kann ich nicht mehr laufen und keine Bildergeschichte mehr zusammensetzen.« Ein bitterer Zug erschien um Nicoles Mund. »Deshalb habe ich eine Bitte: Behandeln Sie mich nur, wenn Sie sicher sind.«
»Ich will Sie nicht behandeln. Ich will Sie heilen«, versicherte Daniel mit Nachdruck. Sein Herz war schwer, aber er hatte keine Wahl. »Und ich kann Sie nur bitten, mir zu vertrauen.« Während er sprach, zog er eine kleine Plastikdose aus der Tasche. Er öffnete den Deckel und reichte sie Nicole. Dann stand er auf, um ihr ein Glas Wasser zu bringen.
»Was ist das?« Verwirrt starrte sie auf die beiden Tabletten in der Dose.
»Das Medikament, das sie gesund machen wird.«
»Zwei Tabletten? Ist das alles?«
»Zwei Monate lang täglich zwei Tabletten.« Daniel reichte ihr das Wasserglas. »Und ich weiß«, fuhr er fort. »Das scheint lächerlich einfach im Gegensatz dazu, was Sie durchgemacht haben. Aber so leicht, wie Sie denken, wird es nun auch wieder nicht.«
Nicole sah abwechselnd von der Dose zu Daniel und zurück. »Wieso?«
»Die Nebenwirkungen sind nicht unerheblich. Möglich sind Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Benommenheit und Haarausfall«, zählte er auf, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Als er geendet hatte, machte sich Stille im Zimmer breit. Nichts war zu hören als das leise Quietschen von Gummisohlen draußen auf dem Flur.
Mit jeder Minute, die verrann, wurde Dr. Daniel Norden nervöser. War es ihm gelungen, Nicole zu überzeugen und damit ihr Leben zu retten? Unruhig wartete er auf ein Wort von ihr, das nicht kam. Stattdessen glitt plötzlich ein Lächeln wie ein Sonnenstrahl über ihr Gesicht. Sie hob den Becher, kippte die beiden Tabletten in den Mund und spülte mit dem Wasser nach. In diesem Moment hätte Daniel die Welt umarmen können. Er wusste: Nicole hatte sich entschieden: Für das Leben!
*
Bevor Tatjana Bohde in die Klinik gefahren war, hatte sie sich mit einem Anruf in der Praxis versichert, dass Danny auch tatsächlich dort war. Auf keinen Fall wollte sie ihm in die Arme laufen und damit das Glück gefährden, das endlich wieder Einzug gehalten hatte in ihrer Beziehung. Trotzdem musste sie noch etwas erledigen, ehe sie dieses Kapitel guten Gewissens abschließen konnte.
Bedacht darauf, von so wenigen Leuten wie möglich gesehen zu werden, wanderte sie durch die Flure Richtung Stella Baumanns Krankenzimmer. Sie hatte Glück. Allzu weit musste sie nicht gehen, als ihr mit wehenden Fahnen ausgerechnet der Mann entgegenkam, den sie suchte.
»Moritz! Was ist denn mit dir los? Du bist ja total aus dem Häuschen!«
Ihr Eindruck täuschte sie nicht. Moritz Baumann war in der Tat so aufgewühlt, dass er sich noch nicht einmal wunderte, Tatjana zu treffen.
»Jetzt reicht‘s mir!«, schimpfte er drauflos, als hätte er nur auf eine passende Gelegenheit gewartet. »Die kann mich mal kreuzweise und kariert.«
Tatjana überlegte nicht lange. Sie packte ihn am Ärmel und zog ihn in das nächstbeste freie Zimmer, das sie fand. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, verlangte sie eine Erklärung. Moritz ließ sich nicht lange bitten. Mit erhitztem Gemüt erzählte er, was vorgefallen war. Schweigend lauschte Tatjana dem Bericht.
»Du darfst nicht jedes Wort von ihr auf die Goldwaage legen«, redete sie ihm ins Gewissen. »Schon gar nicht in dieser Situation.«
Doch Moritz schien sie gar nicht zu hören.
»Nicht nur, dass ich mir unser gutes Verhältnis all die Jahre nur eingebildet habe, sie will sich auch nicht operieren lassen. Und das nur wegen dieser idiotischen Stelle! Wegen eines Jobs, wie es Hunderttausende gibt auf der Welt.«
Tatjana war irritiert.
»Ich dachte, es handelt sich um eine einmalige Chance.«
»Im Augenblick vielleicht«, winkte Moritz ab. »Aber in zwei, drei Wochen kann die Welt schon wieder ganz anders aussehen. Das Hotelgeschäft ist sehr schnelllebig, das Personalkarussell dreht sich rasant. Mal abgesehen davon, dass ich meine Gesundheit für keinen Job der Welt aufs Spiel setzen würde.« Keuchend hielt er inne und schöpfte Atem.
Die Leidenschaft ließ ihn strahlen, wie einen Kometen. Noch vor ein paar Stunden wäre Tatjana angesichts dieser Ausstrahlung ins Zweifeln geraten. Doch Moritz Baumann hatte seine Wirkung auf sie verloren. Nüchtern betrachtet konnte er Danny noch nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen, und sie fragte sich, welcher Teufel sie in den vergangenen Tagen geritten hatte.
»Hast du ihr gesagt, dass du für sie auf die Stelle verzichten würdest?«, lenkte sie sich selbst von diesem unangenehmen Thema ab.
»Ich hab ihr angeboten, ein gutes Wort für sie einzulegen. Und was ist der Dank? Beschimpfungen und Beleidigungen.« Langsam wurde Moritz ruhiger, und endlich nahm er auch Tatjana wahr, die vor ihm stand und ihn mit tiefseeblauen Augen musterte. Plötzlich schien er eine Idee zu haben. »Warum kommst du nicht mit mir in den Orient?« Er wollte nach ihren Händen greifen, um sie an die Lippen zu ziehen. Doch Tatjana entzog sie ihm.
»Ich?« Sie lachte auf. »Nette Idee. Aber eigentlich bin ich gekommen, um dir etwas ganz anderes zu sagen.«
Moritz legte den Kopf schief und versuchte, in ihrer Miene zu lesen.
»Noch eine Abfuhr ertrage ich heute nicht.« Offenbar ahnte er, was kommen mochte.
Doch Tatjana konnte und wollte sich nicht beirren lassen.
»Das kann ich dir leider nicht ersparen«, erwiderte sie leise. »Dr. Danny Norden ist nicht nur mein Trainingspartner. Er ist auch mein Freund.«
»Oh.« Mehr fiel Moritz im ersten Augenblick nicht ein. Diese Chance nutzte Tatjana.
»Weißt du, du hast mich in einem sehr labilen Moment erwischt, als ich vieles in Frage stellte. Mit seinen Plänen wegen Familie und allem drum und dran hat Danny mir ganz schön Angst gemacht. Aber statt darüber zu reden, haben wir uns gegenseitig gepiesackt und schikaniert.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Dank dir haben wir endlich wieder zueinander gefunden. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mir sicher nicht so viele Gedanken um meine Unzufriedenheit gemacht.« Sie lächelte ihn an. Einer spontanen Eingebung folgend beugte sie sich vor und küsste ihn rechts und links auf die Wange. »Danke!«
Moritz grinste schief.
»Ich sollte wohl besser aufpassen, für wen ich mich interessiere.«
Tatjana schüttelte den streichholzkurzen Haarschopf.
»Nein, nein, das ist nicht deine Schuld«, widersprach sie. »Ich hätte dir einfach gleich sagen sollen, dass ich seit Jahren in festen Händen bin.«
Zu ihrer Verwunderung schien sich Moritz erstaunlich schnell von seinem Schmerz zu erholen.
»Ach, das hätte mich wahrscheinlich nur noch mehr gereizt«, gestand er. »Ich halte mich selbst für unwiderstehlich und denke, dass jede meinem Charme verfallen muss. Blöd nur, dass ich damit keinen Erfolg habe.«
»Kein Wunder!«, entfuhr es Tatjana. So viel Überheblichkeit war ihr richtiggehend zuwider.
Doch Moritz war noch nicht fertig. Unvermittelt wurde er ernst.
»Die einzige Beziehung, die immer gehalten hat, ist die zu meiner Schwester. Das ist auch der Grund, warum ich mich so an sie klammere. Ich weiß gar nicht, wie sie auf die Idee kommt, dass sie nur mein Anhängsel ist.«
Tatjanas Gefühle für Moritz pendelten zwischen Ablehnung und Sympathie. Im Grunde genommen konnte er ihr aber nur leid tun.
»Vielleicht solltest du ihr das sagen, ehe du den Stab über sie brichst. Und glaub mir: Ich spreche aus Erfahrung«, erklärte sie so warm, dass Moritz nicht anders konnte, als sie in den Arm zu nehmen.
»Dann denkst du, dass es mir doch gelingen könnte, Stella von einer Operation zu überzeugen?«
»Natürlich.