Heinz Florian Oertel

Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer


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Lehrer

      Neue Aussichten

      Wieder war es einer dieser Zufälle, dass ich einen alten Schulfreund traf, und der erzählte mir, dass Lehrer gesucht würden. Du, da gibt es Geld zu verdienen, sagte er, man kriegt am Anfang schon zwei-, dreihundert und dann schnell vierhundert Mark. Da ich inzwischen in einem Alter war, in dem man mehr eigene Ansprüche stellt, dachte ich, das könnte gut passen. Ich habe mich gemeldet und kam an das Lehrerseminar nach Cottbus. Die dort saßen, hatten schon drei, vier Monate Unterricht gehabt, aber ich wurde aufgenommen und war in diesem Kreis einer der Eloquentesten. Auch der Dozent fand an meinem Sprechen und Können Gefallen, er unterstützte mich und sagte: Ja, ja, Sie bestehen in jedem Fall bei uns. Und er half mir auch, als ich eine Russischprüfung ablegen musste. Ich hatte nichts gelernt, war ganz faul, habe vom Nachbarn nicht abgeschrieben, sondern abgemalt, siebenundvierzig Fehler abgemalt, aber ich bestand. Auch in Russisch … Lehrer wurden gebraucht. Und da nahmen sie dann auch solche wie mich.

      Neuer Irrtum

      Eines wurde mir damals ganz schnell deutlich: Der flotte Spruch, Lehrer haben vormittags recht und nachmittags frei, klingt zwar gut, ist aber falsch. Schön wär’s gewesen. Fortbildungen, oft an den Wochenenden, und vor allem die schriftlichen Vorbereitungen, vom jeweiligen Mentor überprüft, kosteten viel Zeit …

      Von Pestalozzi wusste ich nur, nicht weit weg von unserer Sielower Straße im Cottbuser Norden gibt es eine Pestalozzistraße. Basedow sagte mir leider überhaupt nichts. Und GutsMuths, tja, der war mir wohl so fern wie der Thüringer Wald. Blieb Makarenko. Der galt als der Sowjetstern unter den Neu-Lehrmeistern aller Pädagogik, und obwohl wir auch von dem nur Titel und Dogma-Thesen eingetrichtert bekamen, sollten wir nach seinem Muster lehren, jungen Nachkriegsmenschen den »Weg ins Leben« weisen. Wir, die Neulehrer. Einer davon war ich, einundzwanzig Jahre alt.

      Viel zu tun

      Ich wurde Klassenlehrer, erst einer sechsten, dann einer siebten Klasse. Es war für die Schüler geradezu eine Erlösung, dass ein Jüngerer kam. Die Ältesten, die Abiturienten, waren fast so alt wie ich. Einige waren gerade erst aus der Kriegsgefangenschaft gekommen. Ich sagte zu ihnen: Wissen Sie, ich schlage vor, wir duzen uns, ich bin nur ganz gering älter, als Sie es sind, und ich will Ihnen vermitteln, was ich kann und weiß. Wer damit einverstanden ist – in Ordnung, und wer nicht, muss es hinnehmen oder macht sonst was. Es waren lockere Verhältnisse, und das hat mir gefallen und mir auch geholfen. Die althergebrachte Hierarchie existierte nicht mehr, neue Strukturen hatten sich noch nicht gefestigt, es war ja doch noch immer unmittelbare Nachkriegszeit. Die Kinder, die Schüler freuten sich immer schon, wenn ich kam, weil sie wussten, jetzt passiert etwas, jetzt wird nicht trockener Lehrstoff referiert. Im Sportunterricht konnte ich mit den Jungs voll mithalten. Ob beim Schulhof-Fußball oder Völkerball, wenn ich Grundbegriffe des Boxens vermittelte. Das schuf ein prima Verhältnis. Höhepunkte wurden Vergleiche mit anderen Schulen. Im Cottbuser Süden war mein Schulfreund Oskar Klose Sportlehrer, und Partien mit den Oskar-Schüler gegen Florians lagen nahe. Heiß und hoch ging’s her. Dauerhafte Revanchen boten sich an. Oft wichen wir dadurch Konferenzen oder Sitzungen und Versammlungen aus. Weil Oskar Klose bei Cottbus-Ost, dem Brandenburgischen Fußball-Landesmeister, Mittelstürmer spielte, genoss er spezielle Schüler-Sympathien …

      Das muss mal gesagt sein

      Jedem Lehrer gilt meine Hochachtung. Seit ich weiß, wie das ist, nach dem »Guten Morgen« Kindern, Schülern mehr zu bieten als trockenen Stoff, sie tagtäglich fürs Leben zu begeistern, schätze ich alle Pestalozzis und Basedows.

      Gelernt fürs leben

      Die Lehrer-Zeit blieb ein Zwischenspiel, aber es war eine gute Zeit. Nützlich in einigem und bis heute lehrreich. Schüler von damals, inzwischen auch schon alle jenseits der Fünfzig, schreiben noch heute Briefe aus Mainz und Leipzig, Rostock und München. Als aber die Sportaufgaben dazukamen, die Arbeit nach der Schule im Rundfunkstudio Cottbus, noch etwas später die Reportagefahrten durchs Lausitzland und die am Wochenende nach Berlin, ging es für mich fast drunter und drüber.

      Schulalltag

      Das war 1949. An einem Morgen unter tausend.

      Meine Mutter legt das kleine Stullenpäckchen auf den Wohnzimmertisch. »Los, Junge! Na mach schon! Wieder allerhöchste Zeit …«

      Donnerwetter noch mal, schon wieder kurz vor dreiviertel acht! Was soll man nur machen? Es ist jeden Morgen die gleiche Krankheit: chronischer Zeitmangel. Das muss endlich anders werden! (Mindestens mein hundertster Schwur.) Vernünftiger wäre es jedenfalls, eine Viertelstunde früher aufzustehen, alles in Ruhe zu tun, sich in aller Gemütlichkeit zu rasieren, dabei Radio zu hören …

      Mein »Philosophieren« wird unterbrochen. Abermals drängelt Mutter: »Beeil dich doch! Die Schule wartet …«

      Das stimmt allerdings.

      Endlich geht die Post ab! Da ist die Schultasche voll korrigierter Hefte, und runter geht es die Treppen.

      Jeden Morgen marschiere ich zur Schule. Es macht Freude, den kleinen und großen Burschen solch ein Lehrer zu sein, wie man ihn sich selbst vor Jahren immer gewünscht hat. Mein Stundenplan bewegt sich zwischen viel Sport und ein wenig Mathematik, dazu noch Physik und Biologie. Eine gute Mischung! Auch das Leben ist ja nicht einseitig, und die Welt besteht nicht nur aus Sport.

      Und die Jungen? Ein paar Mädel, halbe Jungen, sind auch dabei. Alle machen mit. Was will ich eigentlich mehr? Selten gibt es Ärger, denn die Klasse weiß, was ich will, und ich weiß, was sie will. Wir stehen zueinander wie eine Mannschaft zu ihrem Trainer. Und dass Spaß und Freude zum »Training« gehören, weiß ich am besten aus der eigenen Schulzeit. Also heißt die Parole: Lieber ein bisschen zu viel Spaß als zu wenig. Gelernt wird trotzdem, oder gerade deshalb …

      Ich bin auf der »Zielgeraden«. Noch 400 Meter bis zur Schultür. Endspurt!

      Es ist jeden Morgen dasselbe: viel Hast und viel Freude. Dennoch, das Richtige ist es nicht für mich. Ich wollte immer Reporter werden. Reporter beim Rundfunk, vor allem für Sport. Lehrer ist ganz gewiss in unserem Staat eine schöne, verantwortungsvolle Aufgabe, der Lehrermangel ist auch noch sehr groß. Und dennoch – ich muss Reporter werden! Sicher – so glaube ich jedenfalls – könnte ich dabei noch Besseres leisten.

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      Die Anfänge als Radio-Reporter

      … Nachwuchsreporter

      Erste Höhenflüge

      Mit knapp neunzehn Jahren kehrte ich aus dem Krieg nach Hause zurück. Meinem Wunsch, Rundfunkreporter zu werden, stand viel, noch viel zu viel entgegen. Dieser Wunsch war schon in der Schulzeit gewachsen. Er wurde geweckt durch erste Radioeindrücke, durch das persönliche Sporttreiben und durch ziemlich gute Deutschleistungen. Resultate in Rezitatorenwettbewerben, Mitwirken in Schulaufführungen, das Lesen der Sportberichte trugen dazu bei. Vor allem aber auch das »Anfeuern« meiner Klassenkameraden und Freunde, die immer wieder forderten: »Los, erzähl, mach eine Reportage!«

      Dann legte ich los! Ich ließ Jesse Owens gegen die anderen Berliner 100-Meter-Finalisten der Olympischen Spiele von 1936 flitzen, den kleinen Japaner Murakoso über 10000 Meter einen verzweifelten Kampf gegen die Übermacht der drei Finnen Salminen, Askola und Iso-Hollo führen, schilderte mit geschlossenen Augen, wie Johnson, Albritton, die langen, geschmeidigen Afroamerikaner, bei 2,03 Meter über die Latte rollten, ließ Lehner und Szepan Tor auf Tor schießen, erfand aber auch völlig fiktive Vergleiche und Rennen, in denen sich die Ereignisse derart überschlugen, dass meine Zuhörer in der Schulstundenpause oder nachmittags am Stadionrand Mund und Nase aufsperrten. Erst der energische Lehrer- oder Trainerauftritt brach solche »Übertragungen« ab …

      Zufälle

      Beim »Dickbäuchigen« – Sie erinnern sich?, der Cottbuser Turm! – hatte ich auch eine Begegnung, die so vieles veränderte und mich auf neue Pfade führte … Im Herbst 1949 lief mir ein alter Schulfreund über den Weg. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Nun brachte er diese Neuigkeit: »Du,