schäme mich, dass ich mich schämte.
Riefen die Lehrer einzelne Schüler auf und fragten nach den Eltern, Beruf des Vaters und so weiter, bekam ich rote Ohren. Immer hoffte ich, man würde mich übersehen. Blätterten andere im Klassenbuch, wo bekanntlich alles Schwarz auf Weiß zu lesen war, duckte ich ab. Links und rechts antworteten Mitschüler: »Mein Vater ist Apotheker«, »Meiner ist Chemiker«, »Ingenieur«, »Studienrat«, »Bibliothekar« … Da konnte ich nicht mithalten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mein »Weber« oder »Tuchmacher« murmelte, grinsten die anderen. Später musste mein Vater, der bis dahin wegen einer Herzgeschichte nicht einberufen wurde, in einen Rüstungsbetrieb. Dort stank es jämmerlich nach allen möglichen Giften. Aus allem machte man Kunstfasern und wer weiß noch was. Jetzt nannte sich Vater Chemiewerker. Mich verführte das zum Schwindeln. Kam ein neuer Lehrer, viele bekannte verschwanden in letzte Wehrmachtsaufgebote, und fragte nach dem Vater, nuschelte ich ein Mischmaschwort wie »Chemwiker« …
Warum, dachte ich hundertmal, warum bin ich gerade so, hierher geboren? Mein Vater Weber in einer Tuchfabrik an der Spree, meine Mutter Reinemachefrau im Lehrerbildungsinstitut um die Ecke. Und wir wohnten zu viert in Stube und Küche. Mutter, Vater, Schwester und ich. Bis zu meinem vierzehnten Geburtstag. Nach der Schule brachte ich Vater das Essen in die Fabrik. Ich trug seine abgelegten Schuhe und gestopften Pullover. Einen Wintermantel kannte ich nicht. Zur Konfirmation bekam ich mein erstes eigenes Jackett.
Warum schämte ich mich?
Ich wusste, andere wohnen besser. Meine Klassenkameraden besitzen richtiges Sportzeug, Fußballstiefel, Badezeug, im Winter Skier, manche ein Fahrrad. Für mich: Fehlanzeige. Weihnachten, wenn es anderswo trotz der miserablen Zeit noch Geschenke gab, Neues, pinselte Vater auf meine Spielsoldaten neue Dienstgrade. Aus einem Gefreiten machte er per Pinselwinkel einen Obergefreiten, aus einem Leutnant mit Klecks einen Oberleutnant. Das war’s. Halt, und dazu mein Lieblingsessen: Kartoffelsuppe mit Bockwurst. In der Schule rangierte ich mit den Leistungen vor vielen, aber die lagen dafür im Leben vorn. Das wurmte. Immer wieder.
Vater konnte für seine Herkunft so wenig wie ich für meine. Die Oertels stammten aus Niederschlesien und waren meist Arbeiter. Vater wuchs zudem in einer ähnlich erbärmlichen Zeit auf. Im Ersten Weltkrieg waren fast alle Lehrer an die Front beordert. Immer wieder fiel Unterricht aus. Entsprechend war das Lernniveau. So »ausgebildet«, geriet er auf den Arbeitsmarkt der Nachkriegsjahre. Eine Katastrophe. Null Berufschancen. So, wie heute wieder für viele junge Leute. Dann glückte eine kurze Bäckerlehre. Es folgte Arbeitslosigkeit. Viele Jahre. Weimarer Republik. Und dann kamen wir. Zuerst ich, dann meine Schwester.
Mein Cottbus
Sprem, Cottbuser Kürzel für Spremberger Straße. Die Straße der Stadt. Überheblich ließe sich auch feststellen – unser Ku’damm. Oben, am südlichen Ende, überragt der Spremberger Turm altbürgerliche Wohn- und Geschäftshäuser, Banken und vorbeiquietschende Straßenbahnen. Dieser dicke Turm mit seinem steinernen Bauch ist fast so alt wie meine Heimatstadt, die immerhin schon über 770 stolze Jahre auf dem Buckel trägt. Hussiten bissen sich am Turm die Zähne aus und Wallensteins Plünderer. Er nahm Pestkranke auf und später hugenottische Emigranten. Dann rissen ihm der Siebenjährige Krieg und Napoleons Truppen Wunden. Baumeister Schinkel heilte sie mit neuen Zinnenkronen, die noch immer halten.
Mich brachten der Zufall und natürlich meine Mutter in Cottbus auf die Welt. Ich liebe die Stadt. Früher hieß sie Chotibus, Godebuz, Choschobuz und Kottbus, Sorbisch immer Chosebuz. An ihrem Wahrzeichen, dem Turm, nahm vieles seinen Lauf. Beim Dickbäuchigen hatte ich mein erstes Rendezvous …
Mein erster Lehrer
Lebte er noch, ich könnte ihn jeden Tag umarmen. Meinen ersten Grundschulklassenlehrer, Herrn Hildebrand. Nie hatten wir herausbekommen, wie er mit Vornamen hieß. Doch das tut längst nichts mehr zur Sache. Was mir aber Herr Hildebrand schenkte, wie er mir vorentscheidende Lebensweichen stellte, das bleibt unvergessen. Als ich in der vierten Klasse war, bekam ich eine sogenannte Freistelle, so dass ich auf die Mittelschule gehen konnte. Meine Mutter freute sich sehr, aber mein Vater war unsicher. Ich sehe es noch vor mir: Vater ging eines Abends mit mir in den Cottbusser Ortsteil Ströbitz, wo Lehrer Hildebrand wohnte. Dort klopften wir an seine Tür. Was ist denn? Ich bin der und der, sagte mein Vater, und mache das und das, und ich will nur fragen, kommen da größere Kosten auf uns zu? Nein, wir haben doch gesagt, der Junge kriegt eine Freistelle. Aber trotzdem, die Bücher und Hefte und alles, kostet das nicht doch? Nein, nein, dafür wird schon gesorgt werden. Damit waren die Zweifel aus dem Weg geräumt, und so trat es auch ein. Ich habe später, als ich sechzehn war, für die Oberschule wieder eine Freistelle bekommen.
Musterschüler
Ich gehörte zu den ganz guten Aufsatzschreibern. Noch besser war ich aber als Gedichteaufsager. Das brachte mir auch den Respekt der Klassenkameraden, weil ich ihnen oft aus der Patsche half. Jeder weiß von solchen Situationen: Der Deutschlehrer stellt die Hausaufgabe, bis zur nächsten Woche beispielsweise Schillers »Glocke« zu lernen. Dann ist es so weit.
»Wer meldet sich freiwillig? Na …?«
Schweigen im Klassen-Wald. Das war meine Chance.
»Ich!«
Ein zufriedener Lehrer sah das Eis gebrochen, und für die Mitschüler waren die lähmenden Peinlichkeitssekunden vorbei. Ich hatte sie erlöst. Was andere irritierte, manche total verunsicherte, machte mir Spaß. Vorn zu stehen, Auge in Auge mit teils verlegenem, teils feixendem Publikum. Ich legte los.
Rilke
Jede Schule delegierte damals die Besten zu Rezitatoren-Wettbewerben. Im Cottbuser Stadttheater ging es um die Stadt-Besten, die wurden dann zur Landes-»Meisterschaft« geschickt. Eine erlebte ich in Frankfurt. Es musste eine »Pflicht« und eine »Kür« geboten werden. Pflicht hieß, eine vorgegebene Ballade zu rezitieren. Ich weiß noch genau, beim Endausscheid war das Uhlands »Des Sängers Fluch«. »Es stand in alten Zeiten ein Schloss so hoch und hehr …« Meine Kür bestand aus Versen von Rainer Maria Rilke.
Ältere Cottbuser Freunde hatten mich zum Rilke-Fan gemacht. Der gerade zuständige Deutschlehrer unterstützte mich. Mir gefiel dieser spezielle, schöne Sprachrhythmus, die dadurch möglichen Sprechmelodien und die Bilder, die Rilke schuf. Viele Metaphern verstand ich noch nicht, klar, aber alles beeindruckte mich, und die mit alten Schreibmaschinen abgetippten Texte hob ich lange, lange auf.
Fürs Finale wählte ich drei oder vier Abschnitte aus einem Rilke, der zu dieser Zeit manchen von uns begeisterte. »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Gleich der Anfang faszinierte: »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden, und die Sehnsucht so groß …« Meine zweite Kür-Wahl wurde Rilkes »Herbsttag«. Warum? Wieso? Keine Erklärung. Alles Lebenssymbolische dieser Zeilen ging mir erst viel später auf. Gerade die Erinnerungen, die jetzige Lebensherbstnähe und das sprachlich Ewig-Meisterliche …
Ende der Kindheit
1943, als wir Fünfzehnjährigen noch martialisch Pimpfengesänge schmetterten, verräterische Lieder, wonach »die Fahne mehr ist als der Tod«, und allen Nichtdeutschen gedroht wurde, »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«, 1943 also, brüllten deutsche Männer, Erwachsene, im Berliner Sportpalast auf Goebbels’ Wahnsinnsfrage »Wollt ihr den totalen Krieg?« ihr selbstmörderisches »Jaaa«! In Stalingrad endete die furchtbare Umklammerungsschlacht mit dem deutschen Fiasko … Erstmals beriefen die Nazis Schüler zum Luftwaffenhelferdienst.
Obwohl sich der von Deutschland angezettelte Eroberungs- und Vernichtungskrieg längst zum mit Opfern übersäten Rückzugsmarsch aller deutschen Truppen gewendet hatte, hörten wir in der Schule tagtäglich weiter Ruhmesgeschichten und Aufmunterungsparolen … Neben der Schultafel hing seit Kriegsbeginn eine große Europakarte. Dort mussten wir jeden Tag nach den Sondermeldungen des Reichsrundfunks bunte Stecknadeln pinnen. So blickten wir jede Stunde auf das großartige Stecknadelgemälde, das bewies, wo unsere Soldaten überall stehen, wie weit es Kriegs-Deutschland schon gebracht hatte. Von der Normandie bis vor Moskau, von Afrika bis an den Nordpolrand, Deutschland, Deutschland über alles …
Wir