Barrow wusste ganz genau, warum Fount Royals Herr und Gebieter vor seiner Tür stand. Er machte auf und trat zurück, zog den schwarz beschopften Kopf ein wie ein Hund, der gleich geschlagen wird. Bidwell und Winston betraten das Haus, das im Vergleich zu dem Ansitz, den sie gerade verlassen hatten, nicht viel größer als eine Perückenschachtel wirkte. Die beiden Kinder der Barrows – die achtjährige Melissa und der sechsjährige Preston – waren auch im Wohnzimmer. Das Mädchen stand hinter einem Tisch und starrte sie an, der kleine Junge klammerte sich an Vaters Hosenbein. Bidwell war kein Mann ohne Manieren: Er nahm seinen Hut ab. »Ich habe gehört, sie ist bettlägerig.«
»Jawohl, Sir. Ihr tut die Seele weh.«
»Ich werde mit ihr reden müssen.«
»Jawohl, Sir.« Barrow nickte wie betäubt. Bidwell bemerkte, dass die beiden Kinder ebenfalls übernächtigt waren und so aussahen, als ob sie ein gutes heißes Essen gebrauchen könnten. »Wie Ihr wünscht.« Barrow zeigte auf das Zimmer am Ende des Hauses.
»Gut. Edward, Ihr kommt mit mir.« Bidwell ging zur offenen Tür des Zimmers und sah hinein. Alice Barrow lag im Bett und hatte ein zerknittertes Betttuch bis unter die Nase über sich gezogen. Ihre Augen standen offen und blickten an die Decke. Ihr blasses Gesicht glänzte schweißnass. Das einzige Fenster des Zimmers war verrammelt, aber sieben Talgkerzen sowie eine Tonschale voller Kieferknorren verbreiteten helles Licht. Bidwell wusste, dass dies für einen Bauern wie Mason Barrow eine bemerkenswerte Verschwendung war und dass die Kinder deshalb vermutlich leiden mussten. Als Bidwell die Kammer betrat, quietschte ein loses Brett unter seinen Füßen, und die Frau sah zu ihm hinüber. Ihre Augen wurden groß. Sie atmete scharf ein, als sei sie geschlagen worden, und kroch vor ihm so weit sie konnte weg, in die Tiefen des Betts hinein.
Bidwell blieb sofort stehen. »Einen guten Tag, Madam«, sagte er. »Ist es genehm, dass ich ein paar Worte mit Euch rede?«
»Wo ist mein Mann?«, schrie die Frau auf. »Mason! Wo ist er hin?«
»Ich bin hier!«, antwortete Barrow, der hinter den beiden andern Männern stand. »Alles ist gut, es gibt nichts zu befürchten.«
»Lass mich nicht einschlafen, Mason! Versprich es mir!«
»Ich versprech's«, sagte er und warf Bidwell einen kurzen Blick zu.
»Was hat es mit diesem Unsinn auf sich?«, fragte Bidwell. »Die Frau fürchtet sich, zu schlafen?«
»Ja, Sir. Sie hat Angst einzuschlafen und dann zu sehen, wie …«
»Sag's nicht!«, erhob sich Alice Barrows Stimme wieder, zittrig und flehend. »Wenn du mich liebst, dann sag es nicht!«
Das kleine Mädchen fing an zu weinen. Ihr Bruder klammerte sich immer noch an Vaters Hosenbeine. Barrow starrte Bidwell an. »Ihr geht's sehr schlecht, Sir. Sie hat die letzten beiden Nächte kein Auge zugetan. Kann die Dunkelheit nicht ertragen – und am Tage auch keinen Schatten.«
»So fängt es an«, sagte Winston leise.
»Beherrscht Euch!«, fuhr Bidwell ihn an. Er zog ein mit Spitzen verziertes Taschentuch aus seiner Jacke und wischte sich die Schweißtropfen von den Wangen und der Stirn. »Auch wenn es so um sie steht, Barrow … ich muss dennoch mit ihr reden. Madam? Darf ich Euer Zimmer betreten?«
»Nein!«, gab sie zurück. Sie hatte das feuchte Laken nun bis unter die Augen hochgezogen. »Hinfort!«
»Danke.« Bidwell ging mit dem Hut in den Händen an ihr Bett und blieb erneut stehen. Er musterte sie. Winston folgte ihm, aber Mason Barrow blieb im anderen Raum, um das weinende Kind zu trösten. »Madam«, sagte Bidwell. »Ihr müsst Abstand davon nehmen, Geschichten über diese Träume zu verbreiten. Ich weiß, dass Ihr Cass Swaine davon erzählt habt. Ich möchte bitten …«
»Ich hab's Cass gesagt, weil sie meine Freundin ist!«, gab die Frau unter ihrem Laken zurück. »Und andern Freundinnen hab ich's auch erzählt! Warum denn nicht? Die sollen wissen, was ich weiß, wenn ihnen ihr Leben lieb ist!«
»Und was genau macht Euer Wissen so kostbar, Madam?«
Sie stieß das Betttuch weg und starrte ihn herausfordernd an. Ihre Augen waren nass und voller Angst, aber ihr Kinn stach wie eine Waffe hervor. »Dass jeder, der in dieser Stadt lebt, sterben wird.«
»Ich fürchte, dass diese Weisheit gerade mal einen Shilling wert ist. Jeder, der in einer Stadt lebt, wird eines Tages sterben.«
»Aber nicht durch ihn! Nicht durch Feuer und Höllenqual! Oh, er hat es mir gesagt! Er hat's mir gezeigt! Er hat mich über den Friedhof geführt und mir die Namen auf den Grabsteinen gezeigt!« An ihrem Hals standen die Venen hervor. Ihre braunen Haare waren strähnig und feucht. In schmerzlichem Flüsterton sprach sie weiter. »Er hat mir Cass Swaines Grabstein gezeigt! Und Johns auch! Und er hat mir die Namen meiner Kinder gezeigt!« Ihre Stimme brach und Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Meine eigenen Kinder, tot unter der Erde! Ach, lieber Herr Jesus!« Sie gab ein entsetzliches, herzzerreißendes Stöhnen von sich, zerrte das Laken hoch ans Gesicht und kniff die Augen zu.
Im Zimmer war es durch die Kerzenflammen, den Rauch der Kieferknorren und die schwüle Luft erstickend heiß. Bidwell hatte das Gefühl, dass das Atmen zu viel Mühe machte. Er konnte in der Ferne Donner grollen hören – das nächste Unwetter nahte. Er musste sich zu Alice Barrows Sinnestäuschungen äußern, aber ihm fiel ums Verrecken keine Antwort ein. Es ließ sich nicht bezweifeln, dass die Siedlung von etwas Bösem befallen war, das während der verregneten Tage und finsteren Nächte wie Giftpilze aus dem Boden schoss. Das Böse hatte die Träume von Fount Royals Einwohnern infiltriert und trieb sie in den Wahnsinn. Bidwell wusste, dass Winston recht hatte: Damit fing es tatsächlich an.
»Nur Mut«, stieß er hervor, doch es klang kraftlos.
Sie schlug die verquollen, geröteten Augen auf. »Nur Mut?«, wiederholte sie fassungslos. »Mut ihm gegenüber? Er hat mir einen Friedhof voller Grabsteine gezeigt! Man konnte keinen Schritt gehen, ohne nicht über ein Grab zu stolpern! Die Stadt war wie ausgestorben. Alle waren fort … oder tot. Er hat es mir gesagt. Er stand dicht neben mir, und ich hab gehört, wie er mir ins Ohr geatmet hat.« Sie nickte. Ihre Augen sahen durch Bidwell hindurch. »Die, die hierbleiben, werden umkommen und im Höllenfeuer schmoren. Das hat er mir ins Ohr geflüstert. Bis in alle Ewigkeit im Höllenfeuer schmoren. Es war eine tote Stadt. Totenstill. Pssssst, Alice, hat er gesagt. Psssst, hat er gesagt, hör mir zu. Sieh dir das an, hat er gesagt, und du weißt, wer ich bin.« Sie blinzelte. Ihr Blick war nun weniger verschwommen, auch wenn sie noch immer zusammenhangslos und wie betäubt sprach. »Ich hab es mir angesehen«, zischte sie. »Und ich weiß es.«
»Ich verstehe«, sagte Bidwell. Er versuchte, so ruhig und vernünftig zu klingen, wie es für einen Mann möglich war, der mit seinem Rat am Ende war. »Aber wir müssen uns verantwortungsvoll benehmen und nicht so darauf abzielen, Angst unter unseren Mitbürgern zu verbreiten.«
»Ich will keine Angst verbreiten!«, gab sie scharf zurück. »Ich will die Wahrheit verbreiten, die mir gezeigt wurde! Dieser Ort ist verflucht! Ihr wisst es, ich weiß es, jeder mit Verstand weiß es!« Sie starrte in eine der Kerzenflammen. Im anderen Zimmer schluchzte das kleine Mädchen weiter, und Alice Barrow sagte mit unsicherer Stimme: »Melissa, ist schon gut. Ist schon gut jetzt.«
Bidwell fehlten erneut die Worte. Er merkte, wie er sich so stark an seinen Dreispitz klammerte, dass ihm die Finger schmerzten. Der Donner krachte jetzt nicht mehr in der Ferne, sondern näher. Schweißperlen krochen ihm den Nacken hinunter. Die Wände des heißen Zimmers schienen sich immer näher um ihn zu schließen, ihm den Atem zu rauben. Er musste hier raus. Abrupt drehte er sich um, wobei er Winston fast zu Boden stieß, und war mit zwei Schritten an der Tür.
»Ich hab sein Gesicht gesehen«, sagte die Frau. Bidwell blieb wie angewurzelt stehen. »Sein Gesicht«, wiederholte sie. »Ich hab's gesehen. Er hat's mich sehen lassen.«
Bidwell schaute sie an und wartete auf den Rest, den sie zu sagen hatte. Sie saß jetzt im Bett – das Laken war zur Seite gefallen und ihr Blick war schrecklich gequält. »Er hat Euer Gesicht getragen«, sagte sie mit einem wilden, halbverrückten Grinsen.