Arthur Schopenhauer

Parerga und Paralipomena


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wir uns erinnern, daß dieser Fall nur eine seltene Ausnahme ist. Unter 20 Kranken, auf die der Magnetismus überhaupt wirkt, wird nur Einer somnambul, d. h. vernimmt und spricht im Schlafe, und unter 5 Somnambulen wird kaum Einer hellsehend (nach Deleuze, hist. crit. du magn. Paris 1813. Vol. 1, p. 138). Wann der Magnetismus ohne einzuschläfern heilsam wirkt, so ist es bloß dadurch, daß er die Heilkraft der Natur weckt und auf den leidenden Theil hinlenkt. Außerdem aber ist seine Wirkung zunächst nur ein überaus tiefer Schlaf, welcher traumlos ist, ja, das Cerebralsystem dermaaßen depotenzirt, daß weder Sinneseindrücke, noch Verletzungen irgend gefühlt werden; daher denn auch derselbe auf das Wohlthätigste benutzt worden ist, zu chirurgischen Operationen, aus welchem Dienste jedoch das Chloroform ihn verdrängt hat. Zum Hellsehn, dessen Vorstufe der Somnambulismus, oder das Schlafreden ist, läßt die Natur es eigentlich nur dann kommen, wann ihre blindwirkende Heilkraft zur Beseitigung der Krankheit nicht ausreicht, sondern es der Hülfsmittel von außen bedarf, welche nunmehr, im hellsehenden Zustande, vom Patienten selbst richtig verordnet werden. Also zu diesem Zweck des Selbstverordnens bringt sie das Hellsehn hervor: denn natura nihil facit frustra. Ihr Verfahren hierin ist dem analog und verwandt, welches sie im Großen, bei der ersten Hervorbringung der Wesen, befolgt hat, als sie den Schritt vom Pflanzen-zum Thierreich that: nämlich für die Pflanzen hatte noch die Bewegung auf bloße Reize ausgereicht; jetzt aber machten speciellere und komplicirtere Bedürfnisse, deren Gegenstände aufzusuchen, auszuwählen, ja, zu überwältigen, oder gar zu überlisten waren, die Bewegung auf Motive und daher die Erkenntniß, in vielfach abgestuften Graden, nöthig, welche demgemäß der eigentliche Charakter der Thierheit ist, das dem Thiere nicht zufällig, sondern wesentlich Eigene, das, was wir im Begriff des Thieres nothwendig denken. Ich verweise hierüber auf mein Hauptwerk Bd. l. S. 170 fg. (3. Aufl. 178 fg.); ferner auf meine Ethik, S. 33 (2. Aufl. S. 32), und auf den Willen in der Natur S. 54 fg. und 70—78 (3. Aufl. S. 48 fg. u. 69—75). Also im einen, wie im andern Falle zündet die Natur sich ein Licht an, um so die Hülfe, deren der Organismus von außen bedarf, aufsuchen und herbeischaffen zu können. Die Lenkung der nun also ein Mal entwickelten Sehergabe der Somnambule auf andere Dinge, als ihren eigenen Gesundheitszustand, ist bloß ein accidenteller Nutzen, ja, eigentlich schon ein Mißbrauch derselben. Ein solcher ist es auch, wenn man eigenmächtig, durch lange fortgesetztes Magnetisiren Somnambulismus und Hellsehn, gegen die Absicht der Natur, hervorruft.

      Wo diese hingegen wirklich erfordert sind, bringt die Natur sie nach kurzem Magnetisiren, ja, bisweilen als spontanen Somnambulismus, ganz von selbst hervor. Sie treten alsdann auf, wie schon gesagt, als ein Wahrträumen, zunächst nur der unmittelbaren Umgebung, dann in weiterem Kreise und immer weiter, bis dasselbe in den höchsten Graden des Hellsehns, alle Vorgänge auf Erden, wohin nur die Aufmerksamkeit gelenkt wird, erreichen kann, mitunter sogar in die Zukunft dringt. Mit diesen verschiedenen Stufen hält die Fähigkeit zur pathologischen Diagnose und zum therapeutischen Verordnen, zunächst für sich und abusive für Andere, gleichen Schritt.

      Auch beim Somnambulismus im ursprünglichen und eigentlichsten Sinne, also dem krankhaften Nachtwandeln, tritt ein solches Wahrträumen ein, hier jedoch nur für den unmittelbaren Verbrauch, daher bloß auf die nächste Umgebung sich erstreckend; weil eben schon hiemit der Zweck der Natur, in diesem Fall, erreicht wird. In solchem Zustande nämlich hat nicht, wie im magnetischen Schlaf, im spontanen Somnambulismus und in der Katalepsie, die Lebenskraft, als vis medicatrix, das animale Leben eingestellt, um auf das organische ihre ganze Macht verwenden und die darin eingerissenen Unordnungen aufheben zu können; sondern sie tritt hier, vermöge einer krankhaften Verstimmung, der am meisten das Alter der Pubertät unterworfen ist, als ein abnormes Uebermaaß von Irritabilität auf, dessen nun die Natur sich zu entladen strebt, welches bekanntlich durch Wandeln, Arbeiten, Klettern, bis zu den halsbrechendesten Lagen und den gefährlichsten Sprüngen, alles im Schlafe, geschieht: da ruft denn die Natur zugleich, als den Wächter dieser so gefährlichen Schritte, jenes räthselhafte Wahrträumen hervor, welches sich hier aber nur auf die nächste Umgebung erstreckt, da dieses hinreicht, den Unfällen vorzubeugen, welche die losgelassene Irritabilität, wenn sie blind wirkte, herbeiführen müßte. Dasselbe hat also hier nur den negativen Zweck, Schaden zu verhüten, während es beim Hellsehn den positiven hat, Hülfe von außen aufzufinden: daher der große Unterschied im Umfang des Gesichtskreises.

      So geheimnißvoll die Wirkung des Magnetisirens auch ist, so ist doch soviel klar, daß sie zunächst im Einstellen der animalischen Funktionen besteht, indem die Lebenskraft vom Gehirn, welches ein bloßer Pensionär oder Parasit des Organismus ist, abgelenkt, oder vielmehr zurückgedrängt wird zum organischen Leben, als ihrer primitiven Funktion, weil jetzt daselbst ihre ungetheilte Gegenwart und ihre Wirksamkeit als vis medicatrix erfordert ist. Innerhalb des Nervensystems, also des ausschließlichen Sitzes alles irgend sensibeln Lebens, wird aber das organische Leben repräsentirt und vertreten durch den Lenker und Beherrscher seiner Funktionen, den sympathischen Nerven und dessen Ganglien; daher man den Vorgang auch als ein Zurückdrängen der Lebenskraft vom Gehirn zu diesem hin ansehn, überhaupt aber auch Beide als einander entgegengesetzte Pole auffassen kann, nämlich das Gehirn, nebst den ihm anhängenden Organen der Bewegung, als den positiven und bewußten Pol; den sympathischen Nerven, mit seinen Gangliengeflechten, als den negativen und unbewußten Pol. In diesem Sinne nun ließe sich folgende Hypothese über den Hergang beim Magnetisiren aufstellen. Es ist ein Einwirken des Gehirnpols (also des äußeren Nervenpols) des Magnetiseurs auf den gleichnamigen des Patienten, wirkt demnach, dem allgemeinen Polaritätsgesetze gemäß, auf diesen repellirend, wodurch die Nervenkraft auf den andern Pol des Nervensystems, den innern, das Bauchgangliensystem, zurückgedrängt wird. Daher sind Männer, als bei denen der Gehirnpol überwiegt, am tauglichsten zum Magnetisiren; hingegen Weiber, als bei denen das Gangliensystem vorwaltet, am tauglichsten zum Magnetisirtwerden und dessen Folgen. Wäre es möglich, daß das weibliche Gangliensystem eben so auf das männliche, also auch repellirend, einwirken könnte; so müßte, durch den umgekehrten Prozeß, ein abnorm erhöhtes Gehirnleben, ein temporäres Genie entstehn. Dies ist nicht ausführbar, weil das Gangliensystem nicht fähig ist, nach außen zu wirken. Hingegen ließe sich wohl als ein, durch Wirken ungleichnamiger Pole auf einander, attrahirendes Magnetisiren das Baquet betrachten, so daß die mit demselben, durch zur Herzgrube gehende, eiserne Stäbe und wollene Schnüre, verbundenen sympathischen Nerven aller umhersitzenden Patienten, mit vereinter und durch die anorganische Masse des Baquets erhöhter Kraft, wirkend, den einzelnen Gehirnpol eines jeden von ihnen an sich zögen, also das animale Leben depotenzirten, es untergehn lassend in dem magnetischen Schlaf Aller; – dem Lotus zu vergleichen, der Abends sich in die Fluth versenkt. Diesem entspricht auch, daß, als man einst die Leiter des Baquets, statt an die Herzgrube, an den Kopf gelegt hatte, heftige Kongestion und Kopfschmerz die Folge war (Kieser, Tellurism., erste Aufl. Bd. 1, S. 439).

      Daß, im siderischen Baquet, die bloßen, unmagnetisirten Metalle, die selbe Kraft ausüben, scheint damit zusammenzuhängen, daß das Metall das Einfachste, Ursprünglichste, die tiefste Stufe der Objektivation des Willens, folglich dem Gehirn als der höchsten Entwickelung dieser Objektivation, gerade entgegengesetzt, also das von ihm entfernteste ist, zudem die größte Masse im kleinsten Raum darbietet. Es ruft demnach den Willen zu seiner Ursprünglichkeit zurück und ist dem Gangliensystem verwandt, wie umgekehrt das Licht dem Gehirn: daher scheuen die Somnambulen die Berührung der Metalle mit den Organen des bewußten Pols. Das Metall-und Wasserfühlen der hiezu Organisirten findet ebenfalls darin seine Erklärung. – Wenn, beim gewöhnlichen, magnetisirten Baquet, das Wirkende die mit demselben verbundenen Gangliensysteme aller um dasselbe versammelten Patienten sind, welche, mit vereinter Kraft, die Gehirnpole herabziehn; so giebt Dies auch eine Anleitung zur Erklärung der Ansteckung des Somnambulismus überhaupt, wie auch der ihr verwandten Mittheilung der gegenwärtigen Aktivität des zweiten Gesichts, durch Anstoßen der damit Begabten unter einander, und der Mittheilung, folglich der Gemeinschaft, der Visionen überhaupt.

      Wollte man aber von der obigen, die Polaritätsgesetze zum Grunde legenden Hypothese über den Hergang beim aktiven Magnetisiren eine noch kühnere Anwendung sich erlauben; so ließe sich daraus, wenn auch nur schematisch, ableiten, wie, in den höhern Graden des Somnambulismus, der Rapport so weit gehn kann, daß die Somnambule aller Gedanken, Kenntnisse, Sprachen, ja aller Sinnesempfindungen des Magnetiseurs theilhaft wird, also in seinem Gehirn gegenwärtig ist, während