uns eine Kleinigkeit zum Mittagessen mitgebracht«, plauderte sie munter drauflos. »Tatjana hat neue Mini-Calzones erfunden. Denen konnte ich einfach nicht wiederstehen.«
Mit wachsender Verwunderung hatte Janine den Ausführungen ihrer Freundin und Kollegin gelauscht.
»Was ist denn mit dir los? Du klingst ja so aufgekratzt«, sagte sie ihr auf den Kopf zu. »Außerdem Kleidergeschäft? Und beim Friseur warst du auch«, machte sie eine Entdeckung nach der anderen. »Raus mit der Sprache! Was hast du mir verschwiegen?«
Wendy antwortete nicht sofort. Sie ging zur Garderobe und tauschte ihre Jacke gegen einen weißen Kittel. Die Taschen und Tüten verstaute sie im Schrank, ehe sie sich mit einer Tasse Kaffee an ihren Schreibtisch setzte.
»Na jaaaa, ich hab da einen Mann kennengelernt … Das heißt, eigentlich kenne ich ihn gar nicht.« Zögernd kamen die Worte aus ihrem Mund. »Wir schreiben uns seit einer Weile Briefe.«
»Seit einer Weile?«, hakte Janine nach und vergaß sowohl Hunger als auch Müdigkeit. »Ich dachte, du willst nichts mehr von Männern wissen.«
»Das mit Manfred ist ja auch was anderes«, versuchte Wendy, sich herauszureden, und beugte sich geschäftig über den Terminkalender. »Morgen Nachmittag kommt übrigens Dési zur Kontrolle. Ist es nicht unglaublich, dass sie sich wieder ganz von ihrer Krankheit erholt hat? Wenn ich dran denke, welche Angst ich um sie hatte, als sie plötzlich nicht mehr sprechen konnte«, versuchte sie, von ihrer Person abzulenken.
Vergeblich.
»Netter Versuch!«, schmunzelte Janine. Gleichzeitig lächelte sie Danny zu, der eine Patientin zur Tür begleitet hatte und sich zu den beiden Assistentinnen an den Tresen gesellte. »Wendy hat eine Männerbekanntschaft geschlossen und uns nichts davon gesagt«, teilte sie ihrem jungen Chef augenzwinkernd mit.
»Nana, das ist ja nicht gerade ein Vertrauensbeweis«, ging Danny auf den scherzhaften Ton ein und spähte in die Tüte, die immer noch auf dem Tresen lag. »Aber wenn Sie als Wiedergutmachung Tatjanas Mini-Pizzen mitgebracht haben, kann ich nochmal Gnade vor Recht ergehen lassen.«
»Finger weg!« Mit einem Ruck zog Wendy die Tüte weg und brachte sie in die Küche. »Die sind für mittags.«
Der Juniorchef sah auf die Uhr.
»Aber das dauert ja noch fast zwei Stunden. Bis dahin bin ich verhungert.«
»Lenkt nicht alle vom Thema ab«, beschwerte sich Janine, die ihren Hunger fürs Erste vergessen hatte. Ihre Augen hingen an ihrer Kollegin. »Und jetzt raus mit der Sprache. Wer ist Manfred?«
Wendy seufzte tief und verdammte Janines Hartnäckigkeit.
»Ein Häftling«, ließ sie die Katze endlich aus dem Sack. »Nachdem ich im wirklichen Leben nichts mehr mit Männern zu tun haben will, dachte ich mir, ich schreibe mit einem.«
Danny und Janine sahen die Kollegin mit großen Augen an.
»Du schreibst mit einem Verbrecher? Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«
Mit dieser Frage hatte die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden gerechnet. Trotzdem schoss ihr das Blut in die Wangen.
»In der Wochenendausgabe sind doch immer Bekanntschaftsanzeigen. Da bin ich vor ein paar Wochen über Manfreds Annonce gestolpert. Er ist wirklich ein sehr netter Mann…«
»Und sitzt wahrscheinlich völlig zu Unrecht hinter Gittern«, mutmaßte Danny und nahm die nächste Patientenkarte von seinem Stapel. Es wurde Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen. Doch Wendys Antwort wartete er noch ab.
»Nein.« Ihre Stimme klang danach, als wollte sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. »Er hat es bereut, Steuern hinterzogen zu haben, und zum Ausgleich einen ansehnlichen Betrag als Spende an einen gemeinnützigen Verein überwiesen«, erwiderte sie mit deutlichem Triumph in der Stimme. »Außerdem findet er die Erfahrung gar nicht schlecht. Er erzählte davon, dass er im Gefängnis von seinem hohen Ross heruntergekommen ist.«
»Interessant! Unser Urs Hansen hat genau dasselbe behauptet«, mischte sich Dr. Norden in das Gespräch ein. Er kam von einem Hausbesuch und hatte eben die Praxis betreten. »Wenn man diesen Beteuerungen Glauben schenken dürfte, dann würde nie mehr ein einziger Häftling rückfällig werden.«
Wendy blickte von ihrem Computer auf und sah ihren Chef an.
»Haben Sie einschlägige Erfahrungen?«, erkundigte sie sich, und Daniel erzählte von dem schwarzen Schaf, das in Fees Familie aufgetaucht war.
»Drogen und Raub sind natürlich ein anderes Kaliber als Steuerhinterziehung«, räumte Janine ein.
»Trotzdem bin ich derselben Meinung wie Ihre Frau. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Vor allen Dingen, wenn er so jung ist wie Urs Hansen.« Es war Wendy anzuhören, dass ihr diese Worte aus tiefstem Herzen kamen.
Janine legte den Kopf schief und musterte ihre Kollegin.
»Und wann gehst du ihn im Gefängnis besuchen?«, stellte sie die Frage, die sich quasi aufdrängte.
»Woher weißt du das?« Wenn möglich, wurden Wendys Wangen noch dunkler.
Janine lachte.
»Ganz einfach: neue Frisur, ein neues Kleid … Diesen Schluss hätten sogar unsere beiden Männer gezogen.«
Dem Seniorchef brannte die Zeit unter den Nägeln, und er musste endlich an seinen Schreibtisch. Da er aber kein Spielverderber sein wollte, schickte er seinem Sohn einen Blick aus schmalen Augen.
»Ich glaube nicht, dass wir uns das gefallen lassen müssen«, scherzte er. »Lass uns arbeiten gehen.«
»Einverstanden.« Doch Danny zögerte. »Aber nur, wenn ich als Wiedergutmachung heute Mittag eine Mini-Calzone bekomme.« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, das er parat hatte, und Wendy und Janine lachten.
»Seltsam. Woher wusste ich, dass es so kommen würde, und habe deshalb gleich mehr gekauft?«
»Sie sind eben eine kluge Frau!«, lobte Daniel und machte sich endlich auf den Weg in sein Sprechzimmer, um mit der Behandlung seiner Patienten zu beginnen.
*
Als Felicitas Norden an diesem Spätnachmittag das Café ›Schöne Aussichten‹ betrat, hatte sie kaum Augen für Tatjana hinter dem Tresen. Auch die schwangere Mitarbeiterin Marla begrüßte sie geistesabwesend, während sie sich umsah.
»So oft, wie du in letzter Zeit hier bist, bekommst du demnächst einen eigenen Stammtisch«, witzelte Tatjana, die herbeigekommen war, um die Mutter ihres Freundes zu umarmen.
»Hmm, das wäre eine schöne Idee!« Felicitas schien ihr gar nicht richtig zugehört zu haben.
Noch immer sondierten ihre Augen jeden Tisch in dem kleinen Café, als sie an einer Person hängen blieben. Der junge Mann saß in der hintersten Ecke und versteckte sich hinter der Speisekarte, die aber zu klein war für sein Gesicht. Obwohl es Jahre her war, erkannte Fee in den erwachsenen Zügen den kleinen Urs, mit dem sie damals im Sanatorium ihrer Eltern gespielt hatte.
»Suchst du jemanden?«, fragte Tatjana, der Fees Konzentration nicht entgangen war.
»Ich glaube, ich hab ihn gerade gefunden.«
Tatjanas Blick folgte dem von Fee. Trotz ihrer Sehbehinderung wusste sie sofort, wer dort saß. Sie hatte den jungen Mann hereinkommen sehen und gleich gemerkt, wie unsicher sein Schritt, wie misstrauisch seine ganze Ausstrahlung war.
»Kennst du den jungen Mann?«, fragte sie die Ärztin.
»Kennen ist übertrieben«, erwiderte Fee, ohne den Blick von Urs wenden zu können. »Es ist viele Jahre her. Aber wegen ihm bin ich hier. Bringst du mir bitte zwei Milchkaffee?« Ohne eine weitere Erklärung machte sich Fee auf den Weg in den hinteren Teil des Cafés, vorbei an den unterschiedlichen Stühlen und Tischen, die Tatjana auf Flohmärkten gekauft und zum Teil eigenhändig restauriert hatte. Dazu passte der dunkle Holzboden, der im Kontrast stand zu der