noch nicht ganz auskuriert, und wir wollen nicht, daß du Schmerzen bekommst. Ich denke, du siehst das ein.«
Natürlich sah sie es ein, so wie er es sagte. Ihrer Mutter hätte sie sicher widersprochen.
Was war das nur, daß er soviel Macht hatte, ohne etwas zu befehlen, daß alles, was er sagte, wie eine Bitte um Verständnis klang?
Sie hatte schon viel gelesen über Menschen, die hypnotische Fähigkeiten hatten, über andere, die allein mit Worten überzeugen konnten und viele Menschen in ihren Bann schlugen. So manch einer hatte das genutzt, um egoistische Ziele in die Tat umzusetzen und nicht etwa zum Wohl der Mitmenschen.
Bei Dr. Albrecht war das anders. Er strahlte Güte und Wärme aus. Man fühlte sich beschützt, aber Beate fragte sich, woher er soviel Kraft schöpfen konnte, um alldas zu vermitteln. Diese Kraft brauchte doch auch eine Quelle, aus der sie gestärkt wurde. Beate fragte sich auch, was das für eine Frau gewesen sein mochte, die seine Frau geworden war und doch nicht mit ihm dorthin ging, wo er zu Hause war.
Sie ging hinüber zur Koppel, wo sich die Pferde tummelten und sich frei ihres Lebens freuen konnten. Zwei Araber konnte sie schon an ihrem weißen Fell von weitem erkennen, vier jagten sich gegenseitig, während zwei rotbraune Stuten sich vornehm abseits hielten. Zu ihnen zog es Beate am meisten, weil sie unwillkürlich daran denken mußte, daß sie und Janine sich auch immer etwas abseits gehalten hatten, wenn irgendwo gelärmt oder gar gestritten wurde.
Beate redete mit sanfter Stimme auf die beiden Stuten ein, und die etwas Kleinere kam mit dem Kopf über den Zaun und rieb ihn an Beates Schulter, als wolle sie sich gleich ein bißchen bei ihr einschmeicheln.
»Leider weiß ich deinen Namen noch nicht, aber ich werde mich gleich beim Doc erkundigen«, sagte Beate und tätschelte den schönen Kopf. »Dich mag ich aber auch«, sagte sie zu der anderen, die kurz aufwieherte.
Beate drehte sich um, als sie Schritte vernahm, aber die Sonne blendete sie so stark, daß sie nur die Umrisse eines Mannes erkannte und meinte, daß es der Größe nach der Doc sein konnte, aber eigentlich sollte der doch Janine behandeln.
»Hallo«, sagte eine Stimme, die auch der des Docs ähnlich war, »ein neuer Gast?«
»Seit gestern«, erwiderte Beate, denn Freundlichkeit war hier angesagt. Als er nun nahe war und die Sonne ihr nicht mehr direkt ins Gesicht schien, sah sie mit Erstaunen, daß der junge Mann wie eine jüngere Ausgabe des Docs aussah.
»Ich bin Tim, der Sohn des Hauses«, stellte er sich vor.
»Ich bin Beate.« Ein bißchen schüchtern war sie schon, da ihr auch ihr Traum in den Sinn kam.
»Ich bin heute erst zurückgekommen von einem Symposium«, erklärte er. »Du bist mit deiner Freundin gekommen. Wo ist sie?«
»Der Doc behandelt sie. Ich wollte mir indessen die Pferde anschauen. Wie heißt diese Stute? Sie hat mich schon sehr freundlich begrüßt.«
»Das ist Lovely, und ihre Freundin heißt Leila«, erklärte er. »Lovely habe ich aufgezogen. Man gab ihr zuerst keine Chance, aber Dad gab ihr eine. Er gibt jedem eine Chance. Ich habe mich dann um Lovely gekümmert, um ihm zu beweisen, daß ich auch geduldig sein kann.«
»Waren Sie vorher ungeduldig?«
»Zu mir kannst du auch ruhig du sagen«, lächelte er. »Es mag ein bißchen ungewohnt sein für manche, aber es gehört mit zur Therapie, andere zu tolerieren.«
Beate errötete. »Das ist keine schwere Übung. Wir fühlen uns schon integriert.«
»Dann wird euch alles andere auch leichtfallen. Manche tun sich anfangs sehr schwer, weil sie sich schon zu sehr mit ihrem Leiden identifiziert haben und davon beherrscht werden.«
Beate sah ihn gedankenverloren an, und es schien ihr, als würde sich sein Gesicht mit dem seines Vaters vermischen. Die Ähnlichkeit war faszinierend.
»Uns wurde immer wieder gesagt, daß wir positiv denken müßten und wir haben auch eine positive Einstellung gefunden. Für Janine war es sicher schwerer als für mich, da diese Lähmung anhält, aber sie ist unglaublich tapfer.«
Er betrachtete sie mit einem unergründlichen Ausdruck, der ihr momentan den Atem raubte, aber dann stupste Lovely sie wieder und das sollte wohl eine Aufforderung sein, sich ihr zu widmen.
»Ich denke, du wirst gut mit ihr zurechtkommen. Sonst ist sie sehr wählerisch«, stellte Tim fest. »Aber jetzt kommst du besser mit ins Haus, die Mittagssonne ist intensiv, du mußt dich erst daran gewöhnen.«
»Und ich darf die Sonnenbrille nicht vergessen.«
Er umfaßte ihren Arm, als sie zurückgingen. Es verursachte ihr Herzklopfen.
»Dann wollen wir mal sehen, was deine Freundin macht, ich möchte sie auch gern kennenlernen«, sagte Tim.
Janine lag auf der Terrasse auf einer besonderen Liege. Sie wirkte ganz entspannt.
Da Tim sich im Hintergrund hielt, bemerkte sie ihn nicht. »Hast du dich gut mit den Pferden unterhalten, Bea?« scherzte sie.
»Ich habe mich mit Lovely und Leila vertraut gemacht. Jetzt möchte ich dich mit Tim bekannt machen.«
Janines Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Du hast einen Mann kennengelernt, das ist ja ganz was Neues«, sagte sie verblüfft.
»Ich bin der Sohn vom Doc«, sagte Tim.
Jetzt wurde Janine verlegen.
»Die Ähnlichkeit ist unverkennbar«, stellte sie stockend fest. »Sie waren gestern aber nicht hier, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ich war auswärts und bin heute erst zurückgekommen.«
»Hallo, Tim, wieder daheim?« sagte eine helle Stimme, und eine schlanke Blondine erschien auf der Terrasse.
»Ihr habt unsere Heilgymnastin Thea schon kennengelernt?« fragte Tim.
»Noch nicht«, sagte Thea hastig. »Ich war gestern nicht da. Ich habe aber schon gehört, daß der Neuzugang gekommen ist.«
»Beate und Janine«, erklärte Tim, aber jetzt hatte seine Stimme einen ganz anderen Klang.
»Ich wollte nur mal wissen, wie es war in Baden-Baden«, sagte Thea hastig.
»Das hat ja wohl Zeit«, erwiderte er kühl.
So konnte er also auch sein, aber für Beate war es seltsam beruhigend, denn irgendwie fiel Thea hier aus dem Rahmen. Sie war die erste Person, die nicht in dieses Bild paßte, das sie bisher gewonnen hatte.
Jetzt ertönte der Gong. »Essenszeit«, sagte Tim, und schon kam Schwester Rosi mit dem Rollstuhl für Janine.
Tim hob sie hinein.
»Bist ja ein Fliegengewicht«, stellte er fest.
»Man stelle sich vor, ich würde zwei Zentner wiegen«, scherzte Janine.
»Dann müßtest du erst abspecken, bevor man mit einer Therapie beginnen kann.« Jetzt war er wieder locker, und Beate ahnte, daß es Thea war, die ihn gestört hatte.
»Diese Thea erinnert mich an Mama«, sagte Janine nach dem Essen ganz plötzlich zu Beate. »Sie muß sich auch in den Vordergrund spielen. Sie paßt nicht hierher.«
Janine sprach das aus, was Beate dachte. »Tim war unangenehm berührt, daß sie sich so aufdrängte.«
»Aber nachhaltig beeindruckte es ihn nicht«, sagte Beate.
»Er gefällt dir.« Janine lächelte unergründlich.
»Er ist seinem Vater sehr ähnlich. Du hast noch gar nicht über die Behandlung gesprochen.«
»Es war ja noch keine Gelegenheit dazu. Ich kann auch nicht viel sagen. Es war wunderbar. Ich war in einem Schwebezustand, wie in einem Traum.«
»Was hat er gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Er hat mich nicht berührt,