht aufhörte mit ihrer langweiligen Geschichte, einen solchen Schrecken einjagen, daß sie vom Stuhle fallen sollte.
Er riß den Riegel zurück und zog die Tür herein, und – da stand er hinter einem wunderlichen Gitter; es war gerade, als sei ein starkes, festes, aber durchsichtiges Spitzengewebe aus allerlei Ranken und Verschlingungen da ausgespannt, und dahinter tat sich ein weiter, herrlicher Raum auf, flimmernd in farbiger Seide und glänzenden Gerätschaften. Das sah er aber nur wie von einem jäh niederfahrenden Blitz erhellt; – es verschwand alles vor der Gruppe, die inmitten des Zimmers ihm gegenüber stand – ein Mädchen, vorgestreckten Fußes, mit weit aufgerissenen Augen ihn glühend anstarrend, und neben ihr ein Hund, gewaltigen Leibes wie ein Tigertier, zähnefletschend, knurrend und bereit, sich bei der geringsten Bewegung des Eindringlings auf ihn zu stürzen.
Mosje Veit versuchte den Rückzug – aber jetzt rang sich ein furchtbarer Aufschrei von den Lippen des Mädchens und mit einem riesigen Satz sprang der Hund gegen das Gitter. Es zerkrachte unter der Wucht seines Körpers, als sei es in der Tat ein zartes Spitzengeflecht, in zahllose, weithinfliegende Splitter.
Der Knabe floh in sprachlosem Entsetzen, aber er stieß an die den Weg halb versperrende Matratzentür, er strauchelte, stürzte mit der Stirn auf die Steinstufen, überschlug sich und rollte das Galerietreppchen hinab auf die Dielen der Amtsstube.
In diesem Augenblick duckte sich aber auch schon das keuchende Tier mit wütendem Knurren über den hingestreckten Körper, als wolle es jeden zerreißen, der seinem gestellten Wild nahe komme.
»Das ist der Mäuseweg!« schrie Hannchen im wilden, fast wahnwitzigen Jubel auf. »Gott sei Dank! Gott im Himmel sei Dank! Mein guter, lieber Vater ist's nicht gewesen! Der Spion war drüben auf dem Klostergut!«
Sie zog die Polsterbank, über welche Pirat hinweggesprungen war, mit einem Ruck von der Wand, lief durch den wundersam geoffenbarten »Mäuseweg« und riß den Hund von dem Knaben weg. Aber Veit erhob sich nicht – sein Gesicht verzerrte sich und dicker, weißer Schaum trat ihm auf die Lippen, er lag in Krämpfen.
Die Damen in der Fensterecke, der äußeren Umgebung vollkommen entrückt, hatten weder Hannchens und Pirats seltsames Gebaren und Aufhorchen, noch das überraschende Erscheinen des Knaben in der Wandtiefe bemerkt. Erst bei dem Aufschrei des Mädchens und dem Geprassel der zerberstenden Holzschnitzerei waren sie erschrocken herumgefahren und hatten den Hund in einer erstickenden Staubwolke verschwinden sehen, und während Donna Mercedes, verwirrt und verstört, regungslos auf ihrem Platze verharrte und den ganzen Vorfall, selbst Hannchens Jubel nicht begriff, war die Majorin, von einer entsetzlichen Ahnung erfaßt, emporgesprungen.
»Der Spion war drüben auf dem Klostergut!« hatte das Mädchen gerufen. Unsicheren Ganges, wie von einem Schwindelanfall ergriffen, durchschritt die Majorin den Salon. »Großer Gott!« schrie sie auf und streckte die Arme gen Himmel, als gelte es, eine hereinbrechende große, unauslöschliche Schande abzuwehren.
Ja, das war die Amtsstube, der Raum, in den man durch den schmalen tiefen Gang hineinsah! ... Gerade dort an der gegenüberliegenden Wand stand das altväterische, mit braunblumigem Kattun überzogene Kanapee, und darüber hing das Pastellbild ihres Großvaters, des alten Klaus, des bravsten und tüchtigsten aller Wolframschen Männer ... Seine ehrlichen Augen sahen unverwandt herüber in das Haus des adligen Geschlechtes, das eine ehrlose, verräterische Nachbarschaft gehabt hatte, ohne es zu ahnen. Aber er hatte auch nicht um diesen Mönchsschleichweg gewußt, so wenig wie alle anderen, die vor ihm dagewesen waren, so wenig wie sein Sohn, der jungverstorbene, wackere Vater des »Herrn Rats«. Nie hatte irgend eine Überlieferung oder Familiensage auf einen versteckten Verbindungsweg zwischen den zwei Klosterhäusern hingedeutet. Nur der letzte war dem Lauscherposten der alten Mönche auf die Spur gekommen, der letzte, der als Knabe ein Heimtückischer, ein boshafter Duckmäuser gewesen war, ohne daß er es seine Umgebung je hatte merken lassen.
Noch lag ein tiefes Dunkel über der unheilvollen Katastrophe; nur so viel ließ sich ersehen, daß Veit dem Treiben seines Vaters nachgespürt haben mußte. Er lag drüben auf dem Boden hingestreckt, während Hannchen den Hund am Halsband von ihm weggerissen hatte – Hannchen, das Kind des Mannes, der einst um jener fremden Niederträchtigkeit willen Ehre und Leben verloren! Nur wenige Schritte entfernt war die Schwelle, an der er damals vergebens um seine Ehrenrettung gebeten hatte.
»Der Kleine ist krank!« rief das Mädchen herüber. Sie scheuchte Pirat mit einer drohenden Armbewegung nach dem Galerietreppchen, und er trabte kleinlaut die Stufen hinauf und trollte sich auf seinen Platz neben Josés Fahrstuhl.
Ein nicht zu beschreibender Kampf wühlte in der Seele der Frau, die da mit schlotternden Gliedern und versagendem Blick an der gähnenden Öffnung stand, aus der immer noch Staubmassen, mit herabrieselnden, feinen Holzsplittern gemischt, wogten und wirbelten ... Mit dem ehrlosen Spion, dem gierigen Horcher an der Wand, den sie in der Welt den »Herrn Rat« nannten, wollte sie nichts gemein haben – er war tot für sie, er verdiente nicht, daß sie auch nur einen Finger für ihn rührte, ein Wort zu seiner Verteidigung laut werden ließ. Aber der dort, und mit ihm die lange Reihe der Alten, Braven, die sich nach einem arbeitsvollen Dasein und unausgesetzten Ringen um einen geachteten Namen friedlich zum letzten Schlaf im Totenschreine ausgestreckt, sie hatten das Recht, von einer ihrer Töchter die ganze Kraft des Willens und Handelns für das Interesse des Wolframschen Hauses einzufordern ... »Sieh, was zu retten ist an dem Ruf, der unser höchster Schatz seit Jahrhunderten gewesen!« schien ihr der ernste, achtbare, stets geliebte Graukopf von der Wand herüberzurufen.
Und sie biß die Zähne zusammen, preßte die festgeballte Hand auf die schweratmende Brust und duckte ihre hohe Gestalt unter die zackig herunterstarrenden Trümmer der zerstörten Wandbekleidung, und von Donna Mercedes gefolgt, die jetzt den Vorgang in seiner ganzen abscheulichen Tragweite verstand, durchschritt sie den Gang, der sich wie ein Schlagbaum vor die ganze Summe von Rechtschaffenheit und unbescholtenen Lebens eines drei Jahrhunderte überdauernden Geschlechtes absperrend legte.
Ohne zu sprechen hob sie den völlig bewußtlosen, mit Armen und Beinen krampfhaft zuckenden Knaben vom Boden auf und bettete ihn mit Hilfe der anderen auf das Ruhebett. Dann ging sie durch die Eßstube in die Küche. Ein erstickender Qualm schlug ihr entgegen; es roch brandig. und im Suppentopf brodelte gurgelnd der letzte Fleischbrührest, der nicht mehr über den Rand zu schäumen vermochte. So schmerzgefangen ihre Seele auch war, so grauenhaft sie auch das Gefühl überwältigte, als sei ihr heute das Herz in der Brust umgewendet – die unveränderliche, Pflichtgetreue Tätigkeit eines ganzen Lebens behauptete ihr Recht. Mechanisch griffen die Hände nach den Fensterflügeln, um sie zu öffnen, sie rissen den Topf vom Feuer und den brennenden Braten aus der Röhre, um beides auf den steinernen Tisch zu stellen – dann ging sie hinaus und rief einer der erschrockenen,