Wahnwitz! Sie sind ein Stümper – Sie haben keine Ahnung von einer Diagnose! Da sollen und müssen mir andere her!«
Er stürzte hinaus, und nach wenigen Sekunden liefen die Mägde und einige inzwischen aus dem kleinen Tal zurückgekehrte Tagelöhner nach allen Richtungen hin, um die Ärzte, deren sie habhaft werden konnten, herbeizuholen.
Wenige Stunden später lag ein völlig gebrochener Mann zu Füßen des Lagers, auf dem ein junges Leben in rasender Schnelligkeit seiner Auflösung entgegenging – mit dem letzten Pulsschlag dieses jungen Herzens wurde er selbst in das Nichts hineingerissen. Was war er ohne das eine Ziel, dem er in fieberhafter Anstrengung, über Ehre und Gewissen hinweg, unausgesetzt Goldklumpen zugewälzt? Er hatte für seinen Abgott nach jener Höhe gestrebt, an deren Fuß sich das »Menschengesindel« zusammendrängt und ehrfürchtigen Blickes hinaufschaut zu dem Kapital, das von einem blendenden Schein umfunkelt wird, mag es auch mit dem boshaftesten Menschenantlitz in die Welt hineinblicken, mag sein Träger an Geist, Fleisch und Bein die kümmerlichste Jammergestalt sein.
Nun hatte er sich mit halberschöpfter Körperkraft und verlorener Seele hinaufgearbeitet; nun stand er droben und sah in ein Grab, und in den Staub und Moder hinein konnte er seine Schätze nicht werfen. Wohin damit?
Er hatte die Hälfte dessen, was er zusammengescharrt, den Ärzten geboten für ihre rettende Hilfe; er hatte gerast und sich mit den Fäusten die Brust zerschlagen, und in wahnsinniger Verzweiflung Gott angerufen und ihn zugleich verlästert und seine Allmacht und Barmherzigkeit mit dem beißendsten Hohn in Frage gestellt – und währenddessen waren die Krämpfe des Knaben in immer kürzeren Unterbrechungen wiedergekehrt; nicht ein einziges Mal mehr hatte ihn der kluge Blick, der sein Stolz gewesen, bewußt gesucht. Das Denken war längst erloschen, während der Körper noch rang und kämpfte – dieser Körper, den er einst wie ein Königskind in jauchzendem Glücksgefühl, fast in Ehrfurcht aus den Händen der Hebamme entgegengenommen, den er in Daunen, unter grünseidenem Baldachin gebettet! –
Angesichts dieses entsetzlichen Endes stieg der Anfang, stiegen jene Tage in grausamer Deutlichkeit vor ihm auf... Er sah sein Weib sterben – sie hatte ihre Schuldigkeit getan und konnte die Welt getrost verlassen, hatte er damals hartherzig gemeint und keinerlei Schmerz empfunden. Er sah die wahrhaft fürstlichen Zurüstungen zu dem Taufschmaus im ehemaligen Refektorium der Mönche, sah »die stolze Gevatterschaft in Samt und Seide« glückwünschend unter den Myrten- und Orangenbäumen stehen – aber er hörte auch das nervenerschütternde Krachen, mit dem die uralte Orgel am Tage nach Veits Geburt in sich zusammengebrochen war.
Und er wühlte die Augen tiefer in das Ende der Decke, die den zuckenden Körper seines Kindes verhüllte. Er wollte nicht mehr denken, er wollte nicht die grauenvolle Stimme hören, die ihm in das Ohr flüsterte, daß dort in der Mauertiefe auch Anfang und Ende beisammenlägen, daß sich sein Veit in diesem Augenblick wohl draußen unter dem strahlend blauen Spätnachmittagshimmel fröhlich und ausgelassen tummeln würde, wenn die alten zinnernen Pfeifen, die Holzengel noch an dem Platze stünden, da sie die Hand des musikbegabten Abtes aufgestellt, und wo sie Jahrhunderte hindurch harmlos auf die harten, aber braven Köpfe der Wolframs, auf ihr Tun und Treiben niedergesehen, nie verratend, daß ein Schleich- und Diebsweg neben ihnen die Wand durchbohre ... Verflucht, verflucht bis in alle Ewigkeit sollte der Tag sein, an dem sich das Geheimnis dem letzten Wolfram enthüllt und er der Versuchung erlegen war! ...
So war die Nacht hereingebrochen, und ein Arzt nach dem anderen hatte sich verabschiedet; nur der geschmähte alte Hausdoktor war geblieben, und die Majorin hatte es nicht über sich gewinnen können, vom Klostergut zu gehen, während ihr heißgeliebter Familienname mit seinem jüngsten Träger für immer erlosch.
Sie hatte für diese wenigen Stunden das Regiment im alten Vaterhause stillschweigend wieder übernommen. Es war ihr zumute, als müsse sie sich verbluten und sterben an den tiefen Wunden, die ihr der heutige Tag geschlagen: aber sie ging umher mit dem blassen Steingesicht, wie es die Leute des Hauses an ihr gewohnt waren. Sie holte das Nötige aus der Speisekammer, und auf dem Herde brodelte, ihrem Befehle gemäß, ein warmes Abendbrot für das Gesinde, das um sein Mittagessen gekommen war ... Aus dem kleinen Tale kam eine Nachricht um die andere, dringende Botschaften voll Jammer und Unglück – sie ließ keinen der Boten hinein zu dem Mann, der nun nicht mehr helfen konnte und am Sterbebette seines Kindes furchtbar büßte, was er gesündigt hatte. Ihr Bruder sah sie nicht. Er hob nur einmal den Kopf und knirschte wie ein Wahnwitziger mit den Zähnen, als ihm eine der Hausmägde mitleidig ein Glas mit Wein gemischten Wassers als Labung bot – er stieß voll Abscheu den Trunk von sich ... Auch den treu ausharrenden Arzt beachtete er nicht. Er seufzte nur tief auf, und ein Schauder lief durch seine Glieder, wenn sich die kleinen Füße, neben die er seinen Kopf gelegt hatte, zwar immer matter, aber in pünktlicher Wiederholung der Krämpfe zusammendrehten.
Es wurde immer stiller in der Amtsstube. Das Rauschen des Laufbrunnens im Vorderhof drang eintönig durch das offene Fenster herein, und daneben war es, als gehe ein Erschauern durch die Lindenwipfel – der Nachtwind schlich durch die Blätter und kam auch wie auf Geistersohlen über den Steinsims her und rührte an die Papiere, die auf dem Tisch in der Fensterwölbung lagen.
Nun schlug es draußen auf dem Benediktinerturm die elfte Stunde, und ehe noch der letzte Schlag verhallt war, streckte sich der Körper des Sterbenden in seiner ganzen Schlankheit aus, und als der Rat mit einem Schrei aufsprang und sein Ohr an den geöffneten Kindermund legte, da war schon der letzte Atemhauch in den Lüften verflogen.
Minutenlang hielt er den entseelten Körper an die Brust gedrückt und küßte wiederholt das noch warme, kleine Gesicht; dann strich er das Kopfkissen zurecht, bettete den Kopf des Knaben vorsichtig darauf, schloß ihm die Lider über den starren Augen und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, schweigend hinaus.
Die Majorin hatte sich in die unbeleuchtete Eßstube zurückgezogen. Die Tür stand offen, und so konnte sie das Sterbelager im Auge behalten. Sie hörte, wie der Rat ohne Aufenthalt den Hausflur und den Vorderhof durchschritt und das Mauerpförtchen hinter sich zufallen ließ.
»Er geht wohl nach dem kleinen Tale,« flüsterte der Arzt, als sie, lautlos und entfärbt wie ein Geist, zu ihm trat. »Und so schlimm es draußen auch stehen mag, für ihn ist es gut. Es treten schwere Aufgaben an ihn heran, und die werden ihm über seinen großen Schmerz hinweghelfen.«
Auch er verließ das Haus. Die Majorin schloß die unteren Fenster der Amtsstube, zog die Vorhänge vor und öffnete dem Luftzug die oberen Flügel ... Einen Augenblick verharrte sie erschüttert vor der Leiche des Knaben, der nur über die Erde gegangen war, um mit jeder seiner kleinen Fußstapfen Unheil und Leiden für andere aus dem Boden zu stampfen – und sie legte die Hand auf die Brust und sagte sich, daß auch sie voll Schuld sei, daß sich ihr glühender, fast frevelhafter Wunsch, den Wolframschen Namen fortleben zu sehen, in seiner Erfüllung strafend auch gegen sie selbst gerichtet habe.
Sie löschte das Nachtlicht aus, schloß die Türen und ging in die Küche. Dort kauerten die Mägde auf der Türschwelle, und waren ermüdet eingeschlafen. Ohne sie zu wecken, zog sie den Docht zu einem ungefährlichen Flämmchen tiefer in die Lampe und ging hinaus, über den Hof hinweg in den Garten. Sie wußte zum erstenmal in ihrem Leben nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollte. Der Rat hatte sie aus seinem Hause gewiesen, und den Schlüssel zu dem Giebelzimmer, dem Raume, der trotz alledem augenblicklich ihr unbestrittenes Eigentum war, trug er in der Tasche ... So setzte sie sich auf die Gartenbank und wollte das Frührot erwarten, um dann am Schillingshof um Einlaß anzuklopfen.
Die Sterne funkelten in seltener Pracht über dem Klosterhause, über den alten Giebeln und Mauern, in denen sie als glückliches Kind gespielt, als stolze Braut geträumt und als Frau und Mutter unbeschreiblich gelitten hatte – durch eigenes Verschulden! ... Und was der Tag mit seinen Stürmen nur halb vollzogen, das vollendete nun die stille, schweigende, feierliche Nacht – die Läuterung, der Frauenseele, die sich selbst heute nachmittag noch einmal erbittert, voll auflodernder Eifersucht und Rachegefühl empört hatte bei der Nachricht, daß der böslich verlassene Mann, der heute noch geliebte, mit einer anderen glücklich geworden war und sie, die Unversöhnliche, vergessen hatte. Da hatte sie mit sich ringen müssen, um nicht plötzlich voll Haß mit den Händen