Arthur Schopenhauer

Parerga und Paralipomena


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gehn und zwar nicht nur dem Raum, sondern sogar der Zeit nach. Den Beweis hievon geben uns die hellsehenden Somnambulen, welche, in der Periode der höchsten Steigerung ihres Zustandes, jeden beliebigen Ort, auf den man sie hinlenkt, sofort in ihre anschauende Traumwahrnehmung bringen und die Vorgänge daselbst richtig angeben können, bisweilen aber sogar vermögen, das noch gar nicht Vorhandene, sondern noch im Schooße der Zukunft Liegende und erst im Laufe der Zeit, mittelst unzähliger, zufällig zusammentreffender Zwischenursachen, zur Verwirklichung Gelangende vorher zu verkündigen. Denn alles Hellsehn, sowohl im künstlich herbeigeführten, als im natürlich eingetretenen somnambulen Schlafwachen, alles in demselben möglich gewordene Wahrnehmen des Verdeckten, des Abwesenden, des Entfernten, ja des Zukünftigen, ist durchaus nichts Anderes, als ein Wahrträumen desselben, dessen Gegenstände sich daher dem Intellekt anschaulich und leibhaftig darstellen, wie unsere Träume, weshalb die Somnambulen von einem Sehn derselben reden. Wir haben inzwischen an diesen Phänomenen, wie auch am spontanen Nachtwandeln, einen sichern Beweis, daß auch jene geheimnißvolle, durch keinen Eindruck von außen bedingte, uns durch den Traum vertraute Anschauung zur realen Außenwelt im Verhältniß der Wahrnehmung stehn kann; obwohl der dies vermittelnde Zusammenhang mit derselben uns ein Räthsel bleibt. Was den gewöhnlichen, nächtlichen Traum vom Hellsehn, oder vom Schlafwachen überhaupt, unterscheidet, ist erstlich die Abwesenheit jenes Verhältnisses zur Außenwelt, also zur Realität; und zweitens, daß sehr oft eine Erinnerung von ihm ins Wachen übergeht, während aus dem somnambulen Schlaf eine solche nicht Statt findet. Diese beiden Eigenschaften könnten aber wohl zusammenhängen und auf einander zurückzuführen seyn. Nämlich auch der gewöhnliche Traum hinterläßt nur dann eine Erinnerung, wann wir unmittelbar aus ihm erwacht sind: dieselbe beruht also wahrscheinlich bloß darauf, daß das Erwachen aus dem natürlichen Schlafe sehr leicht erfolgt, weil er lange nicht so tief ist, wie der somnambule, aus welchem eben dieserhalb ein unmittelbares, also schnelles Erwachen nicht eintreten kann, sondern erst mittelst eines langsamen und vermittelten Ueberganges die Rückkehr zum wachen Bewußtseyn gestattet ist. Der somnambule Schlaf ist nämlich nur ein ungleich tieferer, stärker eingreifender, vollkommenerer; in welchem eben deshalb das Traumorgan zur Entwickelung seiner ganzen Fähigkeit gelangt, wodurch ihm die richtige Beziehung zur Aussenwelt, also das anhaltende und zusammenhängende Wahrträumen möglich wird. Wahrscheinlich hat ein solches auch bisweilen im gewöhnlichen Schlafe Statt, aber gerade nur dann, wann er so tief ist, daß wir nicht unmittelbar aus ihm erwachen. Die Träume, aus denen wir erwachen, sind hingegen die des leichteren Schlafes: sie sind, auch im letzten Grunde, aus bloß somatischen, dem eigenen Organismus angehörigen Ursachen entsprungen, daher ohne Beziehung zur Aussenwelt. Daß es jedoch hievon Ausnahmen giebt, haben wir schon erkannt an den Träumen, welche die unmittelbare Umgebung des Schlafenden darstellen.

      Jedoch auch von Träumen, die das in der Ferne Geschehende, ja das Zukünftige verkündigen, giebt es ausnahmsweise eine Erinnerung, und zwar hängt diese hauptsächlich davon ab, daß wir unmittelbar aus einem solchen Traum erwachen. Dieserhalb hat, zu allen Zeiten und bei allen Völkern, die Annahme gegolten, daß es Träume von realer, objektiver Bedeutung gebe, und werden in der ganzen alten Geschichte die Träume sehr ernstlich genommen, so daß sie eine bedeutende Rolle darin spielen; dennoch sind die fatidiken Träume immer nur als seltene Ausnahmen, unter der zahllosen Menge leerer, bloß täuschender Träume, betrachtet worden. Demgemäß erzählt schon Homer (0d. XIX, 560) von zwei Eingangspforten der Träume, einer elfenbeinernen, durch welche die bedeutungslosen, und einer hörnernen, durch welche die fatidiken eintreten. Ein Anatom könnte vielleicht sich versucht fühlen, dies auf die weiße und graue Gehirnsubstanz zu deuten.

      Am öftersten bewähren sich als prophetisch solche Träume, welche sich auf den Gesundheitszustand des Träumenden beziehn, und zwar werden diese meistens Krankheiten, auch tödtliche Anfälle vorherverkünden, (Beispiele derselben hat gesammelt Fabius, de somniis, Amstelod. 1836, p. 195 sqq.); welches Dem analog ist, daß auch die hellsehenden Somnambulen am häufigsten und sichersten den Verlauf ihrer eigenen Krankheit, nebst deren Krisen u. s. w. vorhersagen. Nächstdem werden auch äußere Unfälle, wie Feuersbrünste, Pulverexplosionen, Schiffbrüche, besonders aber Todesfälle, bisweilen durch Träume angekündigt. Endlich aber werden auch andere, mitunter ziemlich geringfügige Begebenheiten von einigen Menschen haarklein vorhergeträumt, wovon ich selbst, durch eine unzweideutige Erfahrung, mich überzeugt habe. Ich will diese hersetzen, da sie zugleich die strenge Nothwendigkeit alles Geschehenden, selbst des allerzufälligsten in das hellste Licht stellt. An einem Morgen schrieb ich mit großem Eifer einen langen und für mich sehr wichtigen, englischen Geschäftsbrief: als ich die dritte Seite fertig hatte, ergriff ich, statt des Streusands, das Tintenfaß und goß es über den Brief aus: vom Pult floß die Tinte auf den Fußboden.

      Die auf mein Schellen herbeigekommene Magd holte einen Eimer Wasser und scheuerte damit den Fußboden, damit die Flecke nicht eindrängen. Während dieser Arbeit sagte sie zu mir: Mir hat diese Nacht geträumt, daß ich hier Tintenflecke aus dem Fußboden ausriebe. Worauf ich: Das ist nicht wahr. Sie wiederum: Es ist wahr, und habe ich es, nach dem Erwachen, der andern, mit mir zusammen schlafenden Magd erzählt. – Jetzt kommt zufällig diese andere Magd, etwan 17 Jahr alt, herein, die scheuernde abzurufen. Ich trete der Eintretenden entgegen und frage: was hat der da diese Nacht geträumt? – Antwort: das weiß ich nicht. – Ich wiederum: Doch! sie hat es Dir ja beim Erwachen erzählt. – Die junge Magd: Ach ja, ihr hatte geträumt, daß sie hier Tintenflecke aus dem Fußboden reiben würde. – Diese Geschichte, welche, da ich mich für die genaue Wahrheit derselben verbürge, die theorematischen Träume außer Zweifel setzt, ist nicht minder dadurch merkwürdig, daß das Vorhergeträumte die Wirkung einer Handlung war, die man unwillkürlich nennen könnte, sofern ich sie ganz und gar gegen meine Absicht vollzog, und sie von einem ganz kleinen Fehlgriff meiner Hand abhing: dennoch war diese Handlung so strenge nothwendig und unausbleiblich vorherbestimmt, daß ihre Wirkung, mehrere Stunden vorher, als Traum im Bewußtseyn eines Andern dastand. Hier sieht man aufs Deutlichste die Wahrheit meines Satzes: Alles was geschieht, geschieht nothwendig. (Die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 62; 2. Aufl. S. 60.) – Zur Zurückführung der prophetischen Träume auf ihre nächste Ursache bietet sich uns der Umstand dar, daß sowohl vom natürlichen, als auch vom magnetischen Somnambulismus und seinen Vorgängen bekanntlich keine Erinnerung im wachen Bewußtseyn Statt findet, wohl aber bisweilen eine solche in die Träume des natürlichen, gewöhnlichen Schlafes, deren man sich nachher wachend erinnert, übergeht; so daß alsdann der Traum das Verbindungsglied, die Brücke, wird zwischen dem somnambulen und dem wachen Bewußtseyn.

      Diesem also gemäß müssen wir die prophetischen Träume zuvörderst Dem zuschreiben, daß im tiefen Schlafe das Träumen sich zu einem somnambulen Hellsehn steigert: da nun aber aus Träumen dieser Art, in der Regel, kein unmittelbares Erwachen und eben deshalb keine Erinnerung Statt findet; so sind die, eine Ausnahme hievon machenden und also das Kommende unmittelbar und sensu proprio vorbildenden Träume, welche die theorematischen genannt worden, die allerseltensten.

      Hingegen wird öfter von einem Traume solcher Art, wenn sein Inhalt dem Träumenden sehr angelegen ist, dieser sich eine Erinnerung dadurch zu erhalten im Stande seyn, daß er sie in den Traum des leichtern Schlafs, aus dem sich unmittelbar erwachen läßt, hinübernimmt: jedoch kann dieses alsdann nicht unmittelbar, sondern nur mittelst Uebersetzung des Inhalts in eine Allegorie geschehn, in deren Gewand gehüllt nunmehr der ursprüngliche prophetische Traum ins wachende Bewußtseyn gelangt, wo er folglich dann noch der Auslegung, Deutung, bedarf. Dies also ist die andere und häufigere Art der fatidiken Träume, die allegorische.

      Beide Arten hat schon Artemidoros in seinem Oneirokritikon, dem ältesten der Traumbücher, unterschieden und der ersteren Art den Namen der theorematischen gegeben.

      In dem Bewußtseyn der stets vorhandenen Möglichkeit des oben dargelegten Herganges hat der keineswegs zufällige, oder angekünstelte, sondern dem Menschen natürliche Hang, über die Bedeutung gehabter Träume zu grübeln, seinen Grund: aus ihm entsteht, wenn er gepflegt und methodisch ausgebildet wird, die Oneiromantik. Allein diese fügt die Voraussetzung hinzu, daß die Vorgänge im Traum eine feststehende, ein für alle Mal geltende Bedeutung hätten, über welche sich daher ein Lexikon machen ließe. Solches