brutales und anmaßendes Auftreten vollständig untergraben habe.
In diesen inneren und äußeren Sturm hinein kam die ärztliche Botschaft vom Klostergute. Das zum Hinablassen in die Tiefe bestimmte Seil, das der Rat eben herbeischleppte, entrollte seinen Händen; einen Augenblick stand er wie vom Blitz getroffen; dann verließ er seinen Rettungsposten, um nach der Stadt zu laufen.
Zwar hatte die Gendarmerie bereits eine gewisse Absperrung um die Unglücksstätte zu ziehen gewußt; aber die Menschenmassen, denen immer neue von der Stadt her zuströmten, standen doch so nahe und dicht gedrängt, daß sich die Fortgehenden eine förmliche Bresche erzwingen muhten.
»Haltet ihn! Er will uns entwischen, weil er weiß, daß den armen Teufeln da unten nicht zu helfen ist!« rief es plötzlich aus der Menge, durch die sich der Rat, gefolgt von der Magd, die ihm die Botschaft gebracht hatte, zu wühlen suchte.
Augenblicklich griffen ein paar Dutzend Hände nach ihm – der Hut flog ihm vom Kopf, sein Rock wurde zerrissen, und die wütende Masse hätte den Verhaßten zertreten, wenn nicht die Sicherheitsbeamten zu seinem Schutz herbeigeeilt wären und ihn bis zu den ersten Häusern der Stadt, begleitet hätten.
Ohne Hut, mit Staub und Schweiß bedeckt, verstört im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, so trat er in die Amtsstube.
»Was ist mit Veit?« stieß er atemlos heraus, und in seiner Stimme mischte sich mit der bebenden Angst doch auch noch der Ingrimm über die eben erlittene Mißhandlung. An die dunkle Macht, die bereits mit einem Fuß in seinem Hause stand, an den Tod, schien er doch, trotz der dringenden Botschaft des Arztes, nicht im entferntesten zu denken.
Der Knabe lag augenblicklich wieder ruhig – bei flüchtigem Hinsehen konnte man meinen, er schlafe.
»Er hat einen seiner gewöhnlichen Anfälle gehabt!« sagte der Rat tief erleichtert, aber auch fast überlegen und im Tone einer scharfen Zurechtweisung dafür, daß man ihm um deswillen einen solchen Schrecken eingejagt habe. »Ja, die Anfälle wiederholen sich nur in etwas rascher Aufeinanderfolge,« versetzte der Arzt ohne alle Empfindlichkeit, aber auch ohne den Rat anzusehen. Er trat an einen Tisch und schrieb mit dem Bleistift ein neues Rezept.
»Wie kommt das?« fragte der Rat immer noch unbesorgt – auch der Fall war ja schon öfter dagewesen.
»Er hat eine Gehirnerschütterung erlitten; er ist gestürzt –«
»Vom Birnbaum?«
»Nein,« sagte die Majorin vom Fenster herüber. Sie hatte sich beim Kommen ihres Bruders in die tiefe Mauernische zurückgezogen und war bis jetzt nicht in seinen Gesichtskreis getreten.
Er fuhr herum, und ein diabolisch triumphierendes Lächeln schlüpfte um seinen Mund. »Ei, da bist du ja, Therese! ... Wie – ich meinte vor wenigen Stunden wirklich, es sei ein Auseinandergehen fürs ganze Leben, so tragisch war deine zurückweisende Handbewegung! – Und nun hast du doch den Weg auf das Klostergut zurück gefunden?« –
»Ja – einen seltsamen,« bestätigte sie in einem fast geisterhaften Ton, während der Arzt das Zimmer verließ, um sein Rezept fortzuschicken.
Der Rat schwieg betroffen und fast verwirrt durch den verachtungsvollen Drohblick, der ihm aus den dunkeln Augen entgegenfunkelte. Aber er hatte ja nicht die leiseste Ahnung von dem, was geschehen war, und so kam ihm plötzlich die Gewißheit, daß die Schwester nicht reumütig, wie er im ersten Augenblick triumphierend gemeint hatte, sondern nur in der Absicht zurückgekehrt sei, das Ihrige zu holen und einzufordern. Eine stille Wut kochte in ihm.
»Seltsam allerdings,« wiederholte er spöttisch ihren eigenen Ausspruch. »Es fragt sich dabei nur, ob er auch mir zusagt, ob ich dir nach einem solchen Fortgehen das Wiederkommen ohne weiteres in meinem Hause gestatten will. Und daraufhin sage ich dir: Mit nichten, meine Teure! – Wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen, und zu dem Giebelzimmer steht dir der Weg nicht mehr offen – hier ist der Schlüssel!« Er schlug gegen die Brusttasche seines Rockes. »Willst du mehr wissen, so wende dich an das Gericht – dort werde ich dir schon antworten.«
Das Blut wallte ihr nach dem Gehirn und raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit. »Ach so – du willst mich als Bettlerin vom Klostergut jagen?« rief sie mit heiserer Stimme. »Du glaubst, ich krieche aus Angst um mein rechtmäßiges Hab und Gut zu Kreuze, während ich doch nur hier stehe, um dich zu fragen, wie der letzte Brief meines Sohnes an seine unglückliche Mutter in deine Hände gekommen ist?« Er wurde kreideweiß, lachte aber auch sofort hart und gezwungen auf. »Ein Brief des Landstreichers? Wie möchte ich mir damit die Finger beschmutzen!«
Die Majorin biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien vor Empörung und wahnsinnigem Mutterschmerz. »Dann soll ich wohl denken,« – murmelte sie und trat ihm näher – »du habest das Kästchen nur an dich genommen, um – seines Silberwertes willen?«
Er prallte zurück, als öffne sich die Erde zu seinen Füßen.
Mit gehobenem Arm zeigte sie auf die klaffende Fuge in der Holzwand – fast wider Willen folgten seine Äugen der Richtung, und ein nicht zu beschreibender Schrecken durchfuhr ihn.
»Dort ist Veit gestürzt – er ist dir auf deinem Schleichweg nachgegangen bis in das Zimmer des fremden Hauses,« sagte sie mit gedämpfter, aber harter, unerbittlicher Stimme. »Dort hast du einst gestanden und dem alten Freiherrn sein Geheimnis schurkisch abgelauscht; dort den Weg der Schmach bin ich vorhin herübergegangen, und mit mir Adams Tochter. Das Mädchen jubelte, und nicht um alle Reichtümer der Welt wird sie den Mund verschließen – sie schweigt nicht! Morgen wird man an allen Straßenecken der Stadt Feuerjo schreien über den Skandal auf dem Klostergute, über den Spion, den ehrlosen Schleicher, der die Nachbarhäuser unsicher macht –«
»Schweige – oder ich erwürge dich mit diesen meinen Händen!« raunte er und schüttelte seine geballten Hände dicht vor ihrem Gesicht. »Glaubst du, ich gehe solch einem Spatzenschrecken, wie ihn der Weiberklatsch da drüben zurechtgemacht hat, aus dem Wege? Meinst wohl gar, ich solle mein Bündel schnüren und mit meinem Jungen eines solchen hirnlosen Geschwätzes wegen Haus und Hof verlassen, damit du dich mit deiner Brut hineinsetzen kannst? ... Das Schlupfloch kenne ich,« – er deutete nach der Fuge – »aber wer will mir beweisen, daß ich je drin gewesen bin?«
Er stieß ein wildes, halbunterdrücktes Hohngelächter aus und sprang mit einem Satz die Galerietreppe hinauf. Es war das Werk einer Sekunde, daß er die neue Wandschranktür zurückschlug, mit einem Arm in die Tiefe griff und geräuschlos den festen Schluß der Holzwand bewerkstelligte.
Die Majorin dachte schaudernd, daß die Habgier, die Lust am Besitz, vor allem aber die Affenliebe für seinen spätgeborenen Nachkommen den Mann zu einer Art von listigem, brutalem Raubtier umgewandelt habe. So stand er dort mit den geschmeidigen Bewegungen seiner immer noch elastischen Gestalt, ungebeugt, sichtlich entschlossen, der Wucht der auf ihn einstürmenden Ereignisse mit all seiner wilden Energie, seiner juristischen Meisterschaft die Stirn zu bieten.
Sorgfältig schloß er die Schranktür zu und war im Begriff, den Schlüssel herauszuziehen; aber er blieb plötzlich wie erstarrt in seiner Stellung stehen und wandte nur den Kopf mit dem Ausdruck eines jähen Entsetzens nach dem Sofa, auf welchem Veits Körper eben wieder von den Krämpfen gepackt und grauenhaft, fast schraubenförmig verdreht und emporgehoben wurde; dabei entrang sich ein nie gehörtes, anhaltendes, schrilles Pfeifen der gepreßten kleinen Kehle.
Unwillkürlich fuhr der Rat mit beiden Händen nach dem Kopfe. »Um Gottes willen, was ist das, Doktor?« schrie! er dem Arzt entgegen, der eben wieder in das Zimmer trat.
Der Doktor zog die Schultern empor, und zu dem Kranken tretend, versetzte er gedrückt: »Ich sagte Ihnen ja schon von der beängstigend raschen Aufeinanderfolge der Anfälle.«
Wie ein Wahnwitziger stürzte der Rat die wenigen Stufen herab. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Gefahr vorhanden sei?« stotterte er ohne Atem, ohne Stimme.
Beim Anblick dieser völligen Fassungslosigkeit schlug der Arzt die Augen zu Boden und beobachtete ein ernstes Schweigen.
»Mann, foltern Sie mich